L 15 B 112/06 SO ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 38 SO 1113/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 B 112/06 SO ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Mai 2006 wird geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 8. Mai 2006 bis zum bestandskräftigen Abschluss des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28. April 2006, längstens jedoch bis zum 31. Oktober 2006 laufende Leistungen in Höhe von 189,28 EUR für den vollen Kalendermonat darlehensweise zu gewähren. Bereits auf Grund der vorläufigen Regelung vom 5. Juli 2006 erbrachte Leistungen sind hierauf anzurechnen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Der Beschluss des SG ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Wenn das Gericht dem Antragsteller tatsächlich – wie es das in dem angefochtenen Beschluss ausführt – mit der richterlichen Verfügung vom 12. Mai 2006 eine "Wochenfrist" gesetzt hatte, so hätte es nicht bereits am 19. Mai 2006 eine Entscheidung treffen dürfen. Denn es ist offenkundig, dass das mit einfacher Post am 12. Mai 2006 versandte Schriftstück dem Bevollmächtigten des Antragstellers nicht schon am selben Tag zugegangen sein konnte und ihm folglich gerade keine Frist von einer Woche zur Verfügung gestanden haben konnte. Die Entscheidung verletzt insoweit folglich das rechtliche Gehör (§ 62 SGG; s. dazu auch BSG SozR 3-1500 § 170 Nr. 7 und den Beschluss des Senats vom 22. September 2005 – L 15 B 1003/05 AY ER). Darüber hinaus war das Sozialgericht verpflichtet, den vom Bevollmächtigten des Antragstellers mit Telefax vom 18. Mai 2006 gestellten Antrag auf "stillschweigende" Fristverlängerung zu bescheiden und ihm jedenfalls eine für ihn ungünstige Entscheidung zur Kenntnis zu geben, bevor es eine Sachentscheidung trifft. Dass die Kammer ohne weiteres bereits am 19. Mai 2006 in der Sache entschieden hat, verletzt den Antragsteller in seinem Grundrecht auf wirkungsvollen Rechtsschutz und dem Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), die den Richter zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichten (ausführlich Bundessozialgericht, Beschluss vom 9. April 2003 – B 5 RJ 140/02 B – mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass sich das Sozialgericht im Rahmen des Abhilfeverfahrens nach § 174 Sozialgerichtsgesetz mit dem Schriftsatz des Bevollmächtigten des Antragstellers vom 23. Mai 2006 und der Beschwerdeschrift vom 2. Juni 2006 auseinandergesetzt hätte (s. dazu Beschluss des Senats vom 1. Februar 2006 – L 15 B 13/06 SO ER / L 15 B 15/06 SO PKH -). Der Senat hat von einer Zurückverweisung lediglich deshalb abgesehen, weil Leistungen zur laufenden Sicherung des Lebensunterhalts streitig sind und bereits eine Verzögerung dadurch entstanden ist, dass die Verwaltungsakte des Antragsgegners dem Senat zunächst nicht zur Verfügung stand. In der Sache hat die Beschwerde insoweit Erfolg, als der Antragsgegner zur darlehensweisen Gewährung von Leistungen im vom Antragsteller begehrten Umfang zu verpflichten war. Da der Antragsteller eine Veränderung des bisherigen leistungslosen Zustands erstrebt, kommt einstweiliger Rechtsschutz nur unter den Voraussetzungen des § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Danach sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Begründet ist der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach dieser Vorschrift, wenn sich bei summarischer Prüfung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ergibt, dass ein Anspruch nach materiellem Recht besteht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 916 ZPO ; Anordnungsanspruch) und eine besondere Eilbedürftigkeit vorliegt (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 917, 918 ZPO; Anordnungsgrund; zusammenfassend zu den Voraussetzungen Binder in Handkommentar SGG, 2. Auflage 2006, § 86 b Randnummer 33 ff.). Nach summarischer Prüfung besteht ein Anordnungsanspruch. Dabei kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes offen bleiben, ob dieser im Ergebnis auf den Vorschriften über die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung oder auf denen über die "allgemeine" Sozialhilfe beruht, da sich keine Auswirkungen auf die Höhe der einstweilig zuzuerkennenden Leistung ergeben und der Antragsgegner wegen des vorläufigen Charakters des Eilrechtsschutzes ohnehin lediglich dazu verpflichtet wird, die Leistung auf Darlehensbasis zu gewähren. Der Antragsteller ist grundsätzlich nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) Leistungsberechtigter der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Es ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig, dass seine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von zirka 390,- EUR monatlich (Bescheid der – damaligen – Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 6. Juni 2005) seinen Bedarf im Sinne von § 42 SGB XII nicht deckt. Ob der Antragsteller in Gestalt der von ihm geschaffenen Kunstwerke und seines Arbeitsmaterials über "verwertbares" Vermögen im Sinne des § 90 Abs. 1 i.V. mit § 41 Abs. 2 SGB XII verfügt, kann dahingestellt bleiben. Denn um Leistungen in Gestalt des Regelsatzes (§ 28 SGB XII) und der angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (§ 29 SGB XII) jedenfalls darlehensweise beanspruchen zu können reicht es aus, dass der Antragsteller das Vermögen derzeit – und nach seinen glaubhaften Angaben bereits seit geraumer Zeit – nicht verwerten kann. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bezweckt vorrangig, die so genannte "verschämte Altersarmut" zu bekämpfen. Diese rührt daher, dass speziell ältere Menschen Ansprüche auf Sozialhilfe nicht geltend machen, obwohl sie tatsächlich bestehen (s., auch zum folgenden, etwa Wenzel in Fichtner, BSHG, 2. Auflage 2003, Vor GSiG Rz. 1 ff). Indem eine eigenständige Leistung für alte und dauerhaft erwerbsgeminderte Menschen geschaffen wurde, sollten bestehende Hemmschwellen überwunden werden. Gegenüber der (ergänzenden) Sozialhilfe, auf die die Betroffenen bis Ende 2002 verwiesen waren, sollte die Grundsicherung keine Verschlechterung bewirken. Vielmehr ist sie im Gegenteil gegenüber der "allgemeinen Sozialhilfe" vor allem beim Einsatz von Vermögen, beim Rückgriff auf unterhaltspflichtige Eltern oder Kinder sowie bei der Erbenhaftung günstiger ausgestaltet (§§ 43, 102 Abs. 5 SGB XII). Angesichts der gesetzgeberischen Zielsetzung kann der Umstand, dass die Vorschrift des § 89 BSHG über die darlehensweise Gewährung von Leistungen im Grundsicherungsgesetz gerade nicht aufgeführt worden war und die Nachfolgevorschrift des § 91 SGB XII auch in § 41 Abs. 2 SGB XII nicht genannt wird, nicht zwingend geschlossen werden, dass einem Grundsicherungsberechtigten unter keinen Umständen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII wenigstens als Darlehen gewährt werden können. Denn dies würde eine deutliche Schlechterstellung gegenüber dem früheren Rechtszustand bedeuten. Ob eine entsprechende Anwendung des § 91 SGB XII im Rahmen der Leistungen der Grundsicherung möglich ist, kann offen bleiben (dafür mit ausführlicher Begründung Brühl/Schoch in LPK-SGB XII, 7. Auflage 2005, § 41 Randnummer 28). Ein Rückgriff auf die allgemeinen Vorschriften der Sozialhilfe ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Vielmehr zeigt § 41 Abs. 3 SGB XII, dass sogar dann, wenn die Bedürftigkeit grob fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt worden ist, lediglich die Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen sind. Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII ist dagegen weiterhin möglich. Wenn einem Bedürftigen aber sogar in diesem Fall eine Leistungsgewährung nach § 91 SGB XII offensteht, so ist nicht ersichtlich, warum dies bei einem unverschuldet Grundsicherungsberechtigten nicht der Fall sein soll. Ob aus dem Gesetz weitergehend sogar der Schluss gezogen werden kann, dass – mangels Bezugnahme auf § 91 SGB XII – Leistungen der Grundsicherung selbst dann als Zuschuss zu gewähren sind, wenn die Bedürftigkeit lediglich auf der Unmöglichkeit der Vermögensverwertung beruht, muss nicht abschließend erörtert werden, weil dies nicht entscheidungserheblich ist. Aus dem Bestehen des Anordnungsanspruchs im genannten Umfang folgt vorliegend auch der Anordnungsgrund, da es sich um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums handelt. Für die Zuerkennung einer Leistung als Zuschuss bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gibt es dagegen keinen Grund, so dass die Beschwerde insoweit keinen Erfolg hat. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antragsteller nur in vergleichsweise geringem Umfang keinen Erfolg hatte. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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