Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 69 U 464/00-68
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 38/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. Januar 2006 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Entschädigungsleistungen wegen der Folgen der Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule -.
Der 1949 geborene Kläger beantragte am 18. November 1999 formlos die Gewährung einer "Unfallrente", da er aufgrund seiner langjährigen und schweren Arbeit als Zimmermann von 1969 bis 1998 an der Wirbelsäule erkrankt sei. Beigefügt waren dem Antrag Bescheinigungen der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. F vom 04. November 1999 und der Ärzte für Neurologie und Psychiatrie Dres. L und J-A vom 09. November 1999, der Entlassungsbericht der Klinik und Poliklinik für Neurologie der C vom 24. September 1999 und der Befund eines CT vom 24. April 1998 mit der Beurteilung einer breitbasigen medialen Bandscheibenprotrusion L 4/5.
Auf Befragen der Beklagten gab der Kläger an, von November 1969 bis Juli 1972 als Eisenflechter und von 1972 bis Mai 1998 als Zimmermann gearbeitet und bei allen Tätigkeiten schwer gehoben und getragen zu haben. Sein letzter Arbeitstag sei der 07. April 1998 gewesen.
Zur Ermittlung des Sachverhalts holte die Beklagte Krankheitsberichte bei Wirbelsäulenerkrankungen von Dr. B vom 15. Dezember 1999, dem Orthopäden Dr. L vom 16. Dezember 1999, der Rehabilitationsklinik L der LVA Berlin vom 30. Dezember 1999, bei der der Kläger vom 12. Januar bis 09. Februar 1999 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme durchlaufen hatte, sowie einen Bericht der C vom 14. Januar 2000 ein. Dem Bericht der C waren weitere medizinische Unterlagen beigefügt, u.a. Röntgenaufnahmen der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule vom 08. Juli 1999. Die Beklagte ließ die Unterlagen durch den Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. Reimer auswerten. Dieser kam in seiner Stellungnahme vom 24. Februar 2000 zu dem Ergebnis, die bestehenden Beschwerden des Klägers seien nicht eindeutig auf ein wirbelsäulenbedingtes Krankheitsbild zurückzuführen. Bei dem Krankheitsbild handele es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um einen primär bandscheibenbedingten Körperschaden im Sinne der BK Nr. 2108. Nachdem die Ärztin im Landesamt T am 10. März 2000 die Anerkennung der BK Nr. 2108 nicht vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07. April 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2000 die Gewährung einer Entschädigung wegen der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV mit der Begründung ab, bei dem Krankheitsbild des Klägers handele es sich nicht um ein belastungstypisches bandscheibenbedingtes Erkrankungsbild einer BK Nr. 2108, da ein mehrsegmentaler Schaden an der LWS mit von oben nach unten zunehmendem Schadensbild nicht vorliege.
Mit der dagegen bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, es liege sehr wohl eine BK nach Nr. 2108 vor. Er habe 30 Jahre lang als Zimmermann im Akkord ständig schwere Lasten in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten gehoben, getragen und bewegt (mehr als 40 Vorgänge oder längeres Anheben). Es habe sich um schwere Balken, Platten, Stützen und so genannte Docker gehandelt. Die Lasten hätten teilweise 80 bis 40 Kilogramm betragen und seien von ihm allein bewegt worden. Auf großen Baustellen habe es für die sehr großen Gewichte Kräne gegeben, nicht aber auf mittleren und kleineren Baustellen. Die Lasten hätten oft über mehrere Etagen getragen werden müssen. In den letzten 10 Jahren hätten Ein- und Ausschal- sowie Betonarbeiten im Vordergrund gestanden. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er erfülle die arbeitstechnischen Voraussetzungen sowohl nach dem Dosismodell Dupuis als auch nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD).
Mit Schreiben vom 29. August 2000 hat die zunächst zuständig gewesene 68. Kammer des Sozialgerichts dem Kläger mitgeteilt, es werde erwogen, über die Klage gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Es könne nach Auffassung der Kammer dahingestellt bleiben, ob der Kläger die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV erfülle, denn es fehle an einem belastungskonformen Krankheitsbild. Das Anhörungsschreiben ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 18. September 2000 zugestellt worden, der daraufhin mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2000 erklärt hat, er sei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 09. Januar 2006 hat die dann zuständige 69. Kammer des Sozialgerichts den Kläger über den Wechsel der Zuständigkeit wegen einer Änderung des gerichtlichen Geschäftsverteilungsplans unterrichtet und am gleichen Tag die Klage mit Gerichtsbescheid abgewiesen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Voraussetzungen der BK Nr. 2108 seien vorliegend nicht gegeben, da die Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers keine belastungsadaptiven Zeichen aufweise. Hierunter sei ein von kopfwärts nach fußwärts zunehmender Schaden der Wirbelsäule zu verstehen. Ein solches Schadensbild sei bei dem Kläger nicht gegeben, da bei ihm nur eine Bandscheibenvorwölbung bei L 4/5 als Lendenwirbelsäulenschaden habe festgestellt werden können, so dass von vorne herein die Anerkennung als BK nicht in Betracht gekommen sei.
Gegen den am 01. Februar 2006 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 17. Februar 2006 eingelegte Berufung, mit der der Kläger geltend macht, während seines Berufslebens 30 Jahre lang als Zimmermann im Akkord schwere Lasten gehoben und getragen zu haben. Nach dem amtlichen Merkblatt der Bundesregierung könne sich eine bandscheibenbedingte Krankheit auch als lokales Lumbalsyndrom, als mono- und polyradikuläres lumbales Wurzelsyndrom oder als Kaudasyndrom manifestieren. Die Meinung, nur die Schädigung mehrerer Segmente der Lendenwirbelsäule könne als BK angesehen werden, sei bereits durch einen Beschluss des Bundessozialgerichts vom 31. Mai 1996, Aktenzeichen 2 BU 237/95, zurückgewiesen worden. Die so genannte Konsens-Arbeitsgruppe des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften zu medizinischen Beurteilungskriterien für bandscheibenbedingte Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule habe folgende klinische Kriterien für ein lokales Lumbalsyndrom im Sinne der BK Nr. 2108 definiert: 1. Radiologie: Altersuntypische Höhenminderung einer oder mehrerer Bandscheiben. 2. Symptom: Schmerz durch Bewegung. 3. Klinik: Segmentbefund mit provozierbarem Schmerz. 4. Funktionell: Entfaltungsstörungen der Lendenwirbelsäule. 5. Muskulatur: Erhöhter Tonus. 6. ggf. pseudoradikuläre Schmerzausstrahlung.
Es sei durch ein arbeitsmedizinisches Sachverständigengutachten zu ermitteln, ob diese Kriterien zumindest überwiegend erfüllt seien. Die Entscheidung des Sozialgerichts stelle eine vorweggenommene Beweiswürdigung dar.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. Januar 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07. April 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2000 zu verurteilen, ihm unter Anerkennung einer BK Nr. 2108 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Nach Auffassung der Beklagten scheidet die Anerkennung einer BK Nr. 2108 mangels des erforderlichen Schadensbildes an der Lendenwirbelsäule aus.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitsstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das Sozialgericht begründet, denn das Verfahren leidet an wesentlichen Mängeln.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Verfahrensmangel im Sinne dieser Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift, d.h. ein Mangel auf dem "Weg zum Urteil" oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (Meyer-Ladewig, SGG, 8. A. 2005, § 159 RN 3 m.w.N.; Zeihe, SGG, § 159 RN 2 a, 8 a). Gleichermaßen kommt eine Zurückverweisung bei Verstößen gegen die Grundsätze der Beweiswürdigung (Zeihe, a.a.O. RN 8 e) oder bei unzureichender Begründung der angefochtenen Entscheidung in Betracht.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Die angefochtene Entscheidung ist bereits deshalb aufzuheben, weil ein Verstoß gegen eine das Verfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Denn die Entscheidung des Sozialgerichts hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör, § 62 SGG und Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz -GG-, verletzt und stellt eine Überraschungsentscheidung dar, weil es vor Erlass des Gerichtsbescheids den Kläger nicht erneut angehört hat. Die Entscheidung des Sozialgerichts kann auf diesem Mangel auch beruhen. Das Verfahren leidet deshalb an einem wesentlichen Mangel.
Nach § 105 Abs. 1 S. 2 SGG sind die Beteiligten vor Erlass eines Gerichtsbescheids zu hören. Diese Pflicht folgt unmittelbar aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör. Durch die Anhörung soll den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, Gründe für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vorzubringen, den bisherigen Sachvortrag zu ergänzen oder Beweisanträge zu stellen (Leitherer in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 105 RN 10a m.w.N.). Die Anhörungsmitteilung ist in der Regel nur einmal erforderlich. Eine nochmalige Anhörung ist nur dann notwendig, wenn sich die Prozesssituation wesentlich geändert hat, beispielsweise wenn neuer Tatsachenvortrag erfolgt oder ein Beweisantrag gestellt wird oder wenn – wie hier – sich die medizinischen Kriterien für die Kausalitätsbeurteilung geändert haben und dadurch der ursprünglichen medizinischen Bewertung die Grundlage entzogen worden ist.
Vorliegend ist eine der Änderung der Prozesssituation vergleichbare Situation eingetreten, die eine erneute Anhörung erforderlich gemacht hat.
Der Kläger ist mit gerichtlichem Schreiben vom 29. August 2000 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden. In dem Schreiben hat das Sozialgericht nicht nur auf die Regelung des § 105 SGG hingewiesen und deren Tatbestandsvoraussetzungen wiedergegeben, sondern es hat sich auch - auf den konkreten Einzelfall bezogen - zu dem medizinischen Sachverhalt geäußert. Gleichwohl ist der angefochtene Gerichtsbescheid vom 09. Januar 2006 verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, weil er erst mehr als 5 Jahre nach der Anhörung erlassen worden ist.
Der Gerichtsbescheid ist durch Art. 8 Nr. 3 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 mit Wirkung zum 01. März 1993 in das SGG befristet bis zum 28. Februar 1998 eingefügt worden. Durch Art. 1 Nr. 3 des 5. SGG- Änderungsgesetzes vom 30. März 1998 ist die Regelung nun unbefristet getroffen worden. Die Sozialgerichte haben damit zu ihrer Entlastung die Möglichkeit erhalten, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach gelagerte Streitfälle in einem vereinfachten Verfahren und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter zu entscheiden. Diese Verfahrensweise dient dem eigentlichen Regelungszweck: der Verfahrensbeschleunigung (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O. § 105 RN 2).
Dieses Ziel hat das Sozialgericht unverkennbar verfehlt. Wenn zwischen Anhörungsmitteilung und Erlass des Gerichtsbescheids mehr als 5 Jahre liegen, dann kann bei einem so langen Zeitraum nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Rechtsstreit entsprechend der Zielsetzung des § 105 SGG beschleunigt erledigt werden sollte und erledigt worden ist (vgl. LSG Schleswig-Holstein, das in seinem Urteil vom 28. Juni 2000, Az.: L 8 RA 18/00, den Zweck der Verfahrensbeschleunigung bereits bei einem Zeitraum von 22 Monaten zwischen Anhörung und Gerichtsbescheid als verfehlt ansieht). Damit ist der Regelungszweck des Gerichtsbescheids vielmehr ad absurdum geführt worden. Welche Gründe das Sozialgericht veranlasst haben, den Gerichtsbescheid nicht früher zu erlassen, ergibt sich nicht aus den Akten. Sie sind auch unerheblich, denn für die Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen einer Überraschungsentscheidung kommt es allein auf die Sichtweise des Beteiligten an, dessen Rechte verletzt werden.
Es kann dahinstehen, ob allein der reine Zeitablauf die Wiederholung der Anhörung erforderlich macht. Eine in der juristischen Literatur dazu geäußerte Ansicht verneint diese Frage ohne nähere Begründung (vgl. Pawlak in Hennig, SGG, § 105 RN 53). Dafür spricht nach Auffassung des Senats aber, dass sich nach Ablauf eines mehrjährigen Zeitraums nach der Anhörung zum Gerichtsbescheid die Sachlage für die Beteiligten so darstellen kann, dass das Gericht von der gesetzlich eingeräumten Beschleunigungsoption keinen Gebrauch mehr machen will, etwa weil die Sach- und Rechtslage entgegen der vorherigen Einschätzung doch nicht einfach ist. Die Beteiligten müssen dann in einem solchen Fall nicht mehr mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid rechnen. Das hat zur Folge, dass das Gericht, wenn es an der Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, festhalten will, zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung die Beteiligten dazu erneut anhören muss.
Dieses Problem braucht hier jedoch nicht entschieden zu werden, denn eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers liegt - auch - deshalb vor, weil er vor Erlass des Gerichtsbescheids nicht erneut angehört worden ist, obwohl sich auch und gerade in den Jahren 2000 bis 2005 die medizinischen Beurteilungskriterien für bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule geändert und sich neue Beurteilungskriterien durchgesetzt haben, insbesondere die Auffassung, dass ein mehrsegmentaler Schaden an der LWS für die Anerkennung der BK Nr. 2108 nicht mehr erforderlich ist (vgl. Bolm-Audorff u.a., Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Teil I und II, in Trauma und Berufskrankheit, Heft 3 und 4/2005). Das Sozialgericht hätte, wenn es die Klage mit der überholten medizinischen Begründung abweisen wollte, dem Kläger Gelegenheit geben müssen, hierzu Stellung zu nehmen. Darüber hinaus haben sich auch die Kriterien zur Feststellung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 mit der Einführung des Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD) geändert. Das BSG hat in seinem Urteil vom 18. März 2003 (SozR 4-2700 § 9 Nr. 1) erstmals entschieden, dass das MDD zumindest derzeit ein geeignetes Modell ist, um die kritische Belastungsdosis eines Versicherten durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten für eine Arbeitsschicht und für das Berufsleben zu ermitteln und in Beziehung zu einem Erkrankungsrisiko zu setzen. Auch hierzu wäre eine erneute Anhörung des Klägers erforderlich gewesen.
Darüber hinaus genügen die Entscheidungsgründe nicht den Anforderungen des § 136 SGG. Es fehlt an einer schlüssigen und verständlichen Begründung, insbesondere einer Beweiswürdigung bei einem überdies unzureichend aufgeklärten Sachverhalt.
Das SGG sagt über die Entscheidungsgründe nur, dass das Urteil bzw. der Gerichtsbescheid sie enthalten muss, § 136 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 3 SGG. Deswegen ist über § 202 SGG die Regelung des § 313 Abs. 3 ZPO maßgebend, wonach die Beteiligten Kenntnis erhalten sollen, von welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Gericht ausgegangen ist. Eine kurze Begründung für jeden einzelnen für den Urteilsausspruch rechtlich erheblichen Streitpunkt in tatsächlicher Hinsicht ist geboten und ausreichend (BSG SozR 1500 § 136 Nr. 10). Es ist aber verfahrensfehlerhaft, wenn in keiner Weise erkennbar ist, welche Gründe für die richterliche Überzeugungsbildung maßgebend waren. Hierzu sind die entscheidungserheblichen Erwägungen des Gerichts in den Entscheidungsgründen kurz zu formulieren (BSGE 76, 233). Das Gericht muss sich zwar nicht mit jedem Beteiligtenvorbringen auseinandersetzen, insbesondere wenn es offensichtlich unerheblich ist oder sich aus dem Urteil zweifelsfrei ergibt, dass das Gericht das Vorbringen auch ohne ausdrückliche Erwähnung für unerheblich hält. Mindestinhalt ist aber eine ausreichende Angabe der angewandten Rechtsnormen, der für erfüllt oder nicht erfüllt gehaltenen Tatbestandsmerkmale und der dafür ausschlaggebenden tatsächlichen oder rechtlichen Gründe (BSG SozR 1500 § 136 Nr. 10).
Wesentlicher Teil der Entscheidung ist ferner die Beweiswürdigung. Ein grober Verfahrensfehler liegt vor, wenn eine Beweiswürdigung völlig fehlt. Die für das Urteil in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlichen Tatsachen müssen vom Gericht ermittelt und in dem Urteil festgestellt werden. Nach § 128 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, von welchem Sachverhalt bei der rechtlichen Beurteilung auszugehen ist; das Ergebnis dieses Entscheidungsprozesses und die für die Überzeugungsbildung maßgebenden Gründe sind im Urteil anzugeben. Es genügt deshalb nicht, wenn die Darstellung der Beteiligten oder die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen inhaltlich referiert werden. Entscheidend ist, dass das Gericht die Aussagen bewertet und mitteilt, welche gutachterlichen Äußerungen es aus welchen Gründen für überzeugend hält und deshalb seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde legt. Bei einem Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz gehören diese Feststellungen regelmäßig in die Entscheidungsgründe (BSG vom 26. Oktober 2004, Az.: B 2 U 16/04 R, und vom 15. Februar 2005, Az.: B 2 U 1/04 R). Zweck der Begründungspflicht ist nicht nur die Selbstkontrolle des Gerichts, das zu schlüssigen Erwägungen gezwungen werden soll, sondern auch die Fremdkontrolle. Auch die Beteiligten sollen die Möglichkeit erhalten, die Entscheidung zu überprüfen und zu überlegen, ob Rechtsmittel eingelegt werden sollen. Die Begründungspflicht dient damit nicht nur dem Rechtsfrieden, sondern auch dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs.
Diese Anforderungen erfüllen die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids nicht.
Das Sozialgericht hat in 3 Sätzen seine Auffassung zu dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK Nr. 2108 wiedergegeben. Es hat sich allein darauf beschränkt festzustellen, bei dem Kläger liege nur eine Bandscheibenvorwölbung bei L4/5 als Lendenwirbelsäulenschaden vor. Dies entspreche nicht dem für die BK Nr. 2108 erforderlichen von kopf- nach fußwärts zunehmenden Schadensbild. Den Entscheidungsgründen ist nicht zu entnehmen, woher das Gericht die Kenntnis über das für die Anerkennung der streitigen BK erforderliche Schadensbild hat. Aus dem teilweise wiedergegebenen Wortlaut der Nr. 2108 der Anlage zur BKV ergibt sich dies jedenfalls nicht. Die Kenntnis eines bestimmten Schadensbilds ist auch weder allgemein- noch gerichtskundig. Das Sozialgericht hat dies auch nicht behauptet. Es hat weder medizinische Literatur zitiert, noch hat es die Erklärungen eines Gutachters wiedergegeben und erst recht nicht sich solche zu Eigen gemacht. Es ist damit nicht feststellbar, worauf die medizinischen Erkenntnisse des Sozialgerichts beruhen. Es ist auch nicht erkennbar, aufgrund welcher Überlegungen das Sozialgericht zu dem Ergebnis kommt, bei dem Kläger lägen keine belastungsadaptiven Zeichen vor. Diese Behauptung wird durch nichts belegt. Hinzu kommt, dass das Sozialgericht offensichtlich auch die Begrifflichkeiten verwechselt hat. Denn belastungsadaptive Zeichen sind neben dem belastungskonformen Schadensbild ein weiteres Kriterium für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs bei der BK Nr. 2108 (vgl. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003, S. 577 ff; Becker, Die aktuelle Rechtsprechung zu den Wirbelsäulenberufskrankheiten, in SGb 2000 S. 116 ff.; siehe auch Urteil des Senats vom 27. Februar 2003, Az.: L 3 U 39/00).
Das Sozialgericht hat es nicht nur unterlassen, seine Erkenntnisquellen sichtbar zu machen, es fehlt auch jede Auseinandersetzung zu Beweiswert und Beweiskraft der im Verwaltungsverfahren eingeholten gutachterlichen Stellungnahme von Dr. R vom 24. Februar 2000. Außerdem fehlen jegliche Ausführungen dazu, warum angesichts der für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs bei den Wirbelsäulenberufskrankheiten herausgebildeten Kriterien, die zum Teil umstritten sind (vgl. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, a.a.O.; siehe auch Becker, a.a.O.), der Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt worden ist. Dies hätte jedoch nahe gelegen, denn bei einem Schaden, der – wie hier - sich ausschließlich in dem unteren Bereich der LWS manifestiert, während in dem Bereich der HWS und BWS nahezu keine Schäden dokumentiert sind, kann der Schluss auf eine berufliche Verursachung naheliegen (vgl. Urteile des Senats vom 27. Februar 2003, Az.: L 3 U 39/00, und 03. März 2005, Az.: L 3 U 117/02). Aus der Urteilsbegründung lässt sich auch nicht entnehmen, ob das Sozialgericht das von ihm behauptete Schadensbild für ein Ausschlusskriterium bei der Anerkennung der BK Nr. 2108 hält.
Die Mängel in den Entscheidungsgründen sind wesentlich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Sozialgericht bei ordnungsgemäßen Ermittlungen, die die arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV betreffen, und Würdigung der erhobenen Beweise eine andere Entscheidung getroffen hätte.
Die trotz des Vorliegens der Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG nicht zwingend vorgeschriebene Zurückverweisung ist angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens und im Hinblick darauf, dass den Beteiligten eine weitere Tatsacheninstanz erhalten bleiben soll, geboten, auch wenn die Beteiligten selbst die Verfahrensmängel nicht gerügt haben. Der Rechtsstreit ist nicht entscheidungsreif, vielmehr sind im Hinblick auf die neuen Erkenntnisse und Beurteilungskriterien – etwa das MDD – sowohl arbeitstechnische als auch medizinische Ermittlungen erforderlich. Diese wird das Sozialgericht nachzuholen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Entschädigungsleistungen wegen der Folgen der Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule -.
Der 1949 geborene Kläger beantragte am 18. November 1999 formlos die Gewährung einer "Unfallrente", da er aufgrund seiner langjährigen und schweren Arbeit als Zimmermann von 1969 bis 1998 an der Wirbelsäule erkrankt sei. Beigefügt waren dem Antrag Bescheinigungen der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. F vom 04. November 1999 und der Ärzte für Neurologie und Psychiatrie Dres. L und J-A vom 09. November 1999, der Entlassungsbericht der Klinik und Poliklinik für Neurologie der C vom 24. September 1999 und der Befund eines CT vom 24. April 1998 mit der Beurteilung einer breitbasigen medialen Bandscheibenprotrusion L 4/5.
Auf Befragen der Beklagten gab der Kläger an, von November 1969 bis Juli 1972 als Eisenflechter und von 1972 bis Mai 1998 als Zimmermann gearbeitet und bei allen Tätigkeiten schwer gehoben und getragen zu haben. Sein letzter Arbeitstag sei der 07. April 1998 gewesen.
Zur Ermittlung des Sachverhalts holte die Beklagte Krankheitsberichte bei Wirbelsäulenerkrankungen von Dr. B vom 15. Dezember 1999, dem Orthopäden Dr. L vom 16. Dezember 1999, der Rehabilitationsklinik L der LVA Berlin vom 30. Dezember 1999, bei der der Kläger vom 12. Januar bis 09. Februar 1999 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme durchlaufen hatte, sowie einen Bericht der C vom 14. Januar 2000 ein. Dem Bericht der C waren weitere medizinische Unterlagen beigefügt, u.a. Röntgenaufnahmen der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule vom 08. Juli 1999. Die Beklagte ließ die Unterlagen durch den Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. Reimer auswerten. Dieser kam in seiner Stellungnahme vom 24. Februar 2000 zu dem Ergebnis, die bestehenden Beschwerden des Klägers seien nicht eindeutig auf ein wirbelsäulenbedingtes Krankheitsbild zurückzuführen. Bei dem Krankheitsbild handele es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um einen primär bandscheibenbedingten Körperschaden im Sinne der BK Nr. 2108. Nachdem die Ärztin im Landesamt T am 10. März 2000 die Anerkennung der BK Nr. 2108 nicht vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07. April 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2000 die Gewährung einer Entschädigung wegen der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV mit der Begründung ab, bei dem Krankheitsbild des Klägers handele es sich nicht um ein belastungstypisches bandscheibenbedingtes Erkrankungsbild einer BK Nr. 2108, da ein mehrsegmentaler Schaden an der LWS mit von oben nach unten zunehmendem Schadensbild nicht vorliege.
Mit der dagegen bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, es liege sehr wohl eine BK nach Nr. 2108 vor. Er habe 30 Jahre lang als Zimmermann im Akkord ständig schwere Lasten in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten gehoben, getragen und bewegt (mehr als 40 Vorgänge oder längeres Anheben). Es habe sich um schwere Balken, Platten, Stützen und so genannte Docker gehandelt. Die Lasten hätten teilweise 80 bis 40 Kilogramm betragen und seien von ihm allein bewegt worden. Auf großen Baustellen habe es für die sehr großen Gewichte Kräne gegeben, nicht aber auf mittleren und kleineren Baustellen. Die Lasten hätten oft über mehrere Etagen getragen werden müssen. In den letzten 10 Jahren hätten Ein- und Ausschal- sowie Betonarbeiten im Vordergrund gestanden. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er erfülle die arbeitstechnischen Voraussetzungen sowohl nach dem Dosismodell Dupuis als auch nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD).
Mit Schreiben vom 29. August 2000 hat die zunächst zuständig gewesene 68. Kammer des Sozialgerichts dem Kläger mitgeteilt, es werde erwogen, über die Klage gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Es könne nach Auffassung der Kammer dahingestellt bleiben, ob der Kläger die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV erfülle, denn es fehle an einem belastungskonformen Krankheitsbild. Das Anhörungsschreiben ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 18. September 2000 zugestellt worden, der daraufhin mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2000 erklärt hat, er sei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 09. Januar 2006 hat die dann zuständige 69. Kammer des Sozialgerichts den Kläger über den Wechsel der Zuständigkeit wegen einer Änderung des gerichtlichen Geschäftsverteilungsplans unterrichtet und am gleichen Tag die Klage mit Gerichtsbescheid abgewiesen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Voraussetzungen der BK Nr. 2108 seien vorliegend nicht gegeben, da die Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers keine belastungsadaptiven Zeichen aufweise. Hierunter sei ein von kopfwärts nach fußwärts zunehmender Schaden der Wirbelsäule zu verstehen. Ein solches Schadensbild sei bei dem Kläger nicht gegeben, da bei ihm nur eine Bandscheibenvorwölbung bei L 4/5 als Lendenwirbelsäulenschaden habe festgestellt werden können, so dass von vorne herein die Anerkennung als BK nicht in Betracht gekommen sei.
Gegen den am 01. Februar 2006 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 17. Februar 2006 eingelegte Berufung, mit der der Kläger geltend macht, während seines Berufslebens 30 Jahre lang als Zimmermann im Akkord schwere Lasten gehoben und getragen zu haben. Nach dem amtlichen Merkblatt der Bundesregierung könne sich eine bandscheibenbedingte Krankheit auch als lokales Lumbalsyndrom, als mono- und polyradikuläres lumbales Wurzelsyndrom oder als Kaudasyndrom manifestieren. Die Meinung, nur die Schädigung mehrerer Segmente der Lendenwirbelsäule könne als BK angesehen werden, sei bereits durch einen Beschluss des Bundessozialgerichts vom 31. Mai 1996, Aktenzeichen 2 BU 237/95, zurückgewiesen worden. Die so genannte Konsens-Arbeitsgruppe des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften zu medizinischen Beurteilungskriterien für bandscheibenbedingte Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule habe folgende klinische Kriterien für ein lokales Lumbalsyndrom im Sinne der BK Nr. 2108 definiert: 1. Radiologie: Altersuntypische Höhenminderung einer oder mehrerer Bandscheiben. 2. Symptom: Schmerz durch Bewegung. 3. Klinik: Segmentbefund mit provozierbarem Schmerz. 4. Funktionell: Entfaltungsstörungen der Lendenwirbelsäule. 5. Muskulatur: Erhöhter Tonus. 6. ggf. pseudoradikuläre Schmerzausstrahlung.
Es sei durch ein arbeitsmedizinisches Sachverständigengutachten zu ermitteln, ob diese Kriterien zumindest überwiegend erfüllt seien. Die Entscheidung des Sozialgerichts stelle eine vorweggenommene Beweiswürdigung dar.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. Januar 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07. April 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2000 zu verurteilen, ihm unter Anerkennung einer BK Nr. 2108 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Nach Auffassung der Beklagten scheidet die Anerkennung einer BK Nr. 2108 mangels des erforderlichen Schadensbildes an der Lendenwirbelsäule aus.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitsstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das Sozialgericht begründet, denn das Verfahren leidet an wesentlichen Mängeln.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Verfahrensmangel im Sinne dieser Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift, d.h. ein Mangel auf dem "Weg zum Urteil" oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (Meyer-Ladewig, SGG, 8. A. 2005, § 159 RN 3 m.w.N.; Zeihe, SGG, § 159 RN 2 a, 8 a). Gleichermaßen kommt eine Zurückverweisung bei Verstößen gegen die Grundsätze der Beweiswürdigung (Zeihe, a.a.O. RN 8 e) oder bei unzureichender Begründung der angefochtenen Entscheidung in Betracht.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Die angefochtene Entscheidung ist bereits deshalb aufzuheben, weil ein Verstoß gegen eine das Verfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Denn die Entscheidung des Sozialgerichts hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör, § 62 SGG und Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz -GG-, verletzt und stellt eine Überraschungsentscheidung dar, weil es vor Erlass des Gerichtsbescheids den Kläger nicht erneut angehört hat. Die Entscheidung des Sozialgerichts kann auf diesem Mangel auch beruhen. Das Verfahren leidet deshalb an einem wesentlichen Mangel.
Nach § 105 Abs. 1 S. 2 SGG sind die Beteiligten vor Erlass eines Gerichtsbescheids zu hören. Diese Pflicht folgt unmittelbar aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör. Durch die Anhörung soll den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, Gründe für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vorzubringen, den bisherigen Sachvortrag zu ergänzen oder Beweisanträge zu stellen (Leitherer in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 105 RN 10a m.w.N.). Die Anhörungsmitteilung ist in der Regel nur einmal erforderlich. Eine nochmalige Anhörung ist nur dann notwendig, wenn sich die Prozesssituation wesentlich geändert hat, beispielsweise wenn neuer Tatsachenvortrag erfolgt oder ein Beweisantrag gestellt wird oder wenn – wie hier – sich die medizinischen Kriterien für die Kausalitätsbeurteilung geändert haben und dadurch der ursprünglichen medizinischen Bewertung die Grundlage entzogen worden ist.
Vorliegend ist eine der Änderung der Prozesssituation vergleichbare Situation eingetreten, die eine erneute Anhörung erforderlich gemacht hat.
Der Kläger ist mit gerichtlichem Schreiben vom 29. August 2000 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden. In dem Schreiben hat das Sozialgericht nicht nur auf die Regelung des § 105 SGG hingewiesen und deren Tatbestandsvoraussetzungen wiedergegeben, sondern es hat sich auch - auf den konkreten Einzelfall bezogen - zu dem medizinischen Sachverhalt geäußert. Gleichwohl ist der angefochtene Gerichtsbescheid vom 09. Januar 2006 verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, weil er erst mehr als 5 Jahre nach der Anhörung erlassen worden ist.
Der Gerichtsbescheid ist durch Art. 8 Nr. 3 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 mit Wirkung zum 01. März 1993 in das SGG befristet bis zum 28. Februar 1998 eingefügt worden. Durch Art. 1 Nr. 3 des 5. SGG- Änderungsgesetzes vom 30. März 1998 ist die Regelung nun unbefristet getroffen worden. Die Sozialgerichte haben damit zu ihrer Entlastung die Möglichkeit erhalten, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach gelagerte Streitfälle in einem vereinfachten Verfahren und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter zu entscheiden. Diese Verfahrensweise dient dem eigentlichen Regelungszweck: der Verfahrensbeschleunigung (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O. § 105 RN 2).
Dieses Ziel hat das Sozialgericht unverkennbar verfehlt. Wenn zwischen Anhörungsmitteilung und Erlass des Gerichtsbescheids mehr als 5 Jahre liegen, dann kann bei einem so langen Zeitraum nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Rechtsstreit entsprechend der Zielsetzung des § 105 SGG beschleunigt erledigt werden sollte und erledigt worden ist (vgl. LSG Schleswig-Holstein, das in seinem Urteil vom 28. Juni 2000, Az.: L 8 RA 18/00, den Zweck der Verfahrensbeschleunigung bereits bei einem Zeitraum von 22 Monaten zwischen Anhörung und Gerichtsbescheid als verfehlt ansieht). Damit ist der Regelungszweck des Gerichtsbescheids vielmehr ad absurdum geführt worden. Welche Gründe das Sozialgericht veranlasst haben, den Gerichtsbescheid nicht früher zu erlassen, ergibt sich nicht aus den Akten. Sie sind auch unerheblich, denn für die Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen einer Überraschungsentscheidung kommt es allein auf die Sichtweise des Beteiligten an, dessen Rechte verletzt werden.
Es kann dahinstehen, ob allein der reine Zeitablauf die Wiederholung der Anhörung erforderlich macht. Eine in der juristischen Literatur dazu geäußerte Ansicht verneint diese Frage ohne nähere Begründung (vgl. Pawlak in Hennig, SGG, § 105 RN 53). Dafür spricht nach Auffassung des Senats aber, dass sich nach Ablauf eines mehrjährigen Zeitraums nach der Anhörung zum Gerichtsbescheid die Sachlage für die Beteiligten so darstellen kann, dass das Gericht von der gesetzlich eingeräumten Beschleunigungsoption keinen Gebrauch mehr machen will, etwa weil die Sach- und Rechtslage entgegen der vorherigen Einschätzung doch nicht einfach ist. Die Beteiligten müssen dann in einem solchen Fall nicht mehr mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid rechnen. Das hat zur Folge, dass das Gericht, wenn es an der Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, festhalten will, zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung die Beteiligten dazu erneut anhören muss.
Dieses Problem braucht hier jedoch nicht entschieden zu werden, denn eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers liegt - auch - deshalb vor, weil er vor Erlass des Gerichtsbescheids nicht erneut angehört worden ist, obwohl sich auch und gerade in den Jahren 2000 bis 2005 die medizinischen Beurteilungskriterien für bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule geändert und sich neue Beurteilungskriterien durchgesetzt haben, insbesondere die Auffassung, dass ein mehrsegmentaler Schaden an der LWS für die Anerkennung der BK Nr. 2108 nicht mehr erforderlich ist (vgl. Bolm-Audorff u.a., Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Teil I und II, in Trauma und Berufskrankheit, Heft 3 und 4/2005). Das Sozialgericht hätte, wenn es die Klage mit der überholten medizinischen Begründung abweisen wollte, dem Kläger Gelegenheit geben müssen, hierzu Stellung zu nehmen. Darüber hinaus haben sich auch die Kriterien zur Feststellung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 mit der Einführung des Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD) geändert. Das BSG hat in seinem Urteil vom 18. März 2003 (SozR 4-2700 § 9 Nr. 1) erstmals entschieden, dass das MDD zumindest derzeit ein geeignetes Modell ist, um die kritische Belastungsdosis eines Versicherten durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten für eine Arbeitsschicht und für das Berufsleben zu ermitteln und in Beziehung zu einem Erkrankungsrisiko zu setzen. Auch hierzu wäre eine erneute Anhörung des Klägers erforderlich gewesen.
Darüber hinaus genügen die Entscheidungsgründe nicht den Anforderungen des § 136 SGG. Es fehlt an einer schlüssigen und verständlichen Begründung, insbesondere einer Beweiswürdigung bei einem überdies unzureichend aufgeklärten Sachverhalt.
Das SGG sagt über die Entscheidungsgründe nur, dass das Urteil bzw. der Gerichtsbescheid sie enthalten muss, § 136 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 3 SGG. Deswegen ist über § 202 SGG die Regelung des § 313 Abs. 3 ZPO maßgebend, wonach die Beteiligten Kenntnis erhalten sollen, von welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Gericht ausgegangen ist. Eine kurze Begründung für jeden einzelnen für den Urteilsausspruch rechtlich erheblichen Streitpunkt in tatsächlicher Hinsicht ist geboten und ausreichend (BSG SozR 1500 § 136 Nr. 10). Es ist aber verfahrensfehlerhaft, wenn in keiner Weise erkennbar ist, welche Gründe für die richterliche Überzeugungsbildung maßgebend waren. Hierzu sind die entscheidungserheblichen Erwägungen des Gerichts in den Entscheidungsgründen kurz zu formulieren (BSGE 76, 233). Das Gericht muss sich zwar nicht mit jedem Beteiligtenvorbringen auseinandersetzen, insbesondere wenn es offensichtlich unerheblich ist oder sich aus dem Urteil zweifelsfrei ergibt, dass das Gericht das Vorbringen auch ohne ausdrückliche Erwähnung für unerheblich hält. Mindestinhalt ist aber eine ausreichende Angabe der angewandten Rechtsnormen, der für erfüllt oder nicht erfüllt gehaltenen Tatbestandsmerkmale und der dafür ausschlaggebenden tatsächlichen oder rechtlichen Gründe (BSG SozR 1500 § 136 Nr. 10).
Wesentlicher Teil der Entscheidung ist ferner die Beweiswürdigung. Ein grober Verfahrensfehler liegt vor, wenn eine Beweiswürdigung völlig fehlt. Die für das Urteil in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlichen Tatsachen müssen vom Gericht ermittelt und in dem Urteil festgestellt werden. Nach § 128 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, von welchem Sachverhalt bei der rechtlichen Beurteilung auszugehen ist; das Ergebnis dieses Entscheidungsprozesses und die für die Überzeugungsbildung maßgebenden Gründe sind im Urteil anzugeben. Es genügt deshalb nicht, wenn die Darstellung der Beteiligten oder die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen inhaltlich referiert werden. Entscheidend ist, dass das Gericht die Aussagen bewertet und mitteilt, welche gutachterlichen Äußerungen es aus welchen Gründen für überzeugend hält und deshalb seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde legt. Bei einem Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz gehören diese Feststellungen regelmäßig in die Entscheidungsgründe (BSG vom 26. Oktober 2004, Az.: B 2 U 16/04 R, und vom 15. Februar 2005, Az.: B 2 U 1/04 R). Zweck der Begründungspflicht ist nicht nur die Selbstkontrolle des Gerichts, das zu schlüssigen Erwägungen gezwungen werden soll, sondern auch die Fremdkontrolle. Auch die Beteiligten sollen die Möglichkeit erhalten, die Entscheidung zu überprüfen und zu überlegen, ob Rechtsmittel eingelegt werden sollen. Die Begründungspflicht dient damit nicht nur dem Rechtsfrieden, sondern auch dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs.
Diese Anforderungen erfüllen die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids nicht.
Das Sozialgericht hat in 3 Sätzen seine Auffassung zu dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK Nr. 2108 wiedergegeben. Es hat sich allein darauf beschränkt festzustellen, bei dem Kläger liege nur eine Bandscheibenvorwölbung bei L4/5 als Lendenwirbelsäulenschaden vor. Dies entspreche nicht dem für die BK Nr. 2108 erforderlichen von kopf- nach fußwärts zunehmenden Schadensbild. Den Entscheidungsgründen ist nicht zu entnehmen, woher das Gericht die Kenntnis über das für die Anerkennung der streitigen BK erforderliche Schadensbild hat. Aus dem teilweise wiedergegebenen Wortlaut der Nr. 2108 der Anlage zur BKV ergibt sich dies jedenfalls nicht. Die Kenntnis eines bestimmten Schadensbilds ist auch weder allgemein- noch gerichtskundig. Das Sozialgericht hat dies auch nicht behauptet. Es hat weder medizinische Literatur zitiert, noch hat es die Erklärungen eines Gutachters wiedergegeben und erst recht nicht sich solche zu Eigen gemacht. Es ist damit nicht feststellbar, worauf die medizinischen Erkenntnisse des Sozialgerichts beruhen. Es ist auch nicht erkennbar, aufgrund welcher Überlegungen das Sozialgericht zu dem Ergebnis kommt, bei dem Kläger lägen keine belastungsadaptiven Zeichen vor. Diese Behauptung wird durch nichts belegt. Hinzu kommt, dass das Sozialgericht offensichtlich auch die Begrifflichkeiten verwechselt hat. Denn belastungsadaptive Zeichen sind neben dem belastungskonformen Schadensbild ein weiteres Kriterium für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs bei der BK Nr. 2108 (vgl. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003, S. 577 ff; Becker, Die aktuelle Rechtsprechung zu den Wirbelsäulenberufskrankheiten, in SGb 2000 S. 116 ff.; siehe auch Urteil des Senats vom 27. Februar 2003, Az.: L 3 U 39/00).
Das Sozialgericht hat es nicht nur unterlassen, seine Erkenntnisquellen sichtbar zu machen, es fehlt auch jede Auseinandersetzung zu Beweiswert und Beweiskraft der im Verwaltungsverfahren eingeholten gutachterlichen Stellungnahme von Dr. R vom 24. Februar 2000. Außerdem fehlen jegliche Ausführungen dazu, warum angesichts der für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs bei den Wirbelsäulenberufskrankheiten herausgebildeten Kriterien, die zum Teil umstritten sind (vgl. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, a.a.O.; siehe auch Becker, a.a.O.), der Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt worden ist. Dies hätte jedoch nahe gelegen, denn bei einem Schaden, der – wie hier - sich ausschließlich in dem unteren Bereich der LWS manifestiert, während in dem Bereich der HWS und BWS nahezu keine Schäden dokumentiert sind, kann der Schluss auf eine berufliche Verursachung naheliegen (vgl. Urteile des Senats vom 27. Februar 2003, Az.: L 3 U 39/00, und 03. März 2005, Az.: L 3 U 117/02). Aus der Urteilsbegründung lässt sich auch nicht entnehmen, ob das Sozialgericht das von ihm behauptete Schadensbild für ein Ausschlusskriterium bei der Anerkennung der BK Nr. 2108 hält.
Die Mängel in den Entscheidungsgründen sind wesentlich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Sozialgericht bei ordnungsgemäßen Ermittlungen, die die arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV betreffen, und Würdigung der erhobenen Beweise eine andere Entscheidung getroffen hätte.
Die trotz des Vorliegens der Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG nicht zwingend vorgeschriebene Zurückverweisung ist angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens und im Hinblick darauf, dass den Beteiligten eine weitere Tatsacheninstanz erhalten bleiben soll, geboten, auch wenn die Beteiligten selbst die Verfahrensmängel nicht gerügt haben. Der Rechtsstreit ist nicht entscheidungsreif, vielmehr sind im Hinblick auf die neuen Erkenntnisse und Beurteilungskriterien – etwa das MDD – sowohl arbeitstechnische als auch medizinische Ermittlungen erforderlich. Diese wird das Sozialgericht nachzuholen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
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