S 8 KR 399/06 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 8 KR 399/06 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Eine Familienversicherung auch für Kinder, die das 23., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben und arbeitslos sind ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II, ist weder durch eine verfassungskonforme Auslegung noch im Wege der Analogie möglich. Die gesetzlichen Vorschriften mit den darin festgelegten Altersgrenzen sind abschließend und - soweit darin ausnahmsweise eine Familienversicherung für volljährige Kinder vorgesehen ist - einer Erweiterung des Anwendungsbereichs nicht zugänglich.
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes über das Bestehen einer Familienversicherung.

Der am ... geborene Antragsteller ist gelernter Obstgärtner. Seit 17.08.2006 ist er arbeitslos. Am 18.08.2006 beantragte er beim Landkreis ... Arbeitslosengeld II. Nach eigenen Angaben habe dieser den Antrag abgelehnt, nach Angaben seines Prozessbevollmächtigten sei hierüber noch kein Bescheid ergangen.

Durch Schriftsatz vom 28.11.2006 beantragte der Antragsteller die Familienversicherung, weil er keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II habe.

Durch Bescheid vom 30.11.2006 wies die Antragsgegnerin den Antrag ab. Eine kostenfreie Familienversicherung sei nur für Kinder bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres möglich, wenn sie sich nicht in Schul- oder Berufsausbildung befänden. Er habe indes bereits das 23. Lebensjahr vollendet.

Hiergegen legte der Antragsteller am 04.12.2006 Widerspruch ein. Bei verfassungskon-former Auslegung müssten auch Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres familienversichert werden. Anderenfalls entstehe auf Grund der Bestimmungen des Sozialgesetz-buchs Zweites Buch (SGB II) eine unerträgliche Sozialversicherungslücke; denn arbeitslose Kinder zwischen 23 und 25 Jahren, die durch Mitberücksichtigung der elterlichen Ein-kommen in einer Bedarfsgemeinschaft nicht als bedürftig angesehen würden und somit kein Arbeitslosengeld erhielten, würden vom Leistungsträger nach dem SGB II nicht kran-kenversichert. Die dadurch entstehende Versicherungslücke sei mit dem Sozialstaatsprin-zip und dem Schutz der Menschenwürde nicht vereinbar. Zu einer freiwilligen Kranken-versicherung sei er jedoch finanziell nicht in der Lage. Im Übrigen sei es unter Gleichbe-handlungsgrundsätzen verfassungsrechtlich problematisch, arbeitslose Kinder nur bis 23 Jahren familienzuversichern, Kinder in einer Ausbildung hingegen bis zum 25. Lebensjahr. Eine sachliche Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung liege nicht vor.

Unter Wiederholung seines Vorbringens aus dem Widerspruch hat der Antragsteller am 11.12.2006 vorläufigen Rechtsschutz begehrt. Er sei völlig mittellos und ohne Krankenver-sicherungsschutz. Ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung sei er mit dem nicht hinnehmbaren Risiko unabsehbarer Krankheitskosten belastet. Da sein Antrag auf Bewil-ligung von Arbeitslosengeld II seit dem 18.08.2008 (wohl richtig: 18.08.2006) nicht verbe-schieden worden sei, gebiete es das Sozialstaatsprinzip und der Schutz der Menschenwür-de, vorläufig die Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung der An-tragsgegnerin festzustellen. Zudem leide er unter Zahnschmerzen und bedürfe dringend einer zahnärztlichen Behandlung.

Der Antragsteller beantragt:

1. "Die Antragsgegnerin wird einstweilen dazu verpflichtet, den Antragstel-ler über seine Mutter ...: ...: ...) in ihrer ge-setzlichen Krankenversicherung familienzuversichern. 2. Hilfsweise wird einstweilen festgestellt, dass der Antragsteller kranken-versicherungspflichtig ist bei der Antragsgegnerin ... 3. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. 4. Dem Antragsteller wird für dieses vorläufige Rechtsschutzverfahren unter Beiordnung des Rechtsanwalts ..., ..., ..., Pro-zesskostenhilfe gewährt."

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Aktenin-halt, eine Gerichtsakte sowie einen Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin, Bezug ge-nommen.

II.

Der statthafte und zulässige Antrag ist unbegründet.

Das Gericht kann nach Maßgabe des § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Ast vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anord-nungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Da der Antragsteller einstweilen die Feststellung des Bestehens einer Familienversiche-rung bzw. einer Pflichtversicherung bei der Antragsgegnerin begehrt, erstrebt er vorläufi-gen Rechtsschutz entsprechend § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn anders als bei einer soge-nannten Sicherungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG), bei der die Sicherung eines status quo im Vordergrund steht, geht es bei einer sogenannten Regelungsanordnung, wie im vorliegenden Fall, um die Begründung einer neuen Rechtsposition, und zwar hier um die Feststellung eines neuen Rechtsverhältnisses als Mitglied der Versicherung der An-tragsgegnerin.

Für die Regelungsanordnung sind (ebenso wie nach § 123 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsord-nung (VwGO) i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)) der durch die einstweilige Anordnung zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und der Grund, weshalb die einstweilige Anordnung ergehen soll (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen.

Die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch sind im Falle der Vorwegnahme der Hauptsache nur glaubhaft gemacht, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für das Ob-siegen im Hauptsacheverfahren besteht (so: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.08.1992, DVBl. 93, 66). Andererseits muss die Anwendung des vorläufigen Rechts-schutzes unter Beachtung des jeweils betroffenen Grundrechtes und des Erfordernisses des effektiven Rechtsschutzes aus Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) erfolgen. Dann müssen jedoch gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird (BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, NJW 89, 827).

Daran fehlt es hier. Gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) sind Kinder nur bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres in der Familienversicherung kranken-versichert, wenn sie nicht erwerbstätig sind. Zwar ist der Antragsteller seit 17.08.2006 ar-beitslos und seit dem 18.08.2006 als solches gemeldet; gleichwohl hat der am 01.07.1983 geborene Antragsteller zu diesem Zeitpunkt bereits sein 23. Lebensjahr vollendet, sodass eine Familienversicherung nach Maßgabe des § 10 Abs. 2 Nr. 2 SGB V nicht mehr statt-haft ist.

Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes ist eine "verfassungskonforme Auslegung", über diese gesetzlich fixierte Altersgrenze hinaus, nicht möglich; denn eine Hinausschie-bung der Altersgrenze über das 23. Lebensjahr hinaus ist vom Gesetzgeber nicht vorgese-hen. Da sich der Antragsteller in keiner (weiteren) Berufsausbildung befindet, ein freiwil-liges ökologisches oder soziales Jahr oder eine Dienstpflicht ableistet, ist eine Erstreckung der Familienversicherung vom 23. bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres entsprechend § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V ausgeschlossen. Dies ist – entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers – unter Gleichheitsgesichts-punkten auch nicht verfassungswidrig, weil ein rechtfertigender Grund für die Ungleichbe-handlung arbeitsloser im Vergleich zu der besonders aufgeführten Personengruppe besteht. Maßgeblich für die Familienversicherung ist der Grundsatz der Schutzbedürftigkeit der erfassten Familienangehörigen. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass im Allge-meinen Kinder von dieser Altersgrenze ab wirtschaftlich "auf eigenen Füßen" stehen kön-nen (ebenso: Peters, in: Kasseler Kommentar, § 10 SGB V Rdnr. 32 EL 50). Er hat inso-weit den in § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V erfassten Personenkreis von in Schul- oder Be-rufsausbildung befindlichen, Dienstpflichtigen oder ein freiwilliges Jahr absolvierenden Kinder als besonders schutzbedürftig angesehen, da sie in diesem Zeitraum an der Auf-nahme einer Erwerbstätigkeit gehindert sind bzw. als gesellschaftlich und politisch beson-ders förderungswürdige Tätigkeiten für die Allgemeinheit – ohne adäquate Bezahlung – verrichten. Eine Erweiterung dieses Personenkreises aus sozialen Gründen auf arbeitslose Kinder zwischen 23 und 25 Jahren ist ausdrücklich nicht vorgesehen, zumal im Regelfall arbeitslose Kinder über § 5 Abs. 1 Nr. 2 und 2 a) SGB V selbst der Versicherungspflicht unterliegen.

Hierbei war zu berücksichtigen, dass nach der Wertentscheidung des Gesetzgebers eine Familienversicherung in der Regel ohnehin nur gegeben ist, wenn die in § 10 Absatz 1 Satz 1 SGB V aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind. Grundsätzlich soll danach eine Fami-lienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung nur für Kinder bis zu deren 18. Lebensjahr, d. h. bis zur Volljährigkeit, bestehen (§ 10 Abs. 2 Nr. 1 SGB V). Ausnahmen sind lediglich in den gesetzlich bestimmten besonderen Fällen vorgesehen, die hier nicht vorliegen.

Dies entspricht im Übrigen allgemeinen Grundsätzen der Sozialversicherung, die an diese Altersgrenze gebunden sind. Beispielsweise endet in der gesetzlichen Rentenversicherung der Anspruch auf Halb- oder Vollwaisenrente nach § 48 Abs. 4 Nr. 1 Sechstes Buch Sozi-algesetzbuch (SGB VI) ebenfalls grundsätzlich mit der Vollendung des 18. Lebensjahres (vgl. auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.08.2002, Az: L 4 KR 198/00). Nur unter bestimmten Voraussetzungen kann diese Höchstgrenze hinausgeschoben werden (vgl. Nr. 2 a) bis d) der Vorschrift). Da Sondertatbestände zu einer Ausweitung der Alters-grenze von 23 Lebensjahren auf arbeitslose Kinder bis zum 25. Lebensjahr nicht vorliegen, besteht nach der im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen summarischen Betrachtungsweise kein Anordnungsanspruch auf vorläufige Feststellung der Familienversicherung. Mangels zu schließender Regelunglücke ist kein Raum für eine extensive Auslegung der Höchstaltersgrenze im Wege der Analogie. Weder aus dem ver-fassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip, noch aus dem Grundrecht auf Schutz der Men-schenwürde lassen sich unmittelbare Rechtsansprüche gegen die Sozialversicherung ablei-ten.

Insoweit der Antragsteller hilfsweise die Feststellung einer Pflichtversicherung im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes begehrt, fehlt es hierfür ebenfalls an einer gesetzlichen Grundlage. Eine Pflichtversicherung wäre nur nach Maßgabe des § 5 SGB V denkbar. Da der Antragsteller jedoch unstreitig weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosengeld II be-zieht, noch erwerbstätig ist, oder andere Versicherungspflicht-Tatbestände vorliegen, bleibt auch der Hilfsantrag ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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