Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 8 KR 536/04
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Chronischer Alkoholabusus, der der gesetzlichen Krankenversicherung bekannt ist, kann zu unverschuldeter Fristsäumnis führen.Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auch bei verspäteter Antragstellung zur Begründung einer freiwilligen Versicherung insoweit nicht ausgeschlossen.
I. Der Bescheid vom 24.05.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2004 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger ab 01.02.2004 als freiwilliges Mitglied aufzunehmen.
III. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Aufnahme als freiwilliges Mitglied in der Krankenversicherung.
Der am ...1943 geborene Kläger war arbeitslos und erhielt Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bis 31.01.2004. Seit 01.02.2004 bezog er Rente, ab 01.05.2004 zu einem monatlichen Zahlbetrag von 849,95 EUR (Rentenbescheid der Knappschaft vom 02.04.2004).
Unter dem 06.02.2004 hatte die Beklagte den Kläger auf das Ende seiner Pflichtmitgliedschaft am 31.01.2004 hingewiesen. Der Bezug von Altersrente begründe noch keine Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung, da die Voraussetzungen für die Krankenversicherung der Rentner nicht erfüllt seien. Sofern er freiwilliges Mitglied werden wolle, müsse er dies innerhalb von drei Monaten nach Ende der Pflichtversicherung anzeigen. Er könne deswegen bei einer ihrer Geschäftsstellen vorsprechen oder anrufen. Mit weiterem Schreiben vom 01.03.2004 erinnerte sie an das Ende der Pflichtmitglied-schaft am 31.01.2004. Sofern sie bis 12.03.2004 vom Kläger keine Information erhalte, gehe sie davon aus, dass er seine Mitgliedschaft nicht fortführen wolle. Der zuständige Rentenversicherungsträger werde dann davon informiert, von seiner Rente keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung mehr einzubehalten.
Über die Tochter und Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragte er am 21.05.2004 die Fortführung als freiwillige Mitgliedschaft. Der Kläger sei zu keiner Kommunikation mehr in der Lage. Sie sei erst bei einem Besuch ihres Vaters zufällig auf die Schreiben der Be-klagten gestoßen und bitte darum, trotz Fristablauf, ihn im Ermessenswege aufzunehmen, damit er nicht mehr "in`s soziale Abseits" gerate.
Durch Bescheid vom 24.05.2004 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Wegen des Endes der Anzeigefrist am 30.04.2004 sei ein Beitritt zur freiwilligen Versicherung nicht mehr mög-lich.
Hiergegen legte der Kläger am 22.06.2004 Widerspruch ein. Die Prozessbevollmächtigte verwies auf die Alkoholkrankheit des Klägers. Erst am 13.05.2004 habe sie zufällig die Schreiben der Beklagten vorgefunden. Da ihr Vater handlungsunfähig geworden sei, bean-trage sie die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand.
Durch Widerspruchsbescheid vom 04.08.2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie lehnte eine Wiedereinsetzung des Klägers in den vorherigen Stand ab, weil er bis zum Erreichen der Altersrente der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden habe. Ein Be-treuer sei für ihn nicht bestellt gewesen, sodass weder von Willens- , noch von Handlungs-unfähigkeit auszugehen sei. Sie habe ihn indes mit Schreiben vom 06.02.2004 und 01.03.2004 auf die bestehende Anzeigefrist von drei Monaten eindeutig hingewiesen. Da der Gesetzgeber die Voraussetzungen für den Beitritt zur freiwilligen Kranken- und sozia-len Pflegeversicherung abschließend geregelt habe, könne sie diesbezüglich kein Ermessen ausüben.
Der Kläger hat deswegen am 02.09.2004 Klage zum Sozialgericht Leipzig erhoben. Er habe die Antragsfrist unverschuldet versäumt. Aufgrund seiner Alkoholkrankheit habe er weder die Schreiben zur Kenntnis nehmen können, noch einen Antrag auf Aufnahme in die freiwillige Mitgliedschaft stellen können. Mit Eintritt in die Rente habe er vergleichs-weise hohe Zahlungen erhalten, die er umgehend in den Konsum von Alkoholika investiert habe. Die Prozessbevollmächtigte habe die Schreiben der Beklagten bei einem Besuch des Klä-gers ungeöffnet vorgefunden. Das Gericht hat einen Befundbericht des behandelnden Internisten Dr. S ... vom 01.08.2005 eingeholt.
Durch Beschluss vom 30.11.2005 hat das Amtsgericht B ... die Prozessbevollmächtigte zur Betreuerin bestellt. Beigefügt war ein nervenfachärztliches Gutachten von Dr. A ... vom 13.09.2005.
Zum Nachweis der sozialen Umstände in Folge der Alkoholerkrankung des Klägers hat die Prozessbevollmächtigte weitere Unterlagen vorgelegt.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 24.05.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger ab 01.02.2004 als freiwilliges Mitglied aufzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat einen Erörterungstermin auf den 20.07.2006 und eine mündliche Verhand-lung auf den 14.11.2006 anberaumt; auf die Niederschriften hierzu wird verwiesen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Verwal-tungsvorgang der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 24.05.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2004 war aufzuheben. Der Kläger wird hierdurch in eigenen Rechten verletzt, sodass die Be-klagte zu verurteilen war, ihn ab 01.02.2004 als freiwilliges Mitglied in der Kranken- und Pflegeversicherung aufzunehmen.
Die Fortführung als Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner war unstreitig nicht möglich, so dass lediglich eine freiwillige Mitgliedschaft in Betracht kam. Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) können der freiwilligen Versicherung beitreten Personen, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausge-schieden sind und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens 24 Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versi-chert waren. Diese Voraussetzungen lagen beim Kläger unstreitig vor, weshalb ihm die Beklagte die Fortführung seiner Mitgliedschaft als freiwillige Mitgliedschaft mit Schreiben vom 06.02.2004 und 01.03.2004 angeboten hatte.
Gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ist der Beitritt der Krankenkasse innerhalb von drei Mona-ten anzuzeigen, im Falle des Abs. 1 Nr. 1 der Vorschrift nach Beendigung der Mitglied-schaft. Da er vorliegend ab 01.02.2004 Rentner geworden war, ohne dass die Mitglied-schaft als Pflichtmitgliedschaft fortgeführt werden konnte, endete die Pflichtmitgliedschaft am 31.01.2004. Somit endete unstreitig – wie im Bescheid der Beklagten vom 24.05.2004 festgestellt – die Anzeigefrist am 30.04.2004. Hier war die Anzeigefrist nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V von drei Monaten unstreitig versäumt worden, sodass eine Fortführung als freiwillige Mitgliedschaft grundsätzlich ausschied, denn der Kläger hat tatsächlich erst mit Schriftsatz vom 18.05.2004 am 21.05.2004 die Fortführung der Mitgliedschaft beantragt
Gleichwohl war die Beklagte zu verpflichten, die Mitgliedschaft als freiwillige Versiche-rung fortzuführen, weil dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war: War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Sozi-algesetzbuch Zehntes Buch (SGB X)). Nach § 27 Abs. 5 SGB X ist die Wiedereinsetzung jedoch unzulässig, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist.
Hiervon war indes nicht auszugehen. Gegen die Versäumung der Frist für den Beitritt zur freiwilligen Krankenversicherung nach Maßgabe des § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V nach Erlö-schen der Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 5 Abs. 1 war die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zulässig (so bereits: BSGE 64, 153). Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass es sich bei der Vorschrift um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist handelt (so auch: BSGE 73, 56 (58 f.); LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.11.1998, Az.: L 5 KR 44/97). Eine Wiedereinsetzung ist auch bei Versäumung einer Frist des materiellen Sozialrechts zulässig, wenn sich aus der Rechtsvorschrift nicht ergibt, dass sie nach Maßgabe des § 27 Abs. 5 SGB X ausgeschlossen ist (BSG, Urteil vom 14.05.2002, Az.: B 12 KR 14/01 R). Ein Ausschluss der Wiedereinsetzung ergibt sich we-der unmittelbar aus der Vorschrift noch in entsprechender Auslegung. Wenngleich im Un-terschied zur vorherigen Rechtslage des § 176 b Reichsversicherungsordnung (RVO) die ursprünglich kurze Frist von einem Monat vom Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 Nr. 1 auf drei Monate verlängert worden ist, enthält die Vorschrift kein Verbot der Wiedereinsetzung (vgl. auch: BSG, in: NZS 1993, 502 f.; LSG Berlin, Urteil vom 26.02.2003, Az.: L 9 KR 126/99).
Hier war davon auszugehen, dass der Kläger die Frist zur Beantragung der freiwilligen Mitgliedschaft unverschuldet versäumt hat. Die Frist gilt als unverschuldet versäumt, wenn der Beteiligte diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem im Verwaltungsverfahren ge-wissenhaft Handelnden, nach den gesamten Umständen vernünftigerweise zuzumuten ist (so auch: von Wulffen, SGB X-Kommentar, 4. Auflage, § 27 Rdnr. 5). Die Versäumung der Verfahrensfrist muss auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht vermeidbar gewesen sein (so bereits BSGE 38, 248), wobei grundsätzlich ein subjektiver Maßstab an-zuwenden ist (BSG, Urteil vom 15.08.2000, Az.: B 9 VG 1/99 R). Nach der Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts, der gefolgt wird, dürfen indes keine überspitzten Anforderungen daran gestellt werden, welche Vorkehrungen der Beteiligte gegen eine dro-hende Fristversäumung zu treffen hat und was er nach eingetretener Fristversäumnis veran-lassen musste (BVerfG E 40, 46).
Die Krankheit selbst rechtfertigt allein noch keine Fristüberschreitung und eine Wiederein-setzung in den vorigen Stand. Nur dann, wenn die Krankheit den Beteiligten daran hindert, selbst das Nötige veranlassen zu können, insbesondere einen anderen mit der Vornahme der Handlung zu beauftragen, liegt kein Verschulden vor (so: LSG Hamburg, in: Breit-haupt 1974, 546).
Nach Überzeugung der Gerichts war die Alkoholerkrankung des Klägers hier jedoch der-art gewichtig, dass seine Handlungsfähigkeit, insbesondere die Freiheit im Willen, die Fä-higkeit, einen anderen mit seinen Rechtsgeschäften zu beauftragen, derart eingeschränkt, dass er die Frist zur Beantragung der freiwilligen Mitgliedschaft unverschuldet versäumt hat. Sein Alkoholismus versetzte ihn weder psychisch noch physisch in die Lage, in freier Willensbetätigung rechtzeitig zu handeln oder gar einen anderen, beispielsweise seine Tochter und Prozessbevollmächtigte oder seine geschiedene Ehefrau, zu beauftragen, seine Interessen wahrzunehmen und zu vertreten.
Der Gutachter für das Amtsgericht B ..., Dr. A ..., hatte in seinem Gutachten vom 13.09.2005 festgestellt, dass der Kläger allein in einer "total vermüllten Wohnung" lebte. Bei ihm bestehe ein chronischer Alkoholmissbrauch, ohne dass er sich deswegen in einer stationären Behandlung befunden hätte. Er war insoweit in großen Umfang hilfebedürftig. Es zeigte sich eine auffällige Persönlichkeit, mit der Tendenz, sich treiben zu lassen, mit Zeichen einer allgemeinen Depravation. Die Kritik- und Urteilsfähigkeit zeigte sich ver-mindert. Der Sachverständige stellte unter anderem einen chronischen Alkoholmissbrauch mit Zeichen eine schweren Persönlichkeitsdepravation und einem leichten hirnorganischen Psychosyndrom fest. Er war äußerlich deutlich vernachlässigt und ungepflegt.
Aus den dem Gericht vorgelegten Schreiben ging außerdem hervor, dass der Kläger – al-koholbedingt – aufgrund der Verwahrlosung Schwierigkeiten in seinem persönlichen Le-bensumfeld, insbesondere mit der Hausgemeinschaft hatte. Dieser Zustand hatte bereits seit längerem, d. h. auch während der Dauer der Antragsfrist, angedauert. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat insoweit glaubhaft und mit bildlicher Um-schreibung die persönlichen Lebensumstände ihres Vaters geschildert. Es mussten zwei Container mit leeren Flaschen beim Aufräumen der Wohnung entfernt werden. Ausweis-lich der vorgezeigten Kontoauszüge hat der Kläger nach Erhalt einer Rentennachzahlung diese umgehend in Alkohol umgesetzt, und zwar gerade im fraglichen Zeitraum, in dem die Antragsfrist lief. Zudem hatte er zuvor alkoholbedingt einen schweren Verkehrsunfall erlitten, der eine stationäre Krankenhausbehandlung erforderte. Dies war der Beklagten bekannt.
Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die geschiedene Ehefrau und die Tochter für den Kläger Arbeitslosengeld und Rente beantragt hatten. Die Prozessbe-vollmächtigte hat versichert, dass sie und ihre Mutter mit der Knappschaft eine Absprache dahingehend getroffen hatte, alle an ihren Vater gerichteten Schreiben an die Familie, vor-nehmlich an ihre Mutter und die getrennt lebende Ehegattin des Klägers, zu senden. Sie hatten für den Kläger dessen Anträge auf Arbeitslosengeld und -hilfe, Wohngeldzuschuss und ergänzende Sozialhilfe ausgefüllt, weil er zu einer Erledigung seiner Behördenangele-genheiten nicht mehr in der Lage war. Die Beantragung von Arbeitslosengeld und Rente setzt indes für einen Außenstehenden keine weiteren inhaltlichen Erkenntnisse voraus. Dies gilt nicht im gleichen Maße für die Fortführung der gesetzlichen Kranken- und Pfle-geversicherung; denn die Prozessbevollmächtigte konnte als juristischer Laie nicht ohne weiteres beurteilen, ob beim Kläger die Voraussetzungen der Pflicht-Mitgliedschaft nach Eintritt in die Rente als Krankenversicherung der Rentner vorlagen. Sie hat insoweit glaubhaft und unbestritten bekundet, dass sie die Schreiben der Beklagten vom 06.02.2004 und 01.03.2004, in denen der Kläger auf die Frist zur Beantragung der freiwilligen Mit-gliedschaft hingewiesen worden war, in der vermüllten Wohnung des Klägers ungeöffnet vorgefunden hatte.
Die Beklagte war mithin im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verurtei-len, den Kläger ab 01.02.2004 als freiwilliges Mitglied aufzunehmen. Dies gilt auch für die Beigeladene; denn nach § 26 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) finden die gesetzliche Regelungen für die Krankenversicherung entsprechend Anwendung auch auf die Pflegeversicherung.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
II. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger ab 01.02.2004 als freiwilliges Mitglied aufzunehmen.
III. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Aufnahme als freiwilliges Mitglied in der Krankenversicherung.
Der am ...1943 geborene Kläger war arbeitslos und erhielt Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bis 31.01.2004. Seit 01.02.2004 bezog er Rente, ab 01.05.2004 zu einem monatlichen Zahlbetrag von 849,95 EUR (Rentenbescheid der Knappschaft vom 02.04.2004).
Unter dem 06.02.2004 hatte die Beklagte den Kläger auf das Ende seiner Pflichtmitgliedschaft am 31.01.2004 hingewiesen. Der Bezug von Altersrente begründe noch keine Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung, da die Voraussetzungen für die Krankenversicherung der Rentner nicht erfüllt seien. Sofern er freiwilliges Mitglied werden wolle, müsse er dies innerhalb von drei Monaten nach Ende der Pflichtversicherung anzeigen. Er könne deswegen bei einer ihrer Geschäftsstellen vorsprechen oder anrufen. Mit weiterem Schreiben vom 01.03.2004 erinnerte sie an das Ende der Pflichtmitglied-schaft am 31.01.2004. Sofern sie bis 12.03.2004 vom Kläger keine Information erhalte, gehe sie davon aus, dass er seine Mitgliedschaft nicht fortführen wolle. Der zuständige Rentenversicherungsträger werde dann davon informiert, von seiner Rente keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung mehr einzubehalten.
Über die Tochter und Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragte er am 21.05.2004 die Fortführung als freiwillige Mitgliedschaft. Der Kläger sei zu keiner Kommunikation mehr in der Lage. Sie sei erst bei einem Besuch ihres Vaters zufällig auf die Schreiben der Be-klagten gestoßen und bitte darum, trotz Fristablauf, ihn im Ermessenswege aufzunehmen, damit er nicht mehr "in`s soziale Abseits" gerate.
Durch Bescheid vom 24.05.2004 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Wegen des Endes der Anzeigefrist am 30.04.2004 sei ein Beitritt zur freiwilligen Versicherung nicht mehr mög-lich.
Hiergegen legte der Kläger am 22.06.2004 Widerspruch ein. Die Prozessbevollmächtigte verwies auf die Alkoholkrankheit des Klägers. Erst am 13.05.2004 habe sie zufällig die Schreiben der Beklagten vorgefunden. Da ihr Vater handlungsunfähig geworden sei, bean-trage sie die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand.
Durch Widerspruchsbescheid vom 04.08.2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie lehnte eine Wiedereinsetzung des Klägers in den vorherigen Stand ab, weil er bis zum Erreichen der Altersrente der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden habe. Ein Be-treuer sei für ihn nicht bestellt gewesen, sodass weder von Willens- , noch von Handlungs-unfähigkeit auszugehen sei. Sie habe ihn indes mit Schreiben vom 06.02.2004 und 01.03.2004 auf die bestehende Anzeigefrist von drei Monaten eindeutig hingewiesen. Da der Gesetzgeber die Voraussetzungen für den Beitritt zur freiwilligen Kranken- und sozia-len Pflegeversicherung abschließend geregelt habe, könne sie diesbezüglich kein Ermessen ausüben.
Der Kläger hat deswegen am 02.09.2004 Klage zum Sozialgericht Leipzig erhoben. Er habe die Antragsfrist unverschuldet versäumt. Aufgrund seiner Alkoholkrankheit habe er weder die Schreiben zur Kenntnis nehmen können, noch einen Antrag auf Aufnahme in die freiwillige Mitgliedschaft stellen können. Mit Eintritt in die Rente habe er vergleichs-weise hohe Zahlungen erhalten, die er umgehend in den Konsum von Alkoholika investiert habe. Die Prozessbevollmächtigte habe die Schreiben der Beklagten bei einem Besuch des Klä-gers ungeöffnet vorgefunden. Das Gericht hat einen Befundbericht des behandelnden Internisten Dr. S ... vom 01.08.2005 eingeholt.
Durch Beschluss vom 30.11.2005 hat das Amtsgericht B ... die Prozessbevollmächtigte zur Betreuerin bestellt. Beigefügt war ein nervenfachärztliches Gutachten von Dr. A ... vom 13.09.2005.
Zum Nachweis der sozialen Umstände in Folge der Alkoholerkrankung des Klägers hat die Prozessbevollmächtigte weitere Unterlagen vorgelegt.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 24.05.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger ab 01.02.2004 als freiwilliges Mitglied aufzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat einen Erörterungstermin auf den 20.07.2006 und eine mündliche Verhand-lung auf den 14.11.2006 anberaumt; auf die Niederschriften hierzu wird verwiesen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Verwal-tungsvorgang der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 24.05.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2004 war aufzuheben. Der Kläger wird hierdurch in eigenen Rechten verletzt, sodass die Be-klagte zu verurteilen war, ihn ab 01.02.2004 als freiwilliges Mitglied in der Kranken- und Pflegeversicherung aufzunehmen.
Die Fortführung als Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner war unstreitig nicht möglich, so dass lediglich eine freiwillige Mitgliedschaft in Betracht kam. Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) können der freiwilligen Versicherung beitreten Personen, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausge-schieden sind und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens 24 Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versi-chert waren. Diese Voraussetzungen lagen beim Kläger unstreitig vor, weshalb ihm die Beklagte die Fortführung seiner Mitgliedschaft als freiwillige Mitgliedschaft mit Schreiben vom 06.02.2004 und 01.03.2004 angeboten hatte.
Gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ist der Beitritt der Krankenkasse innerhalb von drei Mona-ten anzuzeigen, im Falle des Abs. 1 Nr. 1 der Vorschrift nach Beendigung der Mitglied-schaft. Da er vorliegend ab 01.02.2004 Rentner geworden war, ohne dass die Mitglied-schaft als Pflichtmitgliedschaft fortgeführt werden konnte, endete die Pflichtmitgliedschaft am 31.01.2004. Somit endete unstreitig – wie im Bescheid der Beklagten vom 24.05.2004 festgestellt – die Anzeigefrist am 30.04.2004. Hier war die Anzeigefrist nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V von drei Monaten unstreitig versäumt worden, sodass eine Fortführung als freiwillige Mitgliedschaft grundsätzlich ausschied, denn der Kläger hat tatsächlich erst mit Schriftsatz vom 18.05.2004 am 21.05.2004 die Fortführung der Mitgliedschaft beantragt
Gleichwohl war die Beklagte zu verpflichten, die Mitgliedschaft als freiwillige Versiche-rung fortzuführen, weil dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war: War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Sozi-algesetzbuch Zehntes Buch (SGB X)). Nach § 27 Abs. 5 SGB X ist die Wiedereinsetzung jedoch unzulässig, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist.
Hiervon war indes nicht auszugehen. Gegen die Versäumung der Frist für den Beitritt zur freiwilligen Krankenversicherung nach Maßgabe des § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V nach Erlö-schen der Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 5 Abs. 1 war die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zulässig (so bereits: BSGE 64, 153). Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass es sich bei der Vorschrift um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist handelt (so auch: BSGE 73, 56 (58 f.); LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.11.1998, Az.: L 5 KR 44/97). Eine Wiedereinsetzung ist auch bei Versäumung einer Frist des materiellen Sozialrechts zulässig, wenn sich aus der Rechtsvorschrift nicht ergibt, dass sie nach Maßgabe des § 27 Abs. 5 SGB X ausgeschlossen ist (BSG, Urteil vom 14.05.2002, Az.: B 12 KR 14/01 R). Ein Ausschluss der Wiedereinsetzung ergibt sich we-der unmittelbar aus der Vorschrift noch in entsprechender Auslegung. Wenngleich im Un-terschied zur vorherigen Rechtslage des § 176 b Reichsversicherungsordnung (RVO) die ursprünglich kurze Frist von einem Monat vom Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 Nr. 1 auf drei Monate verlängert worden ist, enthält die Vorschrift kein Verbot der Wiedereinsetzung (vgl. auch: BSG, in: NZS 1993, 502 f.; LSG Berlin, Urteil vom 26.02.2003, Az.: L 9 KR 126/99).
Hier war davon auszugehen, dass der Kläger die Frist zur Beantragung der freiwilligen Mitgliedschaft unverschuldet versäumt hat. Die Frist gilt als unverschuldet versäumt, wenn der Beteiligte diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem im Verwaltungsverfahren ge-wissenhaft Handelnden, nach den gesamten Umständen vernünftigerweise zuzumuten ist (so auch: von Wulffen, SGB X-Kommentar, 4. Auflage, § 27 Rdnr. 5). Die Versäumung der Verfahrensfrist muss auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht vermeidbar gewesen sein (so bereits BSGE 38, 248), wobei grundsätzlich ein subjektiver Maßstab an-zuwenden ist (BSG, Urteil vom 15.08.2000, Az.: B 9 VG 1/99 R). Nach der Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts, der gefolgt wird, dürfen indes keine überspitzten Anforderungen daran gestellt werden, welche Vorkehrungen der Beteiligte gegen eine dro-hende Fristversäumung zu treffen hat und was er nach eingetretener Fristversäumnis veran-lassen musste (BVerfG E 40, 46).
Die Krankheit selbst rechtfertigt allein noch keine Fristüberschreitung und eine Wiederein-setzung in den vorigen Stand. Nur dann, wenn die Krankheit den Beteiligten daran hindert, selbst das Nötige veranlassen zu können, insbesondere einen anderen mit der Vornahme der Handlung zu beauftragen, liegt kein Verschulden vor (so: LSG Hamburg, in: Breit-haupt 1974, 546).
Nach Überzeugung der Gerichts war die Alkoholerkrankung des Klägers hier jedoch der-art gewichtig, dass seine Handlungsfähigkeit, insbesondere die Freiheit im Willen, die Fä-higkeit, einen anderen mit seinen Rechtsgeschäften zu beauftragen, derart eingeschränkt, dass er die Frist zur Beantragung der freiwilligen Mitgliedschaft unverschuldet versäumt hat. Sein Alkoholismus versetzte ihn weder psychisch noch physisch in die Lage, in freier Willensbetätigung rechtzeitig zu handeln oder gar einen anderen, beispielsweise seine Tochter und Prozessbevollmächtigte oder seine geschiedene Ehefrau, zu beauftragen, seine Interessen wahrzunehmen und zu vertreten.
Der Gutachter für das Amtsgericht B ..., Dr. A ..., hatte in seinem Gutachten vom 13.09.2005 festgestellt, dass der Kläger allein in einer "total vermüllten Wohnung" lebte. Bei ihm bestehe ein chronischer Alkoholmissbrauch, ohne dass er sich deswegen in einer stationären Behandlung befunden hätte. Er war insoweit in großen Umfang hilfebedürftig. Es zeigte sich eine auffällige Persönlichkeit, mit der Tendenz, sich treiben zu lassen, mit Zeichen einer allgemeinen Depravation. Die Kritik- und Urteilsfähigkeit zeigte sich ver-mindert. Der Sachverständige stellte unter anderem einen chronischen Alkoholmissbrauch mit Zeichen eine schweren Persönlichkeitsdepravation und einem leichten hirnorganischen Psychosyndrom fest. Er war äußerlich deutlich vernachlässigt und ungepflegt.
Aus den dem Gericht vorgelegten Schreiben ging außerdem hervor, dass der Kläger – al-koholbedingt – aufgrund der Verwahrlosung Schwierigkeiten in seinem persönlichen Le-bensumfeld, insbesondere mit der Hausgemeinschaft hatte. Dieser Zustand hatte bereits seit längerem, d. h. auch während der Dauer der Antragsfrist, angedauert. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat insoweit glaubhaft und mit bildlicher Um-schreibung die persönlichen Lebensumstände ihres Vaters geschildert. Es mussten zwei Container mit leeren Flaschen beim Aufräumen der Wohnung entfernt werden. Ausweis-lich der vorgezeigten Kontoauszüge hat der Kläger nach Erhalt einer Rentennachzahlung diese umgehend in Alkohol umgesetzt, und zwar gerade im fraglichen Zeitraum, in dem die Antragsfrist lief. Zudem hatte er zuvor alkoholbedingt einen schweren Verkehrsunfall erlitten, der eine stationäre Krankenhausbehandlung erforderte. Dies war der Beklagten bekannt.
Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die geschiedene Ehefrau und die Tochter für den Kläger Arbeitslosengeld und Rente beantragt hatten. Die Prozessbe-vollmächtigte hat versichert, dass sie und ihre Mutter mit der Knappschaft eine Absprache dahingehend getroffen hatte, alle an ihren Vater gerichteten Schreiben an die Familie, vor-nehmlich an ihre Mutter und die getrennt lebende Ehegattin des Klägers, zu senden. Sie hatten für den Kläger dessen Anträge auf Arbeitslosengeld und -hilfe, Wohngeldzuschuss und ergänzende Sozialhilfe ausgefüllt, weil er zu einer Erledigung seiner Behördenangele-genheiten nicht mehr in der Lage war. Die Beantragung von Arbeitslosengeld und Rente setzt indes für einen Außenstehenden keine weiteren inhaltlichen Erkenntnisse voraus. Dies gilt nicht im gleichen Maße für die Fortführung der gesetzlichen Kranken- und Pfle-geversicherung; denn die Prozessbevollmächtigte konnte als juristischer Laie nicht ohne weiteres beurteilen, ob beim Kläger die Voraussetzungen der Pflicht-Mitgliedschaft nach Eintritt in die Rente als Krankenversicherung der Rentner vorlagen. Sie hat insoweit glaubhaft und unbestritten bekundet, dass sie die Schreiben der Beklagten vom 06.02.2004 und 01.03.2004, in denen der Kläger auf die Frist zur Beantragung der freiwilligen Mit-gliedschaft hingewiesen worden war, in der vermüllten Wohnung des Klägers ungeöffnet vorgefunden hatte.
Die Beklagte war mithin im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verurtei-len, den Kläger ab 01.02.2004 als freiwilliges Mitglied aufzunehmen. Dies gilt auch für die Beigeladene; denn nach § 26 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) finden die gesetzliche Regelungen für die Krankenversicherung entsprechend Anwendung auch auf die Pflegeversicherung.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
Login
FSS
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