L 24 P 1000/05

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
24
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 P 317/96 W03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 24 P 1000/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juni 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Leistungen aus der Pflegeversicherung seiner 1918 geborenen und 1995 verstorbenen Mutter T D (Versicherte V. ), deren Alleinerbe er ist.

Die V. bezog als Witwe eines Wehrmachtssoldaten Leistungen der Kriegsopferfürsorge. Nach Auflösung der für sie zuständigen Kriegsopferfürsorge im Bezirksamt Neukölln wandte sich die V. im Januar 1995 an die Beklagte mit der Frage, wo Kriegsrentner nunmehr Geld für die häusliche Krankenbetreuung erhielten. Die Beklagte übersandte ihr ein Antragsformular für Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung. Der Antrag ging am 10. Februar 1995 bei der Beklagten ein. Beantragt wurde Pflegegeld für die V. durch den Kläger. Die Beklagte zog medizinische Unterlagen bei (Entlassungsbericht des U Krankenhauses vom 30. August 1994 und eine Mitteilung der ehemaligen Hausärztin Dr. K, wonach diese die V. nicht mehr behandeln könne, da sie keinen Einlass in die Wohnung erlange.

Am 12. Mai 1995 erhob die V. beim Verwaltungsgericht Berlin Untätigkeitsklage gegen die Beklagte. Das Verwaltungsgericht erklärte mit Beschluss vom 19. Juni 1995 den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig und verwies den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin (Aktenzeichen: S 76 P 317/96).

Mit Schreiben vom 14. Juni 1995 bat die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Berlin MDK um die kurzfristige Erstellung eines Gutachtens über die Pflegebedürftigkeit der V. Die Beklagte zog Unterlagen der Hauptfürsorgestelle Berlin bei, wonach nach zwei Fehlbesuchen die V. am 19. Januar 1995 geöffnet habe und in dem festgestellt wurde, dass mit Ausnahme der eigenen Körperpflege und des An- und Auskleidens, das alleine täglich bewältigt werde die V. hinsichtlich der Haushaltsführung auf eine umfassende Versorgung angewiesen sei. Am 11. August 1995 teilte der Kläger der Beklagten mit, seine Mutter sei gestürzt und schwer verletzt und befinde sich nunmehr seit 09. August 1995 auf der Intensivstation des U Krankenhauses. Am 21. August 1995 teilte der MDK mit, ihm sei bei zwei Besuchen am 09. Juni und am 15. Juni 1995 nicht geöffnet worden. Die Hausverwaltung habe mitgeteilt, dass die V. niemals die Tür öffne.

Nachdem die V. am 11. August 1995 verstorben war, beantragte der Kläger am 12. Oktober 1995 Pflegegeld an sich. Mit Bescheid vom 16. Oktober 1995 lehnte dies die Beklagte ab. Den vom Kläger eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 1996 zurück und begründete dies damit, dass nicht habe festgestellt werden können, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt gewesen seien und welche Pflegestufe vorgelegen habe.

Am 22. Juli 1996 ging beim Sozialgericht ein Schreiben des Klägers ein, in dem dieser mitteilte, die Sterbeurkunde sei fälschlicherweise ausgestellt worden. Die V. sei im August 1995 von der Polizei aus dem U Krankenhaus abgeholt und in ein Polizeikrankenhaus gebracht worden. Er habe nicht ermitteln können, wohin. Seine Mutter gelte für ihn als vorläufig verschollen.

Mit Verfügung vom 28. Mai 2000 behandelte das Sozialgericht das Verfahren S 76 P 317/96 nach seiner Aktenordnung für erledigt, da der Rechtsnachfolger das Verfahren nicht aufgenommen habe.

Am 03. Juli 2001 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Pflegegeld aus der Versicherung der V. ab 01. April 1995. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Juli 2001 ab und wies den Widerspruch des Klägers vom 07. August 2001 mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2004 zurück. In diesem legt sie erneut dar, dass zu Lebzeiten der V. nicht habe festgestellt werden können, dass die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit vorgelegen haben.

Bereits am 26. Juli 2001 hatte der Kläger Untätigkeitsklage erhoben und mit Schriftsatz vom 30. August 2001 den Erbschein des Amtsgerichts Neukölln beigebracht, der ihn als Alleinerben der V. ausweist.

Daraufhin nahm das Gericht das Verfahren S 76 P 317/96 wieder auf und hat mit Beschluss vom 31. März 2003 die Verfahren S 76 P 317/96 und S 75 P 457/01 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Dem Vorbringen des Klägers hat es den Antrag entnommen,

den Bescheid vom 24. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Leistungen der Pflegestufe II in Höhe von 921,00 EUR nebst 5 % Zinsen aus der Versicherung der V. für die Zeit vom 01. April 1995 bis 06. Februar 1997 zu zahlen.

Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich auf die angefochtenen Bescheide berufen.

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 16. Juni 2005 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Pflegegeldleistungen.

Für die Zeit nach dem Tode der V. ergebe sich dies bereits daraus, dass die Leistungspflicht der Beklagten sowohl für Sachleistungen als auch für Kostenerstattung mit dem Tode der Versicherten ende (§§ 35, 49 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Elftes Buch SGB XI ) und Pflegegeld nach § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB XI nur bis zum Ende des Kalendermonats geleistet werde, in dem der Pflegebedürftige gestorben sei. Pflegesachleistungen könnten gemäß § 36 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI für die Vergangenheit nicht mehr gewährt werden, da Sachleistungen für die Vergangenheit von ihrer Natur her unmöglich seien.

Es bestehe auch kein Anspruch auf Kostenerstattung und auf Zahlung von Pflegegeld, da die V. in der Zeit vom 01. April 1995 bis 31. August 1995 nicht pflegebedürftig im Sinne der §§ 14, 15 SGB XI gewesen sei. Die dort bezeichneten Voraussetzungen seien nicht nachgewiesen. Der Nachweis erfordere, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erhebliche Pflegebedürftigkeit vorgelegen habe. Davon habe sich die Kammer nicht überzeugen können. Aus den medizinischen Unterlagen ergäben sich keine konkreten Anhaltspunkte für den täglichen Hilfebedarf.

Dieser Gerichtsbescheid wurde am 20. Juni 2005 der Post zur Zustellung mit Postzustellungsurkunde übergeben. Diese konnte nicht erfolgen. Am 11. Juli 2005 ging ein Schreiben des Klägers beim Sozialgericht ein, in dem dieser "Beschwerde" gegen den Gerichtsbescheid vom 16. Juni 2005 erhob.

Das Sozialgericht gab dies an das Landessozialgericht weiter und machte dem Kläger hiervon unter dem 12. Juli 2005 Mitteilung. Am 18. Juli 2005 legte der Kläger zudem Berufung beim Landessozialgericht ein.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juni 2005 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 1996 sowie des Bescheides vom 24. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2004 zu verurteilen, dem Kläger aus der Versicherung der T D Leistungen der Pflegestufe II in Höhe von 921,00 EUR monatlich nebst 5 % Zinsen für die Zeit vom 01. April 1995 bis zum 31. August 1995 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Der Senat hat bei den behandelnden Ärzten der V. vor deren Tod, der Allgemeinpraktikerin Dr. K und dem Allgemeinmediziner P, nachgefragt, ob diese noch Unterlagen über die V. besitzen. Die Ärzte haben mitgeteilt, dass dies nicht der Fall sei und dass sie keine Angaben zum Gesundheitszustand der V. machen könnten.

Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Leistungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht Berlin hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Pflegegeld aus der Versicherung der V. für die Zeit vom 01. April 1995 bis 31. August 1995. Die hierfür nach dem SGB XI erforderlichen Voraussetzungen lassen sich bei der V. nicht mehr feststellen.

Nach § 36 Abs. 1 SGB XI haben Pflege Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung als Sachleistung (häusliche Pflegehilfe). Sie können nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Der Anspruch auf Pflegegeld setzt somit Pflegebedürftigkeit voraus. Die Pflegebedürftigkeit der V. in dem Umfang, den das Gesetz für Leistungen fordert, kann jedoch nicht festgestellt werden.

Gemäß § 14 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.

Nach § 14 Abs. 3 SGB XI besteht die Hilfe im Sinne des Abs. 1 in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen.

Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen in diesem Sinne sind gemäß § 14 Abs. 4 SGB XI:

1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung,

2 im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten für die Aufnahme der Nahrung,

3. im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen oder Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,

4. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.

Nach § 15 Abs. 1 SGB XI sind für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XI pflegebedürftige Personen im Sinne des § 14 SGB XI einer von drei gesetzlich näher umschriebenen Pflegestufen zuzuordnen. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI sind Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss nach § 19 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.

Diese Voraussetzungen waren im Fall der V. für den Zeitraum vom 01. April 1995 bis 31. August 1995 nicht festzustellen. Aus allen vorliegenden Unterlagen ergeben sich keinerlei Hinweise auf den Pflegebedarf. Eine Begutachtung durch den MDK konnte nicht durchgeführt werden. Die einzig verwertbare Unterlage ist der Vermerk der Hauptfürsorgestelle Berlin über den Hausbesuch am 19. Januar 1995, wonach die V. hinsichtlich der Haushaltsführung auf eine umfassende Versorgung angewiesen sei. Dort wird jedoch auch dargelegt, dass die V. die eigene Körperpflege selbst bewältige. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass die V. im Bereich der Grundpflege mehr als 45 Minuten täglich der Pflege bedurfte. Der Bericht des VKrankenhauses vom 08. August 1995 zeigt auf, dass die V. infolge ihres Diabetesleidens gestürzt war, multiple Verletzungen erlitten hatte und sich auf der Intensivstation befand, wo sie am 11. August 1995 verstarb. Auch daraus lässt sich für den Zustand der Klägerin vom 01. April 1995 bis zur Einlieferung in das Krankenhaus keine Aussage über die Pflegebedürftigkeit entnehmen. Die damals behandelnden Ärzte schließlich haben mitgeteilt, dass sie keine Angaben mehr über die Pflegebedürftigkeit der Klägerin machen könnten. Somit steht als Nachweis der Pflegebedürftigkeit der V. lediglich die Angabe des Klägers zur Verfügung. Diese allein kann jedoch nicht den gemachten Anspruch begründen, das Vorbringen der Beteiligten ist kein zulässiges Beweismittel, zumal auch die "Parteivernehmung" (§§ 447,448 ZPO) in § 118 SGG nicht in Bezug genommen ist.

Es gilt auch im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit der Grundsatz der objektiven Beweislast. Danach trifft der Nachteil der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts denjenigen Verfahrensbeteiligten, der aus der nichtfeststellbaren Tatsache rechtliche Vorteile herleitet. Zu beurteilen ist der Pflegebedarf im Zeitraum vom 01. April 1995 bis zum 08. August 1995 (Tag vor der Aufnahme im Krankenhaus). Dies ist naturgemäß nach Ablauf dieses Zeitraums schwierig und es ist daher im Wesentlichen von den zeitnah erhobenen Befunden und eventuell erstellten Gutachten auszugehen. Diesen sind jedoch keine Hinweise auf einen Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten täglich zu entnehmen. Somit ist nach den Regeln der objektiven Beweislast der Nachweis einer höheren Pflegebedürftigkeit nicht erbracht worden. Vielmehr stehen lediglich die Angaben des Klägers selbst zur Verfügung, mit denen der Nachweis der Pflegebedürftigkeit nicht zu erbringen ist.

Wenn davon ausgegangen wird, dass die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Intensivstation des U Krankenhauses vorgelegen haben, so war dies aus dem Akutereignis vorausschauend jedoch nicht für mindestens sechs Monate (§ 14 Abs. 1 SGB XI) der Fall. Die V. erhielt ab diesem Zeitraum auch nicht mehr Pflege durch den Kläger, sondern Krankenpflege aufgrund der stationären Unterbringung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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