L 13 VG 2/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 41 VG 33/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 2/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der im Jahre 1962 geborene Kläger begehrt von dem Beklagten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Er erlitt am 9. Mai 2002 ein Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades, als er, wie im Entlassungsbericht des Universitätsklinikums vom 13. Mai 2002 ausgeführt wurde, in alkoholisiertem Zustand auf den Hinterkopf stürzte.

Dieser Verletzung lag folgendes Ereignis in der von dem Kläger besuchten Gaststätte zugrunde: Gegen 3 Uhr morgens kam es aus Anlass eines – angeblich – gestohlenen Wodka-Lemon-Glases zwischen einer Gruppe von Gästen und dem Personal des Lokals, dem weitere Personen zur Seite standen, zu lautstarken Streitereien, die unter ständigem Geschrei und Gezerre in handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen den beiden Parteien mündeten. Als der Kläger einem hieran beteiligten Gast, Herrn Christian S, die rechte Hand auf die Schulter legte, wurde er von diesem gestoßen und schlug mit dem Hinterkopf auf die Schwelle zum Dart-Raum auf. Während die Gastwirtin und die Kellnerin im polizeilichen Ermittlungsverfahren und im Zivilrechtsstreit zwischen dem Kläger und Herrn S vor dem Amtsgericht aussagten, der Kläger habe die Kontrahenten trennen wollen, bekundete der von dem Amtsgericht als Zeuge vernommene Vater des Herrn S, der Kläger habe nicht die Absicht gehabt, den Streit zu schlichten, als er eingegriffen habe. Einen Strafantrag wegen des Vorfalls stellte der Kläger nicht.

Den Antrag auf Leistungen nach dem OEG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 26. September 2002 ab: Es hätten keine zweifelsfreien Feststellungen über die Ursache des zur Schädigung führenden Vorfalls getroffen werden können. Auch lägen die Versagungsgründe des § 2 OEG vor, weil der Kläger es unterlassen habe, das ihm Mögliche zur Aufklärung des Sachverhalts zu tun, d.h. insbesondere Strafanzeige zu stellen. Den Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 19. März 2003 zurück.

Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Urteil vom 16. Dezember 2003 als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Es sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger die Kopfverletzung infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person erlitten habe. Wie es zu dem Sturz gekommen sei, sei nicht erwiesen.

Gegen das Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und hierbei eine Abschrift des Urteils des Amtsgerichts vom 14. Januar 2004 vorgelegt, mit dem Herr S zur Leistung von Schadensersatz und Schmerzensgeld an den Kläger verurteilt wurde. Das Amtsgericht ging hierbei allerdings von einem erheblichen Mitverschulden des Klägers aus: Die Situation in der Gaststätte sei vollkommen unübersichtlich gewesen und in eine Massenschlägerei ausgeartet. In einem solchen Fall sei es das eigene Risiko des Klägers, wenn er in ein Handgemenge zwischen alkoholisierten Personen eingreife. Er habe damit rechnen müssen, dass er selbst etwas abbekomme, selbst wenn er tatsächlich den Streit nur habe schlichten wollen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 2003 sowie den Bescheid des Beklagten vom 26. September 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. März 2003 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Vorfalls am 9. Mai 2002 Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des sozialgerichtlichen Verfahrens S 41 VG 33/03, des Verwaltungsvorgangs des Beklagten , der auszugsweise in Kopie vorliegenden Akte des Amtsgerichts sowie der staatsanwaltlichen Ermittlungsakten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht einen Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abgelehnt. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, welcher infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung nach diesem Gesetz. Es steht zur Überzeugung des Senats nicht fest, dass die Verletzung des Klägers durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff in diesem Sinne verursacht worden ist. Die in dem Zivilprozess vor dem Amtsgericht bekundeten Zeugenaussagen, die im Wege des Urkundenbeweises im sozialgerichtlichen Verfahren gewürdigt werden können (vgl. Bundessozialgericht –BSG–, Urteil vom 24. April 1980, 9 RVg 1/79, BSGE 50, 95), lassen nicht den sicheren Schluss zu, dass Herr S den Kläger mit – direktem oder bedingtem – Vorsatz umstieß. Denn es ist gleichermaßen möglich, dass der Kläger in dem Durcheinander der handgreiflichen Auseinandersetzung durch eine unwillkürliche Bewegung des Herrn S als nicht willensgesteuerte Reaktion auf die Berührung seiner Schulter zu Fall gekommen ist.

Selbst wenn die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG erfüllt wären, hätte der Kläger gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG keinen Anspruch nach diesem Gesetz. Leistungen sind danach zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, ihm eine Entschädigung zu gewähren.

Zum Verhältnis dieser beiden Versagensgründe des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG hat das Bundessozialgericht (Urteil vom 6. Dezember 1989, 9 RVg 2/89, BSGE 66, 115 = SozR 3800 § 2 Nr. 7) klargestellt, dass die Mitverursachung (erste Alternative) einen Sonderfall der Unbilligkeit (zweite Alternative) bildet. Ist nur die unmittelbare Förderung der Tat durch den Geschädigten als Leistungsausschließungsgrund in Betracht zu ziehen, so ist die erste Alternative eine abschließende Regelung (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995, 9 RVg 5/95, BSGE 77, 18 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 3). So liegt der Fall hier: Indem der bislang in die körperlichen Auseinandersetzung der beiden Gruppen nicht einbezogene Kläger dadurch in die Schlägerei eingriff, dass er einem Teilnehmer die Hand auf die Schulter legte, war er durch einen eigenen Beitrag unmittelbar am schädigenden Geschehensablauf beteiligt, da er sonst keinen Stoß erhalten hätte. Die Beteiligung des Klägers an seiner Schädigung ist als gleichwertige Mitverursachung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG zu beurteilen.

Der entschädigungsrechtliche Kausalitätsmaßstab ist ein wertender Maßstab, der im Unterschied zur sog Äquivalenzformel, wie sie im Strafrecht üblicherweise angewandt wird, die Einzelursachen in ihrer Bedeutung gewichtet. Er dient auf den verschiedenen Gebieten des Sozialrechts unterschiedlichen Zwecken mit unterschiedlichen Folgen: Während er in der gesetzlichen Unfallversicherung und in der Soldatenversorgung zur Abgrenzung des geschützten Risikos mit der Folge dient, dass nur ein gegenüber den betrieblichen bzw. wehrdiensteigentümlichen Gefahren deutlich überwiegendes selbstgeschaffenes Risiko den Versicherungsschutz bzw. die Versorgung ausschließt, führt hingegen auf dem Gebiet des OEG bereits eine etwa gleichwertige Mitverursachung zur Versagung der Entschädigung (so BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 a.a.O. mit weiteren Nachweisen).

Die Gleichwertigkeit der von dem Kläger gesetzten Mitursache mit dem Tatbeitrag des Herrn S kann vorliegend nicht deshalb verneint werden, weil sie nach der älteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteile vom 17. November 1981, 9 RVg 2/81, BSGE 52, 281, 284 = SozR 3800 § 2 Nr. 3, vom 26. Juni 1985, 9a RVg 6/84, BSGE 58, 214, 215 = SozR 3800 § 2 Nr. 6, und vom 6. Dezember 1989 a.a.O.) voraussetzt, dass die Mitwirkung des Opfers ebenso wie der rechtswidrige Angriff von der Rechtsordnung missbilligt wird. Wie das Bundessozialgericht nunmehr klarstellt (Urteil vom 18. Oktober 1995, 9 RVg 5/95 BSGE 77, 18 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 3), bedeutet dies aber nicht, dass die Beteiligung des Opfers in demselben Maß missbilligt werden müsste wie die Beteiligung des Täters: Auf der Grundlage einer solchen Meinung wäre die Selbstgefährdung des Opfers im Vergleich mit der gegen ihn gerichteten vorsätzlichen Straftat des Täters nie gleichwertig. Denn zwangsläufig wird die Straftat von der Rechtsordnung stärker missbilligt als eine Selbstgefährdung des Opfers dieser Straftat. Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 OEG ist es gerade, denjenigen von der Versorgung auszuschließen, der sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährdet und dadurch einen Schaden erleidet. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht (BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 a.a.O.).

Eine wesentliche Mitverursachung wegen bewusster oder leichtfertiger Selbstgefährdung kann aber nur dann angenommen werden, wenn das Opfer für die Selbstgefährdung keinen "beachtlichen Grund" hatte, der insoweit eine rechtliche Missbilligung ausschließt (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 1999, B 9 VG 5/97 R, bei Juris, mit weiteren Nachweisen). Das ist vor allem dann der Fall, wenn das Opfer sich nach der besonderen Fallgestaltung für andere einsetzt (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 a.a.O.). Ein solches Verhalten wird von der Rechtsordnung nicht missbilligt, sondern sogar gewünscht: Wer den Rechtsfrieden oder die Rechtsordnung wahren oder verteidigen will, darf auch bewusst ein Risiko für sich eingehen (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 a.a.O.).

Selbst wenn man unterstellte, dass der Kläger – wie er behauptet – im Interesse der Streitschlichtung heraus handelte (vgl. hierzu BSG, Urteile vom 18.6.1996, 9 RVg 7/94, BSGE 78, 270 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 4, und vom 25. März 1999 a.a.O.), schließen es vorliegend die konkreten Umstände des Geschehens aus, den Kläger als Gewaltopfer anzusehen, das wegen eines Versagens der staatlichen Schutzvorkehrungen durch die Solidargemeinschaft zu entschädigen wäre. Als der Kläger in die nächtliche Schlägerei zwischen einem Teil der Gäste und dem Personal der Gaststätte eingriff, stand er nicht unerheblich unter dem Einfluss von Alkohol. Der Grad seiner Alkoholisierung war so hoch, dass er dem Stoß des Herrn S nicht mehr ausweichen oder abfangen konnte, sondern sofort lang hinschlug. Wegen des berauschten Zustands des Eingreifenden und der unübersichtlichen Situation der handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen war der – unterstellte – Versuch des Klägers, den Streit zu schlichten, von vornherein zum Scheitern verurteilt, was er auch selbst erkannt hätte, wenn er nicht – wie laut Entlassungsbericht des Universitätsklinikums vom 13. Mai 2002 bei seiner Aufnahme in die Klinik festgestellt wurde – alkoholbedingt distanzlos gewesen wäre. Ein derartiges Verhalten ist, sollten ihm auch grundsätzlich sozial nützliche Motive zugrunde liegen, nicht geeignet, den Rechtsfrieden zu verteidigen und kann von der Rechtsordnung dementsprechend nicht durch die Gewährung einer Opferentschädigung honoriert werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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