L 13 VG 10/03 -26

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 3 VG 103/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 10/03 -26
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird seinem Anerkenntnis entsprechend verurteilt, dem Kläger für die Zeit von Oktober 1998 bis April 1999 eine Rente nach einer MdE von 80 v. H. zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 9. April 2003 zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe einer Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz(BVG).

Der 1972 geborene Kläger ist bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger. Er wurde in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober 1998 in R Opfer einer Gewalttat, als er von einer Gruppe Rechtsradikaler u.a. mit Eisenstangen zusammengeschlagen wurde. Er erlitt ein schweres Schädelhirntrauma mit traumatischer Subarachnoidalblutung und intracerebralem Hämatom links hochparietal sowie weitere Kontusionsblutungen, eine offene Schädelbasisfraktur beidseits und diverse Gesichtsknochenbrüche. Er befand sich für mehrere Wochen im tiefen Koma. Eine am 16. November 1998 aufgenommene stationäre Rehabilitationsbehandlung brach der Kläger am 20. November 1998 ab, nachdem er gegen seinen Willen durch die Kriminalpolizei als Zeuge vernommen worden war.

Mit seinem im Mai 1999 gestellten Antrag auf Gewährung einer Beschädigten-Versorgung machte der Kläger geltend, unter schweren Kopfschmerzen, ständigen Albträumen, Schlafstörungen und schneller Ermüdbarkeit zu leiden. Der Beklagte nahm die Entlassungsberichte des Städtischen Klinikums B vom 8. und 16. November 1998 sowie der Neurologischen Rehabilitationsklinik B vom 25. November 1998 zur Akte und holte einen Befundbericht der behandelnden Ärztin für Chirurgie H(eingegangen am 12. Juli 1999) ein.

Auf der Grundlage eines nervenfachärztlichen Gutachtens der Chefärztin der Neurologischen Klinik der R Kliniken , Dr. W, vom 20. März 2000 erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 21. Juni 2000 als Schädigungsfolgen - Posttraumatische Belastungsstörung - knöchern ausgeheilte Schädelbasisfraktur beidseits - Jochbeinfraktur links - Fraktur des Keilbeinhöhlendaches links - Stirnhöhlenvorder- und Hinterwandfraktur beidseits - Frakturen des Orbitatrichters - Narbe nach Tracheotomie an. Durch die Schädigungsfolgen sei der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit um 30 v.H. gemindert. Ab 1. Oktober 1998 werde die Beschädigtenrente nach einer MdE von 30 v.H. gezahlt. Ob ein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG vorliege, werde noch geprüft.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren holte der Beklagte Befundberichte des Arztes für Anästhesiologie Dr. A und der Fachärztin für Allgemeinmedizin H ein und nahm unter anderem einen Entlassungsbericht der R Kliniken über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 7. bis zum 12. Oktober 1999 sowie verschiedene sozialmedizinische Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Land Brandenburg zur Akte. Diesen Unterlagen konnte die Versorgungsärztin B keine neuen Aspekte entnehmen. Durch Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2001 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

Das dagegen angerufene Sozialgericht Neuruppin hat Befundberichte der Ärztinnen Hund H eingeholt und ein neurologisches Sachverständigengutachten von Dr. B, Chefarzt der Neurologischen Klinik der R Kliniken, vom 14. September 2002 eingeholt. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, rein körperlich habe der Kläger sich gut erholt, es bestehe eine Hirnleistungsminderung geringgradigen Ausmaßes. Die bei dem Kläger bestehende posttraumatische Belastungsstörung habe in den Jahren nach der Straftat kontinuierlich zugenommen, jetzt ein schweres Ausmaß erreicht und führe zu vielfältigen Symptomen. Ganz im Vordergrund stünden chronische Kopfschmerzen und eine agitiertes depressives Syndrom mit psychomotorischer Unruhe, gedrückter Stimmung, Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, Verlust der Libido, Schlafstörungen und Appetitstörungen. Der Kläger sei derzeit kaum in der Lage, eine Freundschaft zu pflegen, eine Beziehung aufrecht zu erhalten oder einer regelmäßigen beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Daneben bestehe ein analgetika-induzierter Kopfschmerz, der überwiegend im Rahmen der posttraumatischen Belastungsstörung zu erklären sei, sich aber zusätzlich durch die regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln verselbständigt habe. Der Zustand nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma bedinge eine MdE von 30 v.H., die posttraumatische Belastungsstörung eine MdE von 70 v.H ... Die Gesamt-MdE betrage 100. Die Addition der Einzelgrade sei "sicherlich unüblich", aber im vorliegenden Fall gerechtfertigt, weil die organische Schädigung des Gehirns zu einer dramatischen Verschlechterung der posttraumatischen Belastungsstörung führe. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 14. November 2002 führte Dr. Braus, inhaltlich sei dem Gutachten zu folgen, nur sei keine Summierung der Einzel-MdE vorzunehmen, da die kognitiven Störungen Symptome enthielten, die auch Teil der posttraumatischen Belastungsstörung seien. Die Gesamt- MdE betrage 80 v.H ...

Durch Urteil vom 9. April 2003 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger eine Grundrente nach einer MdE von 100 v.H. ab Antragstellung zu gewähren und im übrigen die Klage abgewiesen. Dem Sachverständigen-Gutachten sei auch hinsichtlich der Bewertung der Gesamt-MdE in Höhe von 100 zu folgen. Die versorgungsärztliche Stellungnahme, mit der eine Gesamt-MdE von 80 angegeben werde, könne nicht überzeugen. Die Begründung, die hirnorganische Leistungsbeeinträchtigung enthalte auch kognitive Störungen, die zugleich Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung darstellten und nicht doppelt gewertet werden könnten, berücksichtige nicht, dass die organische Schädigung des Gehirn zu einer dramatischen Verschlechterung der Belastungsstörung führe.

Gegen das ihm am 8. Mai 2003 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten vom 3. Juni 2003. Er hat zunächst geltend gemacht, dass die Bewertung der MdE sich nicht an den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Anhaltspunkte) orientiere und jedenfalls eine MdE von mehr als 80 nicht vorliege.

Das Gericht hat ein psychiatrisches Gutachten von Dr. H vom 1. Dezember 2005 eingeholt. Der Sachverständige hat dargelegt, infolge des hirnorganischen Psychosyndroms mit einer symptomatischen Depression mit schweren Antriebsstörungen, deprimiert-hoffnungsloser Stimmungslage bei reduzierter Schwingungsfähigkeit, eingeschränkter Kognition, sozialem Rückzug, Schlafstörungen, Interessenverlust und fehlender Libido sei der Kläger in erheblichem Ausmaß zusätzlich insofern beeinträchtigt, als ihm hierdurch Ausgleichsmöglichkeiten entzogen seien, die vorhandenen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kompensieren. Es handele sich bei der vorliegenden posttraumatischen Belastungsstörung und dem hirnorganischen Psychosyndrom um zwei grundverschiedene psychiatrische Störungen, deren Symptome zum Teil in gemeinsame Endstrecken mündeten und sich gegenseitig nicht additiv, sondern exponentiell verstärkten. Es sei daher nicht nachvollziehbar, dass eine damit verbundene besondere Beeinträchtigung mit einer besonders schweren Beeinträchtigung in der Alltagsbewältigung keinen Niederschlag in der Zuerkennung einer schädigungsabhängigen Gesamt-MdE in entsprechender Höhe finden sollte. Die posttraumatische Belastungsstörung sei mit einer MdE von 70 v.H., das hirnorganische Psychosyndrom mit einer MdE von 30 v.H., die symptomatische Depression mit einer MdE von 40 v.H., das Kopfschmerzsyndrom mit einer MdE von 30 v.H. zu bewerten. Die Gesamt-MdE betrage 100 v.H ...

Auf den Einwand des Beklagten, er stimme zwar der Bewertung einer MdE von 100 v.H. zu, diese sei jedoch frühestens ab August 2001 den medizinischen Unterlagen zu entnehmen, hat der Sachverständige in einer am 10. April 2006 eingegangenen ergänzenden Stellungnahme darauf verwiesen, schon der Abbruch der Reha-Maßnahme am 25. November 1998 zeige, dass der Kläger an den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten habe. Diese, wie auch die symptomatische Depression seien in den Arztberichten der kurzen, stationären Aufenthalte unberücksichtigt geblieben. Der Arbeitsversuch des Klägers bis Mai 1999 zeige, dass er der Meinung gewesen sei, erneut seine alte Lebensweise wieder aufnehmen zu können. In dem Augenblick, in dem er habe erkennen müssen, dass es ihm aufgrund der Vielzahl der Störungen nicht möglich sei, seiner Tätigkeit nachzugehen, habe sich die Symptomausprägung verstärkt. Dementsprechend habe er im Mai 1999 einen Antrag beim Versorgungsamt gestellt. Ab Mai 1999 habe eine Gesamt-MdE von 100 v.H. bestanden.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 29. August 2006 hat der Beklagte für die Zeit von Oktober 1998 bis April 1999 eine MdE von 80 v.H. anerkannt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 9. April 2003 zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit der Kläger auch für die Zeit vom 1. Mai 1999 bis zum 31. Juli 2001 eine Rente nach einer höheren MdE als 80 v.H. begehrt.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akten des Sozialgerichts) und der Versorgungsakten des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Beklagte war seinem im Termin vom 29. August 2006 abgegebenen Anerkenntnis gemäß zu verurteilen, weil der Kläger das Anerkenntnis nicht angenommen hat, da er in dem Termin nicht anwesend war.

Die Berufung des Beklagten ist unbegründet.

Nach § 30 Abs. 1 BVG ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt sind.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat der brutale Überfall auf den Kläger neben der körperlichen Schädigung verschiedene psychische Schädigungen bewirkt, die schon ab Mai 1999 und nicht erst, wie von dem Beklagten angenommen, ab August 2001 eine MdE von 100 v.H. bedingen.

Der Senat folgt insbesondere dem Gutachten von Dr. H. Dieser Gutachter ist dem Senat als Sachverständiger, der über eine große Erfahrung in der Begutachtung posttraumatischer Belastungsstörungen und ihrer Bewertung verfügt, bekannt. Dr. H ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die bei dem Kläger vorliegende posttraumatische Belastungsstörung mit einer Einzel- MdE von 70 v.H. zu bewerten ist. Hierin stimmt er mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. B vom 14. November 2002 überein. Daneben hat er- wie schon Dr. B - ein hirnorganisches Psychosyndrom diagnostiziert, das er mit einer MdE von 30 v.H. bewertet hat. Des Weiteren hat der Sachverständige eine symptomatische Depression mit schweren Antriebsstörungen und deprimiert – hoffnungsloser Stimmungslage festgestellt, die eine MdE von 40 v.H. bedinge. Der Einschätzung des Sachverständigen, dass die Gesamt-MdE 100 v.H. betrage, ist der Beklagte auch nicht entgegengetreten.

Dr. H hat für den Senat auch schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass die MdE schon ab Mai 1999 100 v.H. beträgt. Der Sachverständige hat auf der Grundlage der Entlassungsberichte über die jeweiligen kurzfristigen stationären Aufenthalte nachvollziehbar dargelegt, dass sich diese Berichte auf eine organisch-neurologische Diagnostik beschränken. Demnach kann ihnen kein Hinweis darauf entnommen werden, dass die bei der Begutachtung im September 2001 festgestellte umfassende Beeinträchtigung des Klägers nicht schon im Mai 1999 bestanden hat. Die Tatsache, dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erstmals in einem Gutachten des MdK vom 15. März 2000 gestellt wird, steht vor dem Hintergrund der Analyse des Gutachters, dass gerade die dokumentierte Verhaltensweise des Klägers das Vorliegen der posttraumatischen Belastungsstörung von Beginn an deutlich machen, einer Anerkennung zu einem früheren Zeitpunkt nicht entgegen.

Soweit der Beklagte des Weiteren einwendet, dass den medizinischen Unterlagen zunächst keine Befunde zu entnehmen seien, die auf eine Depression hinweisen würden, die mit einer MdE von 40 v.H. zu bewerten sei, hat der Sachverständige darauf aufmerksam gemacht, dass in der Vergangenheit keine weiterführende psychologisch - psychiatrische Diagnostik vorgenommen worden sei. Der Einwand des Beklagten dagegen, dass Dr. H erst im Befundbericht vom 20. Februar 2002 auch eine Persönlichkeitsänderung und eine posttraumatische Belastungsstörung aufgeführt habe, führt zu keiner anderen Bewertung. Denn es ist nicht ersichtlich, aufgrund welcher konkreten tatsächlichen Änderungen des Gesundheitszustandes diese Angaben durch die Fachärztin für Allgemeinmedizin erfolgt sind.

Des weiteren hat der Gutachter darauf verwiesen, dass den vorhandenen Unterlagen keine wesentliche Verschlechterung oder Verbesserung der depressiven und posttraumatischen Symptomatik zu entnehmen sei. Vor diesem Hintergrund sieht der Senat keine Veranlassung, der Bewertung des Gutachters, dass sich mit dem Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit im Mai 1999 eine Verstärkung der Symptomausprägung gezeigt habe, nicht zu folgen. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, dass nicht bereits ab Mai 1999 die spezielle, den Kläger besonders behindernde Kombination aus zwei verschiedenen Erkrankungsbildern, nämlich der Belastungsstörung und dem hirnorganischen Psychosyndrom, vorgelegen haben sollte.

Die Berufung war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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