L 12 R 475/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 30 RJ 1526/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 12 R 475/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. Februar 2006 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen ihre Verurteilung, dem Kläger ab Juli 2002 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren.

Der 1945 in I geborene Kläger, der seit 1969 in Deutschland lebt, hat keine geregelte Berufsausbildung abgeschlossen. Er arbeitete seit 1963 – bis 1969 in I, danach in Deutschland – als Stricker in verschiedenen Betrieben, zuletzt im 3-Schicht-Dienst in einer Strickerei in B. Das Arbeitsverhältnis endete – nach Angaben des Klägers betriebsbedingt – zum 31. Dezember 2000. Seitdem arbeitet der Kläger nicht mehr.

Ab dem 14. Januar 2002 war der Kläger arbeitsunfähig und bezog ab dem 25. Februar 2002 Krankengeld. Nach einer im April 2002 durchgeführten Bypass-Operation gewährte ihm die Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin eine Anschlussheilbehandlung vom 12. Juni bis 3. Juli 2002 (in der Fachklinik W). Nach dem Entlassungsbericht vom 25. Juli 2002 wurde er arbeitsunfähig entlassen, wobei mit einer Arbeitsfähigkeit ab Ende August 2002 für leichte bis anteilig mittelschwere körperliche Arbeit im Wechsel der Haltungsarten für sechs Stunden und mehr zu rechnen sei.

Den auf Veranlassung der Krankenkasse am 18. April 2002 ausdrücklich gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Beklagte nach Auswertung des Entlassungsberichts vom 25. Juli 2002 mit Bescheid vom 26. September 2002 ab. Den gegen diese Entscheidung ohne Begründung eingelegten Widerspruch wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 7. August 2003).

Der Kläger hat am 8. September 2003 Klage erhoben und zur Begründung auf ein ärztliches Gutachten des Arbeitsamtes B vom 21. Februar 2003 sowie auf Bescheinigungen der ihn behandelnden Ärzte verwiesen.

Das Sozialgericht hat zunächst Befundberichte von den den Kläger behandelnden Ärzten (Internist Dr. J K, Facharzt für Orthopädie Dr. J A sowie Arzt für Neurologie und Psychiatrie A K) eingeholt. Sodann hat es den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. J B zum Sachverständigen bestellt. Dieser hat den Kläger am 28. Juli 2004 untersucht. In seinem Gutachten vom selben Tag hat er berichtet, dass der Kläger an einer Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion gemischt, einer zerebralen Mikroangiopathie mit leichtgradigem pseudoneurasthenem Syndrom, einer koronaren Mehrgefäßerkrankung mit Zustand nach 4-fachen aortokoronaren Bypässen, arterieller Hypertonie, Fettstoffwechselstörung, Diabetes mellitus, Asthma bronchiale, Adipositas, rezidivierenden Lumboischialgien und Zervikobrachialgien bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule sowie Gonalgien beidseits leide. Der Kläger könne infolge dessen nur noch leichte körperliche Arbeiten im Wechsel der drei Haltungsarten oder überwiegend im Sitzen verrichten. Nachtschichten seien nicht mehr zumutbar. Das Leistungsvermögen reiche noch für die volle übliche Arbeitszeit von acht Stunden täglich aus. Zur Abklärung des Leistungsvermögens werde ein internistisches Gutachten für erforderlich gehalten.

Das Sozialgericht hat daraufhin den Facharzt für Innere Medizin Dr. J B zum Sachverständigen bestellt, der den Kläger am 26. April 2005 untersucht und in seinem Gutachten vom 11. September 2005 mitgeteilt hat, dass der Kläger an einer koronaren Mehrgefäßerkrankung mit Zustand nach 4-facher Bypass-Operation bei Zustand nach Vorderwandinfarkt, einem medikamentös behandelten arteriellen Hypertonus, einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus vom Typ IIb (Adipositas) mit beginnender Polyneuropathie, einem chronisch obstruktiv-restriktiven Lungensyndrom, rezidivierender Lumboischalgie und Cervicobrachialgie bei Verdacht auf degenerative Wirbelsäulenveränderungen sowie einer zusätzlichen psychiatrischen Störung einer Depression und Hinweis auf Multiinfarkt-Syndrom leide. Der Kläger sei infolge dessen nicht mehr in der Lage, Arbeiten von mehr als drei Stunden am Tag zu verrichten. Dies gelte auch für leichte Tätigkeiten. Er könne nur noch 100 bis vielleicht 200 Meter "am Stück" zurücklegen.

Die Beklagte, die dem Kläger inzwischen mit Bescheid vom 19. August 2005 Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 1. Juni 2005 bewilligt hatte, hat daraufhin vor Abgabe einer abschließenden Stellungnahme um die Vorlage des Berichtes des Deutschen Herzzentrums gebeten, das der Sachverständige Dr. B in seinem Gutachten erwähnt und diesem beigefügt hatte. Außerdem sollten der Bericht einer vorgesehenen Kontroll-Koronarangiographie sowie alle aktuellen medizinischen Befunde des Jahres 2005 beigezogen werden.

Das Sozialgericht hat den Beteiligten daraufhin mitgeteilt, dass es nach den Gutachten keinen weiteren Ermittlungsbedarf sehe und erwäge, über die Klage gemäß § 105 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Die Beklagte hat daraufhin mitgeteilt, dass mit einer Entscheidung des Gerichts durch Gerichtsbescheid Einverständnis bestehe.

Durch Gerichtsbescheid vom 28. Februar 2006 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26. September 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2003 verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung unbefristet ab dem 1. Juli 2002 dem Grunde nach zu gewähren. Aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Dr. B vom 11. September 2005 sei es zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung am 7. Juni 2002 nur noch in der Lage gewesen sei, allenfalls drei Stunden täglich zu arbeiten. Zur Erklärung seiner von der in dem Entlassungsbericht vom Juli 2002 abweichenden Beurteilung habe der Sachverständige Dr. B nachvollziehbar ausgeführt, dass seit dieser Einschätzung bereits mehr als drei Jahre vergangen seien, ohne dass sich eine Besserung eingestellt habe. Vielmehr sei sogar eine Verschlechterung eingetreten.

Gegen das ihr am 13. März 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 27. März 2006 eingelegte Berufung der Beklagten, die zur Begründung anführt, dass die Leistungsbeurteilung durch den Sachverständigen Dr. B nicht durch die ihr vorliegenden Befundunterlagen gestützt werde. Die vom Sachverständigen angeführten Befundunterlagen des Deutschen Herzzentrums hätten ihr nicht vorgelegen, so dass sie die Leistungsbeurteilung nicht habe nachvollziehen können. Eigene Belastungsuntersuchungen habe dieser Sachverständige nicht durchgeführt. Zudem habe die Ergometrie im Deutschen Herzzentrum angeblich eine Belastbarkeit bis 100 Watt ergeben. Schließlich ergebe sich auch nicht aus dem Entlassungsbericht vom Juli 2002, dass der Kläger mit einem untervollschichtigen Leistungsvermögen entlassen worden sei. Vielmehr sei eingeschätzt worden, dass der Kläger weiterhin vollschichtig einsetzbar gewesen sei, wenn auch arbeitsunfähig für den letzten Beruf des Strickers.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. Februar 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen. Der Senat hat den Beteiligten die dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B beigefügten Unterlagen, insbesondere einen Kurzarztbericht des Deutschen Herzzentrums Berlin vom 28. April 2005 und einen Lungenfunktionsausdruck vom 4. Mai 2005 der Charité B übersandt. Die Beklagte ist der Auffassung, dass sich aus diesen Befunden keine Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Klägers in zeitlicher Hinsicht ableiten ließe.

Beide Beteiligte haben mitgeteilt, dass sie mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten, die Gegenstand der Beratung gewesen sind, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem sich beide Beteiligte damit einverstanden erklärt haben (§§ 124 Abs. 2, § 153 Abs. 1 SGG).

Die zulässige (§§ 143, 144 Abs. 1 und 151 Abs. 1 SGG) Berufung der Beklagten erweist sich insoweit als begründet, als der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen ist.

Das Verfahren des Sozialgerichts leidet an einem wesentlichen Mangel, den die Beklagte auch zu Recht rügt. Das Sozialgericht hat den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör (§§ 62, 106, 107, 128 Abs. 2 SGG) verletzt. Denn es hat – trotz eines ausdrücklichen Hinweises der Beklagten – unterlassen, den Beteiligten die dem Gutachten des Sachverständigen B beigefügten Unterlagen, die dieser Sachverständige herangezogen und bei seiner Beurteilung verwertet hat, zur Kenntnis und ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu dem Gutachten unter Berücksichtigung dieser Unterlagen zu äußern (vgl. auch BSG, Urteil vom 25. Januar 2001 – B 4 RA 97/00 R –). Auf diesem Verfahrensmangel kann das Urteil des Sozialgerichts auch beruhen, denn es lässt sich nicht ausschließen, dass das Sozialgericht, hätte es diese Unterlagen der Beklagten übersandt, aufgrund deren Stellungnahme dazu den Sachverhalt als nicht geklärt angesehen und weitere Ermittlungen angestellt hätte oder zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre. Danach lässt der Senat dahingestellt, ob das Sozialgericht unter diesen Umständen den Sachverhalt als "geklärt" i.S.d. § 105 SGG ansehen und durch Gerichtsbescheid entscheiden durfte. Dagegen spricht immerhin der von der Beklagten begründet aufgezeigte weitere Aufklärungsbedarf, der durch deren Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid keineswegs entfallen war; der Sachverhalt ist – unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten – von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Satz 1 SGG). Zur vollständigen und richtigen Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ist aber die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter im Hinblick auf ihre Erfahrung und ihre Kontrollfunktion grundsätzlich unverzichtbar (BSG, Urteil vom 16. März 2006 – B 4 RA 59/04 R –). Dadurch, dass das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid und nicht durch Urteil – gegebenenfalls auch ohne mündliche Verhandlung – entschieden hat, hat es womöglich den Beteiligten den gesetzlichen Richter – nämlich die Kammer – vorenthalten.

Der Senat hält es für tunlich, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG), um den Beteiligten ihr Recht auf eine Entscheidung durch den gesetzlichen Richter der ersten Instanz zu erhalten. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass der Kläger seit dem 1. Juni 2005 Altersrente bezieht und vorher Leistungen bezogen hat, die jedenfalls bis zum 31. Dezember 2004 möglicherweise sogar höher waren als eine im Fall seines Obsiegens zu gewährende Rente wegen Erwerbsunfähigkeit; die durch die Zurückverweisung gegebenenfalls eintretende Verzögerung erscheint deshalb hinnehmbar.

Vor einer erneuten Entscheidung wird das Sozialgericht versuchen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Dazu wird es beiden Beteiligten Gelegenheit zu geben haben, sich zu den dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B beigefügten Unterlagen zu äußern – soweit noch nicht geschehen. Ferner könnte sich anbieten, inzwischen vorliegende weitere Befunde, insbesondere der erwähnten Koronarangiographie, sowie den inzwischen vermutlich vorliegenden endgültigen Bericht über die Ergometrie vom April 2005 beizuziehen und gegebenenfalls dazu und zu den Einwendungen der Beklagten eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B einzuholen. Bei einer erneuten Entscheidung wird das Sozialgericht auch eine Entscheidung über die Erstattung der für das Berufungsverfahren entstandenen Kosten zu treffen haben.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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