Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 41 VU 50/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VU 20/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Dezember 2001 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der im Jahre 1935 geborene Kläger begehrt mit der Begründung, er habe infolge seiner unberechtigten Inhaftierung in der DDR Gesundheitsschäden erlitten, Leistungen nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG).
Nach dem Besuch der Ingenieurschule war der Kläger zunächst als Fahrdienstleiter bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt. Seit dem Jahr 1966 arbeitete er als pädagogischer Mitarbeiter bei der Pionier-Eisenbahn im Pionierpark W. Im Jahre 1974 wurde er beschuldigt, Modelleisenbahnen und Eisenbahnzubehör unter Verstoß gegen die Zollbestimmungen und das Devisengesetz der DDR ein- bzw. ausgeführt zu haben. In der Zeit vom 25. Juni bis zum 26. Juli 1974 und vom 5. September bis zum 18. Oktober 1974 befand er sich in Untersuchungshaft. Die Umstände der Freiheitsentziehung schilderte er später einem französischen Bekannten im Brief vom 30. Oktober 1976. Mit Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 11. April 1975, geändert durch Urteil des Stadtgerichts von Groß-Berlin vom 20. Mai 1975, wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Anschließend war er als Bearbeiter Ökonomie im Bahnbetriebswerk P, als Mitarbeiter für Arbeitsökonomie in der Akademie W, als Lehrmeister im VEB E sowie nach einem Ingenieursstudium u.a. als Kooperationsingenieur im VEB A bzw. dessen Rechtsnachfolger, der A GmbH, tätig. Er arbeitete bis September 1991. Zum 1. April 1995 wurde er berentet.
Das Landgericht B hob im Rehabilitierungsverfahren mit Beschluss vom 8. Dezember 1995 die Strafurteile als rechtsstaatswidrig auf und stellte fest, dass der Kläger zu Unrecht Freiheitsentziehung erlitten hatte.
Der Beklagte erkannte mit Bescheid vom 9. August 1994 die Schwerbehinderung des Klägers an. Mit Bescheid vom 10. November 1997 stellte er fest, dass bei dem Kläger seit Juni 1997 folgende Behinderungen (deren verwaltungsintern bewertete Einzel-GdB sich aus den Klammerzusätzen ergeben) mit einem Gesamt-GdB von 100 vorliegen: - anhaltende psychogene Atem-, Stand- und Bewegungsstörung (mit Angst- und Depressionsneigung) (70), - Hörbehinderung (30), - Bluthochdruck, Herzminderleistung (20), - Fehlstellung und Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule im Halswirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulen-Abschnitt mit funktioneller Behinderung (30), - degenerative Veränderungen der Hüft- und Kniegelenke bei Seitenbandlockerung des rechten Kniegelenkes, Fußfehlstellung (30). Anerkannt wurden daneben die Merkzeichen "B", "aG" und "H", später auch "RF" und "T". Ferner bezieht der Kläger Leistungen nach der Pflegestufe III.
Im Februar 1996 beantragte er bei dem Beklagten die Versorgung nach dem StrRehaG: Seine Körperschäden seien auf unmenschlichste Folterungen, Misshandlungen und gewaltsame medizinische Versuche während seiner Stasi-Einzelhaft im Jahre 1974 zurückzuführen. Nach Auswertung diverser den Kläger betreffender medizinischer Unterlagen, insbesondere des pneumologischen Kausalitätsgutachtens des Dr. W, des neurologischen Fachgutachtens des Dr. P und des psychiatrischen Gutachtens des Prof. Dr. S, lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 10. Februar 2000 den Antrag des Klägers mit der Begründung, zwischen den geltend gemachten Gesundheitsstörungen und der zu Unrecht erlittenen Haft bestehe kein kausaler Zusammenhang, ab.
Mit seinem Widerspruch brachte der Kläger vor, sein Atemzentrum und Selbstregulationssystem sei durch die ihm während der Haft verabreichten Giftspritzen geschädigt worden. Er reichte ein als Gutachten bezeichnetes Schreiben des Prof. i.R. Dr. P vom 24. Juli 2000 ein. Auf der Grundlage der Schilderung des Klägers, dass dieser während seiner zweiten Haft im dreitägigen Abstand dreizehn intramuskuläre Injektionen unbekannten Inhalts erhalten habe, nahm Prof. i.R. Dr. P unter Berücksichtigung der beschriebenen Symptomatik an, dass ein Gemisch von Bungarotoxin mit Tetrodotoxin in subletaler Dosierung verabreicht worden sei, unter Umständen noch mit einem Zusatz einer weiteren Substanz. Nach Einholung einer nervenfachärztlichen Stellungnahme des Dr. D wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2001 zurück.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 11. Dezember 2001 abgewiesen: Die Kammer könne nicht feststellen, dass eine schwere Schädigung des Atemzentrums und des Selbstregulierungszentrums des Klägers mit anhaltender Atem-, Stand- und Bewegungsstörung sowie Angst- und Depressionsneigung Folge der ungerechtfertigten Inhaftierung im Jahre 1974 sei. Es sei weder nachgewiesen oder auch nur glaubhaft gemacht, dass ihm während der Haft Giftsubstanzen verabreicht worden seien. Entgegen der Annahme des Prof. i.R. Dr. P könne allein aus dem Gesundheitszustand des Klägers nicht darauf geschlossen werden, dass ihm giftige Substanzen zugesetzt worden seien. Auch hätten die von dem Beklagten eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten weder eine organische Störung des Atemzentrums noch eine organische Nervenschädigung ergeben.
Mit seiner Berufung wiederholt und vertieft der Kläger sein Vorbringen. Er hat neben dem Entlassungsbericht der H Kliniken vom 5. April 2003 deren Bericht vom 11. Juni 2003 eingereicht, in dem ausgeführt wird, die schmerzbedingten Funktionseinschränkungen mit arthromuskulären Defiziten seien Folge eines toxisch bedingten Querschnittssyndroms ab C2 mit schlaffer Tetraplegie (Lähmung aller Arme und Beine), dort mit offensichtlicher, langsam fortschreitender toxischer Muskelschädigung.
Die Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Dezember 2001 und den Bescheid des Beklagten vom 10. Februar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2001 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen schwerer Schädigung seines Atemzentrums und Selbstregulationssystems mit anhaltender Atem-, Stand- und Bewegungsstörung sowie Angst und Depressionsneigung Versorgung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz ab Februar 1996 zu gewähren, hilfsweise, ein toxikologisches und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält an seiner Entscheidung fest.
Auf die Nachfrage des Gerichts hat der behandelnde Oberarzt Dr. H der H Kliniken im Schreiben vom 12. September 2003 erklärt, die Einschätzung, dass es sich um eine toxische Schädigung handele, beruhe auf dem Gutachten des Prof. i.R. Dr. P vom 24. Juli 2000.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des sozialgerichtlichen Verfahrens, des Verwaltungsvorgangs und der Schwerbehindertenakte des Beklagten sowie der Akten des Rehabilitationsverfahrens verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Mit Recht hat das Sozialgericht einen Anspruch des Klägers auf Versorgung nach dem StrRehaG abgelehnt.
Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG erhält ein Betroffener, der infolge der Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes.
Die anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale – hier eine in Folge der rechtsstaatswidrige Freiheitsentziehung erlittene gesundheitliche Schädigung und die gesundheitlichen Folgen dieser Schädigung – müssen nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren an die richterliche Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung zu stellenden Anforderungen voll bewiesen werden (vgl. Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 12. Februar 1998, L 3 V 42/96, bei Juris). Dagegen genügt gemäß § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung (sog. haftungsausfüllende Kausalität) wie auch sonst im Sozialrecht die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Diese Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr bzw. gewichtigere Tatsachen für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang sprechen. Lediglich die Möglichkeit eines Zusammenhangs oder ein zeitlicher Zusammenhang genügt allerdings nicht (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 28. April 2004, B 2 U 33/03 R, ZfS 2004, 173, mit weiteren Nachweisen).
Während es aufgrund des Beschlusses des Landgerichts Berlin vom 8. Dezember 1995 feststeht, dass der Kläger im Jahre 1974 zweimal zu Unrecht die Freiheitsentziehung erlitten hatte, ist nicht nachgewiesen, dass ihm während dieser Inhaftierung giftige Substanzen gespritzt worden sind. Dies gilt selbst dann, wenn man unter Heranziehung des § 15 KOVVfG – weil entsprechende Unterlagen über die Behandlung des Klägers während Haft nicht vorhanden, nicht zu beschaffen bzw. ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind – für den Nachweis der mit der Schädigung zusammenhängenden Tatsachen den mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts, die Glaubhaftmachung, heranzieht. In einem derartigen Fall können die mit der Schädigung zusammenhängenden Tatsachen glaubhaft im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) gemacht werden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 3. Februar 1999, B 9 V 33/97 R, BSGE 83, 279 = SozR 3-3900 § 15 Nr. 2). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1980, 12 RK 42/80, SozR 5070 § 3 Nr. 1, mit weiteren Nachweisen). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet: Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht; jedoch reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, die Beweisanforderungen zu erfüllen (BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Das Gericht ist nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht. Gemessen an diesem Maßstab ist nicht glaubhaft gemacht, dass dem Kläger, wie er behauptet, Giftspritzen gesetzt worden sind. Gegen die Annahme, dass dieser Vorgang gut möglich ist, spricht der Inhalt des Schreibens vom 30. Oktober 1976, das der Kläger seinen eigenen Angaben zufolge einem französischen Bekannten sandte. Denn in diesem Brief beschrieb er detailliert die Umstände seiner Haft, ohne die Behandlung mit den Giftspritzen zu erwähnen. Es ist nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen der Kläger diesen – in späteren Schilderungen besonders herausgestellten – Vorgang nicht erwähnt haben sollte, wenn er sich tatsächlich zugetragen hätte. Die Behauptung des Klägers, er sei zum Schweigen verpflichtet gewesen, mag erklären, dass er das Geschehen bis zur Wende nicht seinen behandelnden Ärzten mitteilte. In dem nicht unterschriebenen Brief an seinen französischen Bekannten musste er sich jedoch diese Zurückhaltung nicht auferlegen und tat dies hinsichtlich anderer DDR-kritischer Äußerungen auch nicht:
"Der glorreiche Schein, der im Ausland über die DDR verbreitet wird, ist nicht die Lebenswirklichkeit hier. ( ) Das Hauptproblem ist ja das Eingesperrtsein hinter Mauer und Stacheldraht. ( ) Die Grenze aus Mauer, Stacheldraht, Minen und Selbstschußanlagen ist die blutigste Grenze überhaupt. ( ) Dazu gehören Vorladungen zur Staatssicherheit (Geheime Staatspolizei ist überall, Wände haben "Ohren"), wo eingeschüchtert und unter künstlich erzeugter Angst zur Mitarbeit genötigt wird! ( ...)
Aus dem Bericht der H Kliniken vom 11. Juni 2003 lassen sich keine Anhaltspunkte für eine Vergiftung des Klägers während seiner Inhaftierung herleiten. Denn wie sich aus der Mitteilung des behandelnden Oberarztes Dr. H vom 12. September 2003 ergibt, wurde eine toxische Schädigung lediglich auf der Grundlage des Schreibens des Prof. i.R. Dr. P angenommen. Durch dessen Ausführungen wird allerdings die Vergiftung nicht wahrscheinlich gemacht. Der Umstand, dass es Substanzen – wie Bungarotoxin oder Tetrodotoxin – gibt, die geeignet sind, Symptome hervorzurufen, die denen entsprechen, an denen der Kläger leidet, lässt nicht den Schluss zu, dass ihm derartige Substanzen tatsächlich verabreicht worden sind.
Das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung hat das Sozialgericht unter Heranziehung und Würdigung des Gutachten des Prof. Dr. S mit Recht verneint. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 11. Dezem-ber 2001 und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Da der Kläger – wie dargelegt – nicht glaubhaft gemacht hat, dass ihm während seiner Inhaftierung giftige Substanzen gespritzt worden sind, ist der Senat nicht gehalten gewesen, ein toxikologisches und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Der im Jahre 1935 geborene Kläger begehrt mit der Begründung, er habe infolge seiner unberechtigten Inhaftierung in der DDR Gesundheitsschäden erlitten, Leistungen nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG).
Nach dem Besuch der Ingenieurschule war der Kläger zunächst als Fahrdienstleiter bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt. Seit dem Jahr 1966 arbeitete er als pädagogischer Mitarbeiter bei der Pionier-Eisenbahn im Pionierpark W. Im Jahre 1974 wurde er beschuldigt, Modelleisenbahnen und Eisenbahnzubehör unter Verstoß gegen die Zollbestimmungen und das Devisengesetz der DDR ein- bzw. ausgeführt zu haben. In der Zeit vom 25. Juni bis zum 26. Juli 1974 und vom 5. September bis zum 18. Oktober 1974 befand er sich in Untersuchungshaft. Die Umstände der Freiheitsentziehung schilderte er später einem französischen Bekannten im Brief vom 30. Oktober 1976. Mit Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 11. April 1975, geändert durch Urteil des Stadtgerichts von Groß-Berlin vom 20. Mai 1975, wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Anschließend war er als Bearbeiter Ökonomie im Bahnbetriebswerk P, als Mitarbeiter für Arbeitsökonomie in der Akademie W, als Lehrmeister im VEB E sowie nach einem Ingenieursstudium u.a. als Kooperationsingenieur im VEB A bzw. dessen Rechtsnachfolger, der A GmbH, tätig. Er arbeitete bis September 1991. Zum 1. April 1995 wurde er berentet.
Das Landgericht B hob im Rehabilitierungsverfahren mit Beschluss vom 8. Dezember 1995 die Strafurteile als rechtsstaatswidrig auf und stellte fest, dass der Kläger zu Unrecht Freiheitsentziehung erlitten hatte.
Der Beklagte erkannte mit Bescheid vom 9. August 1994 die Schwerbehinderung des Klägers an. Mit Bescheid vom 10. November 1997 stellte er fest, dass bei dem Kläger seit Juni 1997 folgende Behinderungen (deren verwaltungsintern bewertete Einzel-GdB sich aus den Klammerzusätzen ergeben) mit einem Gesamt-GdB von 100 vorliegen: - anhaltende psychogene Atem-, Stand- und Bewegungsstörung (mit Angst- und Depressionsneigung) (70), - Hörbehinderung (30), - Bluthochdruck, Herzminderleistung (20), - Fehlstellung und Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule im Halswirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulen-Abschnitt mit funktioneller Behinderung (30), - degenerative Veränderungen der Hüft- und Kniegelenke bei Seitenbandlockerung des rechten Kniegelenkes, Fußfehlstellung (30). Anerkannt wurden daneben die Merkzeichen "B", "aG" und "H", später auch "RF" und "T". Ferner bezieht der Kläger Leistungen nach der Pflegestufe III.
Im Februar 1996 beantragte er bei dem Beklagten die Versorgung nach dem StrRehaG: Seine Körperschäden seien auf unmenschlichste Folterungen, Misshandlungen und gewaltsame medizinische Versuche während seiner Stasi-Einzelhaft im Jahre 1974 zurückzuführen. Nach Auswertung diverser den Kläger betreffender medizinischer Unterlagen, insbesondere des pneumologischen Kausalitätsgutachtens des Dr. W, des neurologischen Fachgutachtens des Dr. P und des psychiatrischen Gutachtens des Prof. Dr. S, lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 10. Februar 2000 den Antrag des Klägers mit der Begründung, zwischen den geltend gemachten Gesundheitsstörungen und der zu Unrecht erlittenen Haft bestehe kein kausaler Zusammenhang, ab.
Mit seinem Widerspruch brachte der Kläger vor, sein Atemzentrum und Selbstregulationssystem sei durch die ihm während der Haft verabreichten Giftspritzen geschädigt worden. Er reichte ein als Gutachten bezeichnetes Schreiben des Prof. i.R. Dr. P vom 24. Juli 2000 ein. Auf der Grundlage der Schilderung des Klägers, dass dieser während seiner zweiten Haft im dreitägigen Abstand dreizehn intramuskuläre Injektionen unbekannten Inhalts erhalten habe, nahm Prof. i.R. Dr. P unter Berücksichtigung der beschriebenen Symptomatik an, dass ein Gemisch von Bungarotoxin mit Tetrodotoxin in subletaler Dosierung verabreicht worden sei, unter Umständen noch mit einem Zusatz einer weiteren Substanz. Nach Einholung einer nervenfachärztlichen Stellungnahme des Dr. D wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2001 zurück.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 11. Dezember 2001 abgewiesen: Die Kammer könne nicht feststellen, dass eine schwere Schädigung des Atemzentrums und des Selbstregulierungszentrums des Klägers mit anhaltender Atem-, Stand- und Bewegungsstörung sowie Angst- und Depressionsneigung Folge der ungerechtfertigten Inhaftierung im Jahre 1974 sei. Es sei weder nachgewiesen oder auch nur glaubhaft gemacht, dass ihm während der Haft Giftsubstanzen verabreicht worden seien. Entgegen der Annahme des Prof. i.R. Dr. P könne allein aus dem Gesundheitszustand des Klägers nicht darauf geschlossen werden, dass ihm giftige Substanzen zugesetzt worden seien. Auch hätten die von dem Beklagten eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten weder eine organische Störung des Atemzentrums noch eine organische Nervenschädigung ergeben.
Mit seiner Berufung wiederholt und vertieft der Kläger sein Vorbringen. Er hat neben dem Entlassungsbericht der H Kliniken vom 5. April 2003 deren Bericht vom 11. Juni 2003 eingereicht, in dem ausgeführt wird, die schmerzbedingten Funktionseinschränkungen mit arthromuskulären Defiziten seien Folge eines toxisch bedingten Querschnittssyndroms ab C2 mit schlaffer Tetraplegie (Lähmung aller Arme und Beine), dort mit offensichtlicher, langsam fortschreitender toxischer Muskelschädigung.
Die Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Dezember 2001 und den Bescheid des Beklagten vom 10. Februar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2001 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen schwerer Schädigung seines Atemzentrums und Selbstregulationssystems mit anhaltender Atem-, Stand- und Bewegungsstörung sowie Angst und Depressionsneigung Versorgung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz ab Februar 1996 zu gewähren, hilfsweise, ein toxikologisches und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält an seiner Entscheidung fest.
Auf die Nachfrage des Gerichts hat der behandelnde Oberarzt Dr. H der H Kliniken im Schreiben vom 12. September 2003 erklärt, die Einschätzung, dass es sich um eine toxische Schädigung handele, beruhe auf dem Gutachten des Prof. i.R. Dr. P vom 24. Juli 2000.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des sozialgerichtlichen Verfahrens, des Verwaltungsvorgangs und der Schwerbehindertenakte des Beklagten sowie der Akten des Rehabilitationsverfahrens verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Mit Recht hat das Sozialgericht einen Anspruch des Klägers auf Versorgung nach dem StrRehaG abgelehnt.
Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG erhält ein Betroffener, der infolge der Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes.
Die anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale – hier eine in Folge der rechtsstaatswidrige Freiheitsentziehung erlittene gesundheitliche Schädigung und die gesundheitlichen Folgen dieser Schädigung – müssen nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren an die richterliche Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung zu stellenden Anforderungen voll bewiesen werden (vgl. Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 12. Februar 1998, L 3 V 42/96, bei Juris). Dagegen genügt gemäß § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung (sog. haftungsausfüllende Kausalität) wie auch sonst im Sozialrecht die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Diese Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr bzw. gewichtigere Tatsachen für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang sprechen. Lediglich die Möglichkeit eines Zusammenhangs oder ein zeitlicher Zusammenhang genügt allerdings nicht (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 28. April 2004, B 2 U 33/03 R, ZfS 2004, 173, mit weiteren Nachweisen).
Während es aufgrund des Beschlusses des Landgerichts Berlin vom 8. Dezember 1995 feststeht, dass der Kläger im Jahre 1974 zweimal zu Unrecht die Freiheitsentziehung erlitten hatte, ist nicht nachgewiesen, dass ihm während dieser Inhaftierung giftige Substanzen gespritzt worden sind. Dies gilt selbst dann, wenn man unter Heranziehung des § 15 KOVVfG – weil entsprechende Unterlagen über die Behandlung des Klägers während Haft nicht vorhanden, nicht zu beschaffen bzw. ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind – für den Nachweis der mit der Schädigung zusammenhängenden Tatsachen den mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts, die Glaubhaftmachung, heranzieht. In einem derartigen Fall können die mit der Schädigung zusammenhängenden Tatsachen glaubhaft im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) gemacht werden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 3. Februar 1999, B 9 V 33/97 R, BSGE 83, 279 = SozR 3-3900 § 15 Nr. 2). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1980, 12 RK 42/80, SozR 5070 § 3 Nr. 1, mit weiteren Nachweisen). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet: Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht; jedoch reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, die Beweisanforderungen zu erfüllen (BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Das Gericht ist nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht. Gemessen an diesem Maßstab ist nicht glaubhaft gemacht, dass dem Kläger, wie er behauptet, Giftspritzen gesetzt worden sind. Gegen die Annahme, dass dieser Vorgang gut möglich ist, spricht der Inhalt des Schreibens vom 30. Oktober 1976, das der Kläger seinen eigenen Angaben zufolge einem französischen Bekannten sandte. Denn in diesem Brief beschrieb er detailliert die Umstände seiner Haft, ohne die Behandlung mit den Giftspritzen zu erwähnen. Es ist nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen der Kläger diesen – in späteren Schilderungen besonders herausgestellten – Vorgang nicht erwähnt haben sollte, wenn er sich tatsächlich zugetragen hätte. Die Behauptung des Klägers, er sei zum Schweigen verpflichtet gewesen, mag erklären, dass er das Geschehen bis zur Wende nicht seinen behandelnden Ärzten mitteilte. In dem nicht unterschriebenen Brief an seinen französischen Bekannten musste er sich jedoch diese Zurückhaltung nicht auferlegen und tat dies hinsichtlich anderer DDR-kritischer Äußerungen auch nicht:
"Der glorreiche Schein, der im Ausland über die DDR verbreitet wird, ist nicht die Lebenswirklichkeit hier. ( ) Das Hauptproblem ist ja das Eingesperrtsein hinter Mauer und Stacheldraht. ( ) Die Grenze aus Mauer, Stacheldraht, Minen und Selbstschußanlagen ist die blutigste Grenze überhaupt. ( ) Dazu gehören Vorladungen zur Staatssicherheit (Geheime Staatspolizei ist überall, Wände haben "Ohren"), wo eingeschüchtert und unter künstlich erzeugter Angst zur Mitarbeit genötigt wird! ( ...)
Aus dem Bericht der H Kliniken vom 11. Juni 2003 lassen sich keine Anhaltspunkte für eine Vergiftung des Klägers während seiner Inhaftierung herleiten. Denn wie sich aus der Mitteilung des behandelnden Oberarztes Dr. H vom 12. September 2003 ergibt, wurde eine toxische Schädigung lediglich auf der Grundlage des Schreibens des Prof. i.R. Dr. P angenommen. Durch dessen Ausführungen wird allerdings die Vergiftung nicht wahrscheinlich gemacht. Der Umstand, dass es Substanzen – wie Bungarotoxin oder Tetrodotoxin – gibt, die geeignet sind, Symptome hervorzurufen, die denen entsprechen, an denen der Kläger leidet, lässt nicht den Schluss zu, dass ihm derartige Substanzen tatsächlich verabreicht worden sind.
Das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung hat das Sozialgericht unter Heranziehung und Würdigung des Gutachten des Prof. Dr. S mit Recht verneint. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 11. Dezem-ber 2001 und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Da der Kläger – wie dargelegt – nicht glaubhaft gemacht hat, dass ihm während seiner Inhaftierung giftige Substanzen gespritzt worden sind, ist der Senat nicht gehalten gewesen, ein toxikologisches und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
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