L 1 KR 30/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 87 KR 545/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 30/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch auf wiederholte medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft in Gestalt einer fünften und sechsten In-vitro-Fertilisation (IVF) mit Intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) als Sachleistung.

Die 1974 geborene, bei der Beklagten versicherte Klägerin und ihr 1969 geborener Ehemann können wegen primärer tubarer sowie andrologischer Sterilität auf natürlichem Wege keine Kinder bekommen. Die Beklagte gewährte der Klägerin deshalb zwischen 1996 und Frühjahr 2002 zwecks künstlicher Befruchtung vier IVF/ICSI-Zyklen, die letztlich erfolglos blieben.

Einen weiteren, auf Gewährung eines fünften und sechsten IVF/ICSI-Zyklus gerichteten Antrag stützte die Klägerin insbesondere auf die Bescheinigung ihres behandelnden Frauen-arztes vom 17. September 2002. Darin heißt es, im Nachgang zum vierten IVF/ICSI-Zyklus hätten die Klägerin und ihr Ehemann zu eigenen Lasten die Möglichkeit der Kryokonser-vierung fünf überzähliger Oozyten wahrgenommen. Im ebenfalls zu eigenen Lasten im Mai 2002 durchgeführten sog. Kryozyklus sei die Klägerin nach Rekultivierung und Transfer der im Rahmen der ICSI gewonnenen Oozyten schwanger geworden. Damit seien die sehr guten Erfolgsaussichten dieser Behandlung belegt. Der Umstand, dass die Schwangerschaft in den Folgewochen zum Abort geführt habe, stehe in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Vorbehandlung.

Der von der Beklagten eingeschaltete Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MdK) – Frauenärztin Dr. S – kam zum Ergebnis, dass sich aus den vom behandelnden Arzt zur Verfügung gestellten Unterlagen kein Nachweis einer klinischen intrauterinen Schwanger-schaft ergebe, sodass der Leistungsrahmen mit der Gewährung von vier IVF/ICSI-Zyklen definitiv ausgeschöpft sei.

Daraufhin lehnte die Beklagte eine weitere Kostenübernahme durch Bescheid vom 9. Oktober 2002 – bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 17. März 2003 – ab.

Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) Berlin wies die Klägerin darauf hin, dass nach der ab 1. Januar 2004 geltenden maßgeblichen Fassung der Anspruchsnorm keine hinreichende Schwangerschaftsaussicht bestehe, wenn die Maßnahme drei Mal ohne Erfolg durchgeführt

worden sei. Durch Gerichtsbescheid vom 27. Februar 2004 wies es die Klage aus dem vor- genannten Grund ab. Eine hinreichende Erfolgsaussicht für eine Schwangerschaft bestehe nach der mitgeteilten Neufassung der Anspruchsnorm nicht mehr. Diese Neufassung sei maßgeblich, weil die Klägerin eine zukünftige Sachleistung begehre. In diesen Fällen komme es nach der Rechtsprechung grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten münd-lichen Verhandlung an. Eine nach dem anzuwendenden materiellen Recht mögliche Ausnahme von diesem Grundsatz sehe das Gesetz nicht vor. Die Voraussetzungen der Übergangsregelung gemäß Ziffer 24 der "Richtlinien über künstliche Befruchtung" seien nicht erfüllt und könnten nicht mehr erfüllt werden, weil der begehrte Behandlungszyklus nicht bis Ende Dezember 2003 begonnen worden sei.

Mit der Berufung macht die Klägerin geltend, die Tatsache der Gesetzesänderung zum 1. Januar 2004 könne hier nicht dazu führen, dass ihr die Leistungen nunmehr verwehrt würden, obwohl die Antragstellung bereits im Jahr 2002 erfolgt sei und sich das Widerspruchs- und Klageverfahren dann solange hingezogen habe, dass der Gesetzgeber die maßgebliche Vorschrift zwischenzeitlich geändert habe. Dem stehe die Rechtsprechung nicht entgegen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe dargelegt, dass es vom Grundsatz der Maßgeblichkeit der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung Ausnahmen gebe, die sich auch aus Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung oder aus anderen Umständen ergeben könnten. Das sei hier der Fall. Insbesondere sprächen verfassungsrechtliche Gründe dafür, bezüglich der Voraussetzung der hinreichenden Erfolgsaussicht auf den Antragszeitpunkt abzustellen. Denn nach Art 6 Grundgesetz stünden Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Im Übrigen habe sie den langen Verfahrenslauf der Antrag- stellung nicht zu vertreten. Da es um eine reine Rechtsfrage gegangen sei, hätte das erstinstanz-liche Gericht ohne weiteres zügig – noch vor Beginn des Jahres 2004 – über die am 10. April 2003 eingegangene Klage entscheiden können. Anders als im dem Urteil des BSG vom 25. März 2003 – B 1 KR 17/01 R – zugrunde liegenden Sachverhalt handele es sich hier nicht um eine während des gesamten Verfahrens bereits bekannte Anspruchsvoraussetzung (Altersgrenze), die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht mehr erfüllt gewesen sei, sondern um eine erst kurzfristig Ende des Jahres 2003 verabschiedete Rechtsänderung. Sie hätte daher, anders als die Klägerin im vom BSG entschiedenen Fall, auch keine Möglichkeiten gehabt, effektiv auf prozessualem Wege Vorkehrungen zu treffen. Darüber hinaus wäre es ihr auch nicht zumutbar gewesen, die doch erheblichen Kosten dieser Behandlungsmaßnahmen auf ihr Risiko vorzufinanzieren. Dazu wäre sie auch wirtschaftlich nicht in der Lage gewesen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. Februar 2004 sowie den Bescheid vom 9. Oktober 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr maximal zwei weitere Maßnahmen der künstlichen Befruchtung (IVF/ICSI) zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akte des SG - S 87 KR 545/03 -) und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin die beantragten medizinischen Maß-nahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nicht zustehen. Sie erfüllt die Vorausset-zungen der Anspruchsnorm des § 27 a Sozialgesetzbuch (SGB) V in der maßgeblichen, am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 14. November 2003 (BGBl I S. 2190) hinsichtlich des Erfordernisses nach Abs. 1 Nr. 2 nicht. Danach setzen die Leistungen voraus, dass – insoweit in Übereinstimmung mit der bisherigen Gesetzesfassung – nach ärztlicher Feststellung hinreichende Aussicht besteht, dass durch die Maßnahmen eine Schwangerschaft herbeigeführt wird. Eine hinreichende Aussicht besteht – insoweit ist das Gesetz geändert worden – nicht mehr, wenn die Maßnahme drei Mal ohne Erfolg durchgeführt worden ist. Da letzteres unstreitig der Fall ist, kann die Klägerin die begehrte Leistung nicht mehr beanspruchen.

Entgegen ihrer Ansicht kann sich die Klägerin für ihr Begehren nicht auf die bis zum 31. Dezember 2003 geltende Rechtslage berufen. Nach der bis dahin geltenden Fassung des § 27 a Abs. 1 Nr. 2 SGB V – zweiter Satzteil – bestand eine hinreichende Aussicht in der Regel nicht mehr, wenn die Maßnahme vier Mal ohne Erfolg durchgeführt worden war. Ob dem Begehren der Klägerin nach dieser alten Rechtslage zu entsprechen gewesen wäre, ist nicht mehr zu entscheiden.

Nach Sinn und Zweck der Anspruchsnormen des Krankenversicherungsrechts ist der Behand-lungsanspruch auf den Zeitpunkt der Erbringung der Leistung zu beziehen. Solange die Be-handlung nicht durchgeführt ist, muss infolgedessen regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt werden (BSG-Urteil vom 25.03.2003 – B 1 KR 17/01 R – Rz 14 = SozR 4 – 2500 § 28 Nr. 1 Rz 7). Etwas anderes kann nur gelten, wenn es ausdrücklich angeordnet ist oder wenn sich aus Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung oder aus anderen Umständen ergibt, dass für die Erfüllung einzelner Anspruchsvoraussetzungen ausnahmsweise ein früherer Zeitpunkt maßgebend sein soll (BSG a.a.O.).

Zutreffend hat das SG ausgeführt, dass dem Gesetz keine ausdrückliche Anordnung dahin zu entnehmen ist, dass für die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzung "hinreichende Aussicht" ausnahmsweise ein Zeitpunkt vor dem 1. Januar 2004 maßgebend sein soll, selbst wenn die Behandlung bzw. die Maßnahme bis dahin noch nicht begonnen worden ist. Dies ergibt sich auch nicht aus dem Sinn und Zweck des § 27 a SGB V neuer Fassung (n. F.). Grund für die mit Wirkung vom 1. Januar 2004 erfolgte Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen war das Bestreben des Gesetzgebers, vor dem Hintergrund knapper Finanzmittel die Ausgaben für künstliche Befruchtung auf die Fälle medizinischer Notwendigkeit zu begrenzen, die er bereits nach 3 vergeblichen Versuchen ausnahmslos nicht mehr gegeben sah (Bundestags-Drucksache 15/1525 S. 83). Die bisherige Regelung betreffend die künstliche Befruchtung ging danach über das notwendige Maß hinaus und war angesichts des Anspruchs der gesetzlichen Krankenversicherung, die notwendige medizinische Versorgung weiterhin umfassend zu gewährleisten, nicht länger zu halten. Von daher ist nicht erkennbar, dass der grundgesetzliche Schutz der Familie berührt sein könnte, wenn die Klägerin – wegen Streitbefangenheit – nicht mehr in den Genuss der günstigeren, zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Regelung kommt, sondern einer Neuregelung unterworfen ist, die ihrerseits dem gebotenen verfassungs-rechtlichen Schutz noch genügt. Danach fehlt es an einem Ansatz, das Begehren auf künftige Maßnahmen noch nach nicht mehr geltendem Recht zu beurteilen.

Will danach § 27 a SGB V n. F. nach seinem zeitlichen Geltungswillen auch das streitige Rechtsverhältnis erfassen, kann die Klägerin dem die frühe Antragstellung noch im Jahr 2002, zu einer Zeit, als das alte – günstigere Recht – noch über 1 Jahr lang galt, nicht mit Erfolg entgegenhalten. Das Sozialrecht kennt keinen allgemeinen Grundsatz des Inhalts, dass eine für den Betroffenen in einem früheren Verfahrensstadium bestehende günstige Sach- oder Rechts-lage vom Versicherungsträger oder dem Gericht auch dann noch zugrunde zu legen ist, wenn sie im Zeitpunkt der das Verfahren abschließenden Entscheidung wegen einer zwischenzeitlich eingetretenen Sachverhalts- oder Rechtsänderung nicht mehr besteht (BSG a.a.O. Rz 13). Vielmehr tritt dann der Umstand, dass im Prozess auch um die Rechtmäßigkeit des ange-fochtenen Verwaltungsaktes gestritten wird, zurück (BSG-Urteil vom 19.06.2001 – B 1 KR 4/00 R – Rz 14 = SozR 3 – 2500 § 28 Nr. 5 mit weiteren Nachweisen; ständige Recht-sprechung).

Die Klägerin kann auch daraus keine Rechte herleiten, dass sie – anders als die Klägerin im dem BSG-Urteil vom 25. März 2003 zugrunde liegenden Fall – praktisch keine Möglichkeit mehr gehabt habe, auf prozessualem Wege Vorkehrungen dagegen zu treffen, dass sie ihren möglicherweise bestehenden Leistungsanspruch wegen der Prozessdauer verliert, und dass auch der Weg der Selbstbeschaffung der Leistung und der Fortführung des Prozesses mit dem Ziel der Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V für sie nicht gangbar gewesen sei. Dies allein begründet nicht das Recht der Klägerin, so gestellt zu werden, als würde ihr der Anspruch entgegen dem materiellen Recht zustehen.

Zunächst erscheint es nicht schlechthin ausgeschlossen, auf das am 19. November 2003 im Bundesgesetzblatt verkündete GMG hin auf prozessualem Wege – durch Erwirkung einer einstweiligen Anordnung – noch einen Maßnahmenbeginn vor Ablauf des Jahres 2003 zu erreichen. Doch kommt es darauf letztlich nicht an. Dem BSG ging es in seiner Entscheidung vom 25. März 2003 (a.a.O. Rz 21, 22) darum aufzuzeigen, dass in der Regel das beschriebene System der prozessualen Möglichkeiten bzw. der Möglichkeit der Kostenerstattung bei Selbstbeschaffung dazu führe, dass ein bestehender materieller Anspruch auch rechtzeitig durchgesetzt werden könne. Zugleich hat es aber hervorgehoben, dass dabei das Kostenrisiko dem Versicherten aufgebürdet werde und dass dies aufgrund der letztlich zivilprozessualen Prägung des vom Gesetz angeordneten Ausgleichs zwischen dem Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit eines Anspruchs und demjenigen an einer der Durchsetzung vorausgehenden Prüfung in einem kontradiktorischen Verfahren auch so gewollt sei (BSG a.a.O. Rz 22). Zu diesem Kostenrisiko gehört aber gleichermaßen auch das Vermögen zur Vorfinanzierung (bei Selbstbeschaffung) wie das Vermögen zur Kostenerstattung (bei Leistungserwirkung durch einstweilige Anordnung und endgültigem Unterliegen im Hauptsacheverfahren). Dabei dürfte das "Vermögen zur Vorfinanzierung" regelmäßig wesentlich davon mitbestimmt sein, in welchem Maße der Versicherte an sein Recht "glaubt", also von seiner Rechtsposition über-zeugt ist. Je mehr dies der Fall ist, desto mehr wird er auch bereit sein, die Vorfinanzierung erforderlichenfalls durch Kreditbeschaffung sicherzustellen.

Schließlich kann sich die Klägerin für ihren Anspruch auch nicht darauf stützen, dass – wie sie meint – das Gericht noch hätte im Jahr 2003 entscheiden können. Dass dies den Anspruch auf die Anwendung abgelaufenen Rechts nicht begründen kann, folgt ohne weiteres aus den vor-stehenden Ausführungen und bedarf deshalb keiner weiteren Darlegungen. Sonstige Umstände, die eine Ausnahme vom Grundsatz der Maßgeblichkeit der Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung begründen könnten, sind nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung nach § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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