L 16 RA 86/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 13 RA 6477/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 RA 86/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. August 2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte als Versorgungsträger für das Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) gegenüber der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des D R (im Folgenden: Versicherter) verpflichtet ist, Zugehörigkeitszeiten des Versicherten zur Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVTI) vom 01. Februar 1959 bis zum 30. Juni 1990 sowie die in diesen Zeiten tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.

Die Klägerin ist die Witwe des am 1934 geborenen und am 2002 verstorbenen Versicherten. Sie lebte bis zum Tode des Versicherten mit diesem in einem gemeinsamen Haushalt.

Dem Versicherten wurde in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach dem Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin der Titel "Diplom-Mineraloge" verliehen (Diplom-Urkunde vom 11.02.1959). Seit Februar 1959 bis zum 30. Juni 1990 war er bei dem Volkseigenen Betrieb (VEB) N, B , als Diplom-Mineraloge beschäftigt, zuletzt ab 01. April 1990 in der Funktion als Abteilungsleiter/Entwicklung. Mit Wirkung vom 01. März 1971 trat der Versicherte der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR) der DDR bei. Eine Versorgungszusage hatte er nicht erhalten; er war auch ansonsten nicht in ein Versorgungssystem einbezogen worden.

Mit Bescheid vom 16. Mai 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 2001 lehnte die Beklagte die Feststellung von Zugehörigkeitszeiten des Versicherten zu einem Zusatzversorgungssystem der Anlage 1 zum AAÜG mit der Begründung ab, in der Zeit vom 01. Februar 1959 bis zum 30. Juni 1990 lägen die Voraussetzungen für die Anerkennung von Zeiten der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG nicht vor. Die vorhandene berufliche Qualifikation werde vom Wortlaut der Versorgungsordnung nicht erfasst. Die Qualifikation als Diplom-Mineraloge entspreche nicht dem Titel eines Ingenieurs oder Technikers. Die tatsächliche Ausübung einer ingenieurtechnischen Tätigkeit sei insoweit unbeachtlich. Die ausgeübte Beschäftigung könne lediglich zu den so genannten Ermessensfällen gerechnet werden. Eine bis zur Schließung der Versorgungssysteme am 30. Juni 1990 nicht getroffene Ermessensentscheidung der damals dazu berufenen Stellen könne nicht durch den bundesdeutschen Versorgungsträger nachgeholt werden. Die Tätigkeit des Versicherten könne auch keinem anderen Zusatzversorgungssystem nach dem AAÜG zugerechnet werden.

Mit Urteil vom 14. August 2002 hat das Sozialgericht (SG) Berlin die auf Feststellung von Zeiten der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG (Zeiten vom 01. Februar 1959 bis zum 30. Juni 1990) gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, den Zeitraum vom 01. Februar 1959 bis zum 30. Juni 1990 als Zeit der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG anzuerkennen. Der Versicherte habe die Qualifikation eines Diplom-Mineralogen und nicht den Titel eines Ingenieurs oder Technikers innegehabt. Das sei aber die Voraussetzung für die Einbeziehung in das Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG, wie sich aus § 1 Abs. 1 2. Teilabschnitt der 2. Durchführungsbestimmung (2. DB) vom 24. Mai 1951 (GBl. I S. 487) zur Verordnung über die AVTI in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben (AVTI-VO) vom 17. August 1950 (GBl. I S. 844) ergebe. Beschäftigte, die nicht den Titel eines Ingenieurs oder Technikers innegehabt hätten, hätten nur durch eine Ermessensentscheidung der zuständigen Stelle in das Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG aufgenommen werden können. Diese Ermessensentscheidung sei im Fall des Versicherten nicht getroffen worden und könne von der Beklagten auch nicht nachgeholt werden.

Mit der Berufung hat die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten dessen Begehren weiter verfolgt. Sie trägt vor: Die ablehnenden Bescheide der Beklagten und das Urteil des SG Berlin stützten sich auf eine im semantischen Kern unzutreffende Interpretation des gegebenen Gesetzestextes. Die betriebliche Praxis in der ehemaligen DDR habe keinen Unterschied zwischen Diplom-Ingenieuren und diplomierten Naturwissenschaftlern gemacht. Alle seien nach dem gleichen Gehaltssystem entlohnt worden. Naturwissenschaftler hätten die gleichen Arbeitsaufgaben wie Diplom-Ingenieure ausgeführt. Der Versicherte sei stets Vorgesetzter von Ingenieuren, Diplom-Ingenieuren und auch Naturwissenschaftlern gewesen. Vollkommen unverständlich erscheine, dass ein Ingenieurökonom, der im Büro eines Produktionsbetriebes beschäftigt gewesen sei, eine Zusatzversorgung erhalte, wohingegen ein Naturwissenschaftler, der z. B. als Leiter in der Technologie gearbeitet und Ingenieure und Diplom-Ingenieure angeleitet habe, von der Zusatzversorgung ausgeschlossen werde. Dies führe zu einer Verletzung des Gleichheitsprinzips des Artikels 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (GG) sowie des Eigentumsrechts aus Artikel 14 GG.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. August 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 16. Mai 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 01. Februar 1959 bis zum 30. Juni 1990 als Zeit der Zugehörigkeit des Versicherten zum Zusatzversorgungssystem der Nr. 1 der Anlage 1 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz sowie die in diesen Zeiten tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die zum Verfahren eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Akte der Beklagten, die Akte des Rentenversicherungsträgers - Bundesversicherungsanstalt für Angestellte - und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig. Insbesondere ist die Klägerin als Sonder-rechtsnachfolgerin im Sinne des § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) befugt, die von dem Versicherten selbst eingelegte Berufung fortzuführen, denn sie hat mit dem Versicherten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt (§ 56 Abs. 1 S. 1 erste Tatbestandsalternative SGB I).

Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

Die Klägerin hat keinen mit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG-) durchsetzbaren Anspruch gemäß § 8 Abs. 3 S. 1 i. V. m. Abs. 1 AAÜG auf Feststellung von Zeiten der Zugehörigkeit des Versicherten zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG sowie gegebenenfalls der entsprechenden Arbeitsentgelte gemäß § 8 Abs. 2 AAÜG, den sie bei verständiger Würdigung ihres Begehrens (vgl. § 123 SGG) im Berufungsverfahren weiter geltend macht. Das AAÜG ist auf den Versicherten schon deshalb nicht anwendbar, weil er am 01. August 1991, dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des AAÜG, keinen Versorgungsanspruch im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 AAÜG hatte. Denn der Versorgungsfall (des Alters oder der Invalidität) war bis zu diesem Zeitpunkt nicht eingetreten. Der Versicherte war aber auch am 01. August 1991 nicht Inhaber einer Versorgungsanwartschaft im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 AAÜG. Denn er hatte – unstreitig – bis zum 30. Juni 1990 eine Versorgungszusage in der DDR nicht erhalten und ihm war auch nicht im Rahmen einer Einzelentscheidung eine Versorgung zugesagt worden.

§ 1 Abs. 1 AAÜG ist zwar im Wege verfassungskonformer Auslegung dahin auszulegen, dass den tatsächlich einbezogenen Personen diejenigen gleichzustellen sind, die aus bundesrechtlicher Sicht aufgrund der am 30. Juni 1990 gegebenen Sachlage einen (fiktiven) Anspruch auf Erteilung einer Versorgungszusage gehabt hätten (ständige Rechtsprechung des BSG: vgl. z. B. Urteile vom 09. April 2002 – B 4 RA 31/01 R = SozR 3 – 8570 § 1 Nr. 2 und – B 4 RA 3/02 R = SGb 2002, 379 sowie – B 4 RA 18/01 R – nicht veröffentlicht). Ein derartiger fiktiver Anspruch ist aber nur dann zu bejahen, wenn eine Beschäftigung oder Tätigkeit am maßgeblichen Stichtag, dem 30. Juni 1990, ausgeübt worden ist, wegen der ihrer Art nach eine zusätzliche Altersversorgung in dem betreffenden Versorgungssystem vorgesehen war (ständige Rechtsprechung: vgl. z. B. BSG, Urteil vom 10. April 2002 – B 4 RA 31/01 R = SGb 2002, 380; Urteil vom 29. Juli 2004 – B 4 RA 12/04 R – nicht veröffentlicht; zuletzt Urteil vom 10. Februar 2005 – B 4 RA 48/04 R –).

Der Versicherte erfüllte indes am 30. Juni 1990 nicht die Voraussetzungen für eine Einbeziehung in das Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG. Allein maßgebend sind insoweit die Texte der AVTI-VO und der hierzu ergangenen 2. DB. Davon ausgehend liegt ein fiktiver Anspruch auf eine Versorgungszusage nur vor, wenn der Betreffende – am 30. Juni 1990 – drei Voraussetzungen erfüllt hatte: Er muss 1. eine bestimmte Berufsbezeichnung berechtigt geführt haben, 2. eine der Berufsbezeichnung entsprechende Beschäftigung oder Tätigkeit verrichtet haben und 3. die Beschäftigung oder Tätigkeit in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens ausgeübt haben (vgl. hierzu BSG SozR 3 – 8570 § 1 Nr. 6; SozR 3 – 8570 § 1 Nr. 3).

Der Versicherte hat am 30. Juni 1990 keine Berufsbezeichnung geführt, die dem persönlichen Anwendungsbereich der AVTI-VO unterfallen wäre. Insbesondere war der Versicherte weder Ingenieur noch Techniker im Sinne dieser Verordnung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt, sind Ingenieure im Sinne der AVTI-VO nur solche Personen, die aufgrund eines staatlichen Zuerkennungsakts in der DDR berechtigt waren, die Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin wird allein durch Ausübung einer ingenieurtechnischen Tätigkeit die persönliche Voraussetzung für eine Einbeziehung in das Versorgungssystem nicht erfüllt (vgl. BSG SozR 3 – 8570 § 1 Nr. 8; BSG, Beschluss vom 31. Januar 2005 – B 4 RA 39/04 B – nicht veröffentlicht - zur Frage der verneinten Einbeziehung eines Diplom-Landwirts). Als Diplom-Mineraloge war der Versicherte gerade nicht aufgrund eines staatlichen Zuerkennungsakts in der DDR berechtigt, die Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen. Seine Berufsbezeichnung, die er berechtigt führen durfte, war vielmehr die des Diplom-Mineralogen. Der Kläger war auch nicht zum Führen des Titels "Techniker" berechtigt, und zwar ungeachtet dessen, dass er als Leiter der Abteilung Entwicklung am 30. Juni 1990 technischen Fragestellungen und Aufgaben nachgegangen sein mag. Denn die versorgungsrechtlichen Regelungen der AVTI stellen auf die Berechtigung zum Führen eines der dort genannten Titel ab, zu denen der Diplom-Mineraloge nicht gehört. Schließlich war der Kläger am 30. Juni 1990 auch kein "Konstrukteur" im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 der 2. DB. Dass der Versicherte einen solchen Titel innegehabt habe oder zu irgendeiner Zeit seines beruflichen Werdeganges als Konstrukteur tätig gewesen sei, wird von der Klägerin nicht vorgebracht und ist für den Senat auch im Übrigen nicht erkennbar. So ist die von dem Versicherten am 30. Juni 1990 verrichtete Tätigkeit als Abteilungsleiter der Entwicklungsabteilung des VEB N dem Bereich 31 des von der Beklagten vorgelegten Qualifikationshandbuchs für Arbeitsaufgaben von Hoch- und Fachschulkadern in den VEB und Einrichtungen des Maschinenbaus zuzuordnen. Demgegenüber werden im Bereich 32 des Qualifikationshandbuchs die Tätigkeiten benannt, die dem Tätigkeitsfeld "Konstruktion" angehört haben. Der Versicherte war jedoch offensichtlich nicht als Abteilungsleiter Konstruktion – Bereich 3202 –, Leiter zentraler Einrichtungen für Formgestaltung – Bereich 3204 –, Abteilungsleiter Formgestaltung – Bereich 3205 – oder als Abteilungsleiter Gestalterkollektiv – Bereich 3206 – tätig. Personen wie der Versicherte, die den Titel eines Ingenieurs bzw. eines Technikers nicht führen durften, konnten nur aufgrund einer in der Versorgungsordnung vorgesehenen Ermessensentscheidung im Einzelfall in das System einbezogen werden. Die Versorgungsregelungen über die Einbeziehung im Einzelfall im Wege einer Ermessensentscheidung sind aber nicht zu Bundesrecht geworden, so dass unter der Geltung von Bundesrecht die einschlägige Ermessensentscheidung auch nicht mehr nachgeholt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 26. Oktober 2004 – B 4 RA 35/04 R – nicht veröffentlicht).

Andere Rechtsgrundlagen, auf die die Klägerin ihr Begehren stützen könnte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere verstößt es nicht gegen Verfassungsrecht, dass der Bundesgesetzgeber an die im Zeitpunkt der Wiedervereinigung vorgefundene Ausgestaltung der Versorgungssysteme der DDR und deren Differenzierung angeknüpft hat. Denn der Gleichbehandlungsgrundsatz des Artikels 3 Abs. 1 GG gebietet es nicht, von den historischen Gegebenheiten in der DDR, aus denen sich Ungleichheiten ergeben können, abzusehen und sie rückwirkend zu Lasten der heutigen Beitrags- und Steuerzahler auszugleichen. Die Begünstigung der damals Einbezogenen hat der Bundesgesetzgeber als ein Teilergebnis der Verhandlungen im Einigungsvertrag angesichts der historischen Bedingungen hinnehmen dürfen (vgl. BVerfGE 100, 138, 190 = SozR 3 – 8570 § 7 Nr. 1). Zu einer "Totalrevision" des aus der DDR stammenden Versorgungsrechts war er über die mit der ständigen Rechtsprechung des BSG vorgenommenen Modifikation von § 1 Abs. 1 S. 1 AAÜG hinaus nicht verpflichtet (vgl. BSG SozR 3 – 8570 § 1 Nr. 2; Urteil vom 26. Oktober 2004 – B 4 RA 35/04 R –). Zwischenzeitlich hat auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass die Auslegung der Texte der Zusatzversorgungsordnungen durch die Fachgerichte, insbesondere durch das BSG, nicht willkürlich ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 04. August 2004 – 1 BvR 1557/01 – nicht veröffentlicht und zuletzt Beschluss vom 08. September 2004 – 1 BvR 1503/04 – nicht veröffentlicht).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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