Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 81 KR 1908/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 25/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Leistungsbezug nach dem SGB XII steht der freiwilligen Versicherung nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V nicht entgegen.
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2005 sowie der Bescheid vom 21. Dezember 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2005 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Klägerin seit dem 1. Januar 2005 ihr freiwillig versichertes Mitglied ist. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Klägerin ab 1. Januar 2005 durch Beitritt freiwilliges Mitglied der beklagten Krankenkasse geworden ist.
Die 1934 geborene Klägerin lebt seit 1995 als so genannter Kontingentflüchtling aus der Ukraine in B. Seitdem bezog sie - als nicht erwerbsfähig – laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz [BSHG] bzw. dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Grundsicherungsgesetz. Seit dem 1. Januar 2005 erhält sie Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch [SGB] Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe -.
Am 7. Dezember 2004 "beantragte" die Klägerin bei der Beklagten als der von ihr gewählten Krankenkasse für die Zeit ab 1. Januar 2005 die "Aufnahme" in die freiwillige Krankenversicherung gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 8 Sozialgesetzbuch [SGB] V. Der zuständige Träger der Sozialhilfe teilte mit, dass er zur Übernahme der Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung bereit sei.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 21. Dezember 2004 – bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 30. November 2005 – ab. Das zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Beitrittsrecht nach § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V bestehe nur für Personen, die in der Vergangenheit, d. h. vor dem 1. Januar 2005, für mindestens einen Monat ununterbrochen laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen hätten und davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert gewesen seien. Der Leistungsbezug müsse vor dem 1. Januar 2005 geendet haben. Das sei bei der Klägerin nicht der Fall, denn der Leistungsanspruch gegenüber dem Sozialhilfeträger bestehe über den 31. Dezember 2004 hinaus – lediglich auf einer anderen Rechtsgrundlage – fort. Solange Leistungen nach dem SGB XII bezogen würden, bestehe Anspruch auf umfassenden Schutz bei Krankheit durch die Betreuung im Rahmen des § 264 Abs. 2 SGB V.
Mit der Klage zum Sozialgericht [SG] Berlin machte die Klägerin geltend, die Vorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V lasse nicht erkennen, dass gegenwärtig kein Leistungsbezug bestehen dürfe. Der Rechtsstandpunkt der Beklagten führe dazu, dass sie – anders als ehemalige Leistungsbezieher nach dem BSHG, die ab 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II bezögen – weiterhin nicht gesetzlich kranken- und pflegeversichert sei.
Das SG sah die Klage als sinngemäß auf Feststellung, dass sie – die Klägerin – seit dem 1. Januar 2005 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten sei, gerichtet an und wies sie durch Gerichtsbescheid vom 20. Dezember 2005 ab. Es folgte der Rechtsauffassung der Beklagten. Sie erweise sich bereits nach dem Wortlaut der streitigen Vorschrift als zutreffend. Wäre bei der Beitrittsvoraussetzung " Personen, die in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz bezogen haben " die Betonung auf das Wort "Bundessozialhilfegesetz" zu legen (und wären damit Leistungen zum Lebensunterhalt oder ähnliche Leistungen über den 31. Dezember 2004 hinaus nach einem anderen Gesetz als dem BSHG, insbesondere dem SGB XII, unschädlich), wären die Worte "in der Vergangenheit" überflüssig, da das BSHG zum 1. Januar 2005 aufgehoben worden sei. Die Einfügung der Worte "in der Vergangenheit" ergebe nur dann einen Sinn, wenn sie zum Ausdruck bringen solle, dass nur demjenigen ein Recht, der Krankenversicherung als freiwilliges Mitglied beizutreten, eingeräumt werde, der seit dem 1. Januar 2005 keine Leistungen eines Sozialhilfeträgers mehr beziehe. Diese Auslegung entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers. Den Gesetzesmaterialien sei zu entnehmen, dass eine Gleichstellung mit Arbeitslosengeld II–Beziehern nur insoweit beabsichtigt gewesen sei, als es um die Zugangsmöglichkeit zur gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Leistungsende gehe.
Mit der Berufung hält die Klägerin an ihrem gegenteiligen Standpunkt fest und verweist auf ein diesen Standpunkt teilendes Urteil des SG Aachen vom 29. August 2005 – S 4 (6) KR 78/05 -.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2005 sowie den Bescheid vom 21. Dezember 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass sie seit dem 1. Januar 2005 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist darauf, dass das von der Klägerin in Bezug genommene Urteil des SG Aachen, dessen Entscheidungsgründe sie nicht teile, mit der Berufung angefochten worden sei (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – L 16 KR 172/05 -). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat mitgeteilt, dass das Berufungsverfahren durch Klagerücknahme im Termin erledigt worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akte des SG - S 81 KR 1908/05 -) und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet.
Die Klägerin ist seit dem 1. Januar 2005 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten, was die Beklagte durch Verwaltungsakt festzustellen hat (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts [BSG] vom 16. 11. 1995 – 4 RK 1/94 - = SozR 3 – 5405 Art. 59 Nr. 1).
Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V können der gesetzlichen Krankenversicherung innerhalb von 6 Monaten ab dem 1. Januar 2005 Personen beitreten, die in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen haben und davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert waren. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin. Sie hat den Beitritt zum 1. Januar 2005 schon vor Fristbeginn erklärt. Sie hat in der Vergangenheit, nämlich in der Zeit ab 1995 bis jedenfalls zum Inkrafttreten des Grundsicherungsgesetzes zum 1. Januar 2003 laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen und war davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert.
Entgegen der im angefochtenen Urteil in Bestätigung des Standpunktes der Beklagten vertretenden Auffassung steht der Mitgliedschaft bei der Beklagten nicht entgegen, dass die Klägerin seit dem 1. Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII erhält. Dies lässt sich weder dem Wortlaut des Gesetzes noch den Gesetzesmaterialien entnehmen.
Das Argument des SG, die negative Voraussetzung, dass über den 31. Dezember 2004 keine Leistungen zum Lebensunterhalt oder ähnliche Leistungen mehr bezogen werden dürfen, entspreche deshalb dem Wortlaut des Gesetzes, weil anderenfalls die Worte "in der Vergangenheit" überflüssig wären, überzeugt nicht. Selbst wenn diese Worte entbehrlich wären, so haben sie doch jedenfalls verdeutlichende, klarstellende Funktion. Sie sind als Hinweis darauf zu verstehen, dass es sich um einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Tatbestand handelt. Im gleichen Sinne ist auch in den Gesetzesmaterialien von ehemaligen Beziehern von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG die Rede (Bundestags-Drucksache 15/1749 S. 36). Im Übrigen ist dem – relativ unbestimmten – Passus "in der Vergangenheit" zu entnehmen, dass es nicht auf einen entsprechenden Leistungsbezug bis unmittelbar vor dem 1. Januar 2005 ankommt, eine zwischenzeitliche Leistungsgewährung insbesondere nach dem Grundsicherungsgesetz – wie im vorliegenden Fall – also unschädlich ist. Schließlich ist nicht zu verkennen, dass Leistungen insbesondere nach dem SGB XII eben keine Leistungen nach dem BSHG sondern nach einem anderen Leistungsgesetz sind (vgl. BSG, Urteil vom 21. 9. 2005 – B 12 P 6/04 R -, Rz 13 nach juris = SozR 4 – 3300 § 26 a Nr. 2) und nicht ohne Not angenommen werden kann, dem Passus "nach dem Bundessozialhilfegesetz" in § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V komme keine Bedeutung zu.
Auch den Gesetzesmaterialien lässt sich nicht entnehmen, dass die Vorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V im Sinne des angefochtenen Urteils einschränkend auszulegen ist. Der darin zum Ausdruck kommende Gesetzeszweck der krankenversicherungsrechtlichen Gleichstellung ehemaliger Bezieher von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG (Bundestags-Drucksache aaO) spricht eher gegen diese Einschränkung. Bis zum 31. Dezember 2004 hatten Sozialhilfebezieher, sofern sie nicht über Vorversicherungszeiten für eine freiwillige Versicherung in der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung verfügten, keinen Zugang zur freiwilligen Krankenversicherung. Ab dem 1. Januar 2005 erhalten indes ehemalige Leistungsbezieher nach dem BSHG, die erwerbsfähig sind, Arbeitslosengeld II und sind aufgrund des Bezuges dieser Leistung Pflichtmitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung. Darüber hinaus können sie die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung in der Regel bei Aufnahme einer versicherungsfreien Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit fortsetzen. Die Gleichstellung mit diesen Personen - so heißt es in der Gesetzesbegründung – erscheine geboten. Diesem Postulat wird aber am ehesten bei Zugrundelegung des Regelfalles Rechnung getragen, dass ehemalige Bezieher von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG ab dem 1. Januar 2005 entweder - bei Erwerbsfähigkeit - Arbeitslosengeld II oder aber – wenn sie nicht mehr erwerbsfähig sind oder das 65. Lebensjahr vollendet haben – Leistungen nach dem SGB XII beziehen. Dass ehemalige Leistungsbezieher nach dem BSHG schon vor dem 31. Dezember 2004 oder zum 1. Januar 2005 aus dem Leistungsbezug unversichert ausgeschieden sind, wird eher die Ausnahme darstellen. Geht es aber darum, die "Altfälle" der ehemaligen Leistungsbezieher nach dem BSHG so wie sie – ohne Vorversicherung – krankenversicherungsrechtlich bis zum 31. Dezember 2004 gleichstanden (nämlich nicht krankenversichert waren) auch ab dem 1. Januar 2005 krankenversicherungsrechtlich gleichzustellen, verlangt dies eine Gleichstellung schon während des Leistungsbezuges und nicht erst nach dem Ausscheiden aus dem Leistungsbezug, zumal sie dann wegen der engen Befristung des Beitrittsrechts nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V weithin nicht mehr realisierbar gewesen wäre. Wer am 2. Juli 2005 wegen Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit aus dem Leistungsbezug nach dem SGB XII ausgeschieden wäre, hätte wegen Versäumung der Ausschlussfrist keine Möglichkeit mehr gehabt, das Beitrittsrecht auszuüben.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, nach der Gesetzesbegründung sei das Beitrittsrecht nach Nr. 8 nur einem "engen begrenzten Personenkreis" vorbehalten. Auch unter Einschluss der Leistungsbezieher nach dem SGB XII handelt es sich nur um einen eng begrenzten Personenkreis, der von dem neuen Beitrittsrecht profitiert. Nicht dazu gehören alle gesetzlich oder privat vorversicherten Leistungsbezieher, alle, die die Sechs-Monats-Frist zum Beitritt nicht einhalten bzw. die das Beitrittsrecht nicht in Anspruch nehmen, weil ihr Sozialhilfeträger von seinem Ermessen nach § 32 Abs. 2 SGB XII, die Beiträge zu übernehmen, keinen Gebrauch macht.
Schließlich steht der Annahme eines Beitrittsrechts auch für Leistungsbezieher nach dem SGB XII nicht entgegen, dass diese durch die Regelung des § 264 Abs. 2 SGB V für den Krankheitsfall ausreichend abgesichert sind. Denn dieser Krankenschutz ist kein Versicherungsschutz und verhilft bei Ausscheiden aus dem Leistungsbezug nach dem 30. Juni 2005 zu keinem Beitrittsrecht zur Krankenversicherung.
Angesichts all dessen können weder der Umstand, dass Anlass für die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V die Petition eines Selbständigen, der zuvor Sozialhilfe bezogen hatte, war und der die Möglichkeit eingeräumt haben wollte, der gesetzlichen Krankenversicherung beizutreten, noch Erwägungen über den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers im Hinblick auf das GKV-Modernisierungsgesetz [GMG] (vgl. insoweit Urteile des Landessozialgerichts [LSG] Berlin-Brandenburg vom 28. 3. 2006 – L 24 KR 1057/05 – [Revisions-Aktenzeichen: B 12 KR 29/06 R] und des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. 4. 2006 – L 11 KR 8/06 – [Revisions-Aktenzeichen: B 12 KR 25/06 R] )– letztlich entgegen dem Gesetzeswortlaut - dazu führen, Sozialhilfebezieher nach dem SGB XII vom Beitrittsrecht nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V auszuschließen. Der Senat schließt sich damit – entgegen den vorgenannten obergerichtlichen Entscheidungen – der Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg in seinen Urteilen vom 11. 4. 2006 – L 11 KR 714/06 – [Revisions-Aktenzeichen: B 12 KR 21/06 R] und vom 11. 7. 2006 – L 11 KR 2771/06 – [Revisions-Aktenzeichen: B 12 KR 32/06 R] an.
Aus der freiwilligen Mitgliedschaft bei der Beklagten folgt ohne weiteres die Versicherungspflicht der Klägerin in der sozialen Pflegeversicherung (§ 20 Abs. 3 SGB XI).
Die Kostenentscheidung nach § 193 Sozialgerichtsgesetz [SGG] entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs. 2 Satz 1 SGG zugelassen. Die grundsätzliche Bedeutung folgt aus der Vielzahl der parallelen Antrags- bzw. Widerspruchsverfahren bei den Versicherungsträgern.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Klägerin ab 1. Januar 2005 durch Beitritt freiwilliges Mitglied der beklagten Krankenkasse geworden ist.
Die 1934 geborene Klägerin lebt seit 1995 als so genannter Kontingentflüchtling aus der Ukraine in B. Seitdem bezog sie - als nicht erwerbsfähig – laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz [BSHG] bzw. dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Grundsicherungsgesetz. Seit dem 1. Januar 2005 erhält sie Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch [SGB] Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe -.
Am 7. Dezember 2004 "beantragte" die Klägerin bei der Beklagten als der von ihr gewählten Krankenkasse für die Zeit ab 1. Januar 2005 die "Aufnahme" in die freiwillige Krankenversicherung gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 8 Sozialgesetzbuch [SGB] V. Der zuständige Träger der Sozialhilfe teilte mit, dass er zur Übernahme der Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung bereit sei.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 21. Dezember 2004 – bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 30. November 2005 – ab. Das zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Beitrittsrecht nach § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V bestehe nur für Personen, die in der Vergangenheit, d. h. vor dem 1. Januar 2005, für mindestens einen Monat ununterbrochen laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen hätten und davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert gewesen seien. Der Leistungsbezug müsse vor dem 1. Januar 2005 geendet haben. Das sei bei der Klägerin nicht der Fall, denn der Leistungsanspruch gegenüber dem Sozialhilfeträger bestehe über den 31. Dezember 2004 hinaus – lediglich auf einer anderen Rechtsgrundlage – fort. Solange Leistungen nach dem SGB XII bezogen würden, bestehe Anspruch auf umfassenden Schutz bei Krankheit durch die Betreuung im Rahmen des § 264 Abs. 2 SGB V.
Mit der Klage zum Sozialgericht [SG] Berlin machte die Klägerin geltend, die Vorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V lasse nicht erkennen, dass gegenwärtig kein Leistungsbezug bestehen dürfe. Der Rechtsstandpunkt der Beklagten führe dazu, dass sie – anders als ehemalige Leistungsbezieher nach dem BSHG, die ab 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II bezögen – weiterhin nicht gesetzlich kranken- und pflegeversichert sei.
Das SG sah die Klage als sinngemäß auf Feststellung, dass sie – die Klägerin – seit dem 1. Januar 2005 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten sei, gerichtet an und wies sie durch Gerichtsbescheid vom 20. Dezember 2005 ab. Es folgte der Rechtsauffassung der Beklagten. Sie erweise sich bereits nach dem Wortlaut der streitigen Vorschrift als zutreffend. Wäre bei der Beitrittsvoraussetzung " Personen, die in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz bezogen haben " die Betonung auf das Wort "Bundessozialhilfegesetz" zu legen (und wären damit Leistungen zum Lebensunterhalt oder ähnliche Leistungen über den 31. Dezember 2004 hinaus nach einem anderen Gesetz als dem BSHG, insbesondere dem SGB XII, unschädlich), wären die Worte "in der Vergangenheit" überflüssig, da das BSHG zum 1. Januar 2005 aufgehoben worden sei. Die Einfügung der Worte "in der Vergangenheit" ergebe nur dann einen Sinn, wenn sie zum Ausdruck bringen solle, dass nur demjenigen ein Recht, der Krankenversicherung als freiwilliges Mitglied beizutreten, eingeräumt werde, der seit dem 1. Januar 2005 keine Leistungen eines Sozialhilfeträgers mehr beziehe. Diese Auslegung entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers. Den Gesetzesmaterialien sei zu entnehmen, dass eine Gleichstellung mit Arbeitslosengeld II–Beziehern nur insoweit beabsichtigt gewesen sei, als es um die Zugangsmöglichkeit zur gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Leistungsende gehe.
Mit der Berufung hält die Klägerin an ihrem gegenteiligen Standpunkt fest und verweist auf ein diesen Standpunkt teilendes Urteil des SG Aachen vom 29. August 2005 – S 4 (6) KR 78/05 -.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2005 sowie den Bescheid vom 21. Dezember 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass sie seit dem 1. Januar 2005 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist darauf, dass das von der Klägerin in Bezug genommene Urteil des SG Aachen, dessen Entscheidungsgründe sie nicht teile, mit der Berufung angefochten worden sei (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – L 16 KR 172/05 -). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat mitgeteilt, dass das Berufungsverfahren durch Klagerücknahme im Termin erledigt worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akte des SG - S 81 KR 1908/05 -) und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet.
Die Klägerin ist seit dem 1. Januar 2005 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten, was die Beklagte durch Verwaltungsakt festzustellen hat (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts [BSG] vom 16. 11. 1995 – 4 RK 1/94 - = SozR 3 – 5405 Art. 59 Nr. 1).
Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V können der gesetzlichen Krankenversicherung innerhalb von 6 Monaten ab dem 1. Januar 2005 Personen beitreten, die in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen haben und davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert waren. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin. Sie hat den Beitritt zum 1. Januar 2005 schon vor Fristbeginn erklärt. Sie hat in der Vergangenheit, nämlich in der Zeit ab 1995 bis jedenfalls zum Inkrafttreten des Grundsicherungsgesetzes zum 1. Januar 2003 laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen und war davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert.
Entgegen der im angefochtenen Urteil in Bestätigung des Standpunktes der Beklagten vertretenden Auffassung steht der Mitgliedschaft bei der Beklagten nicht entgegen, dass die Klägerin seit dem 1. Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII erhält. Dies lässt sich weder dem Wortlaut des Gesetzes noch den Gesetzesmaterialien entnehmen.
Das Argument des SG, die negative Voraussetzung, dass über den 31. Dezember 2004 keine Leistungen zum Lebensunterhalt oder ähnliche Leistungen mehr bezogen werden dürfen, entspreche deshalb dem Wortlaut des Gesetzes, weil anderenfalls die Worte "in der Vergangenheit" überflüssig wären, überzeugt nicht. Selbst wenn diese Worte entbehrlich wären, so haben sie doch jedenfalls verdeutlichende, klarstellende Funktion. Sie sind als Hinweis darauf zu verstehen, dass es sich um einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Tatbestand handelt. Im gleichen Sinne ist auch in den Gesetzesmaterialien von ehemaligen Beziehern von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG die Rede (Bundestags-Drucksache 15/1749 S. 36). Im Übrigen ist dem – relativ unbestimmten – Passus "in der Vergangenheit" zu entnehmen, dass es nicht auf einen entsprechenden Leistungsbezug bis unmittelbar vor dem 1. Januar 2005 ankommt, eine zwischenzeitliche Leistungsgewährung insbesondere nach dem Grundsicherungsgesetz – wie im vorliegenden Fall – also unschädlich ist. Schließlich ist nicht zu verkennen, dass Leistungen insbesondere nach dem SGB XII eben keine Leistungen nach dem BSHG sondern nach einem anderen Leistungsgesetz sind (vgl. BSG, Urteil vom 21. 9. 2005 – B 12 P 6/04 R -, Rz 13 nach juris = SozR 4 – 3300 § 26 a Nr. 2) und nicht ohne Not angenommen werden kann, dem Passus "nach dem Bundessozialhilfegesetz" in § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V komme keine Bedeutung zu.
Auch den Gesetzesmaterialien lässt sich nicht entnehmen, dass die Vorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V im Sinne des angefochtenen Urteils einschränkend auszulegen ist. Der darin zum Ausdruck kommende Gesetzeszweck der krankenversicherungsrechtlichen Gleichstellung ehemaliger Bezieher von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG (Bundestags-Drucksache aaO) spricht eher gegen diese Einschränkung. Bis zum 31. Dezember 2004 hatten Sozialhilfebezieher, sofern sie nicht über Vorversicherungszeiten für eine freiwillige Versicherung in der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung verfügten, keinen Zugang zur freiwilligen Krankenversicherung. Ab dem 1. Januar 2005 erhalten indes ehemalige Leistungsbezieher nach dem BSHG, die erwerbsfähig sind, Arbeitslosengeld II und sind aufgrund des Bezuges dieser Leistung Pflichtmitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung. Darüber hinaus können sie die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung in der Regel bei Aufnahme einer versicherungsfreien Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit fortsetzen. Die Gleichstellung mit diesen Personen - so heißt es in der Gesetzesbegründung – erscheine geboten. Diesem Postulat wird aber am ehesten bei Zugrundelegung des Regelfalles Rechnung getragen, dass ehemalige Bezieher von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG ab dem 1. Januar 2005 entweder - bei Erwerbsfähigkeit - Arbeitslosengeld II oder aber – wenn sie nicht mehr erwerbsfähig sind oder das 65. Lebensjahr vollendet haben – Leistungen nach dem SGB XII beziehen. Dass ehemalige Leistungsbezieher nach dem BSHG schon vor dem 31. Dezember 2004 oder zum 1. Januar 2005 aus dem Leistungsbezug unversichert ausgeschieden sind, wird eher die Ausnahme darstellen. Geht es aber darum, die "Altfälle" der ehemaligen Leistungsbezieher nach dem BSHG so wie sie – ohne Vorversicherung – krankenversicherungsrechtlich bis zum 31. Dezember 2004 gleichstanden (nämlich nicht krankenversichert waren) auch ab dem 1. Januar 2005 krankenversicherungsrechtlich gleichzustellen, verlangt dies eine Gleichstellung schon während des Leistungsbezuges und nicht erst nach dem Ausscheiden aus dem Leistungsbezug, zumal sie dann wegen der engen Befristung des Beitrittsrechts nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V weithin nicht mehr realisierbar gewesen wäre. Wer am 2. Juli 2005 wegen Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit aus dem Leistungsbezug nach dem SGB XII ausgeschieden wäre, hätte wegen Versäumung der Ausschlussfrist keine Möglichkeit mehr gehabt, das Beitrittsrecht auszuüben.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, nach der Gesetzesbegründung sei das Beitrittsrecht nach Nr. 8 nur einem "engen begrenzten Personenkreis" vorbehalten. Auch unter Einschluss der Leistungsbezieher nach dem SGB XII handelt es sich nur um einen eng begrenzten Personenkreis, der von dem neuen Beitrittsrecht profitiert. Nicht dazu gehören alle gesetzlich oder privat vorversicherten Leistungsbezieher, alle, die die Sechs-Monats-Frist zum Beitritt nicht einhalten bzw. die das Beitrittsrecht nicht in Anspruch nehmen, weil ihr Sozialhilfeträger von seinem Ermessen nach § 32 Abs. 2 SGB XII, die Beiträge zu übernehmen, keinen Gebrauch macht.
Schließlich steht der Annahme eines Beitrittsrechts auch für Leistungsbezieher nach dem SGB XII nicht entgegen, dass diese durch die Regelung des § 264 Abs. 2 SGB V für den Krankheitsfall ausreichend abgesichert sind. Denn dieser Krankenschutz ist kein Versicherungsschutz und verhilft bei Ausscheiden aus dem Leistungsbezug nach dem 30. Juni 2005 zu keinem Beitrittsrecht zur Krankenversicherung.
Angesichts all dessen können weder der Umstand, dass Anlass für die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V die Petition eines Selbständigen, der zuvor Sozialhilfe bezogen hatte, war und der die Möglichkeit eingeräumt haben wollte, der gesetzlichen Krankenversicherung beizutreten, noch Erwägungen über den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers im Hinblick auf das GKV-Modernisierungsgesetz [GMG] (vgl. insoweit Urteile des Landessozialgerichts [LSG] Berlin-Brandenburg vom 28. 3. 2006 – L 24 KR 1057/05 – [Revisions-Aktenzeichen: B 12 KR 29/06 R] und des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. 4. 2006 – L 11 KR 8/06 – [Revisions-Aktenzeichen: B 12 KR 25/06 R] )– letztlich entgegen dem Gesetzeswortlaut - dazu führen, Sozialhilfebezieher nach dem SGB XII vom Beitrittsrecht nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V auszuschließen. Der Senat schließt sich damit – entgegen den vorgenannten obergerichtlichen Entscheidungen – der Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg in seinen Urteilen vom 11. 4. 2006 – L 11 KR 714/06 – [Revisions-Aktenzeichen: B 12 KR 21/06 R] und vom 11. 7. 2006 – L 11 KR 2771/06 – [Revisions-Aktenzeichen: B 12 KR 32/06 R] an.
Aus der freiwilligen Mitgliedschaft bei der Beklagten folgt ohne weiteres die Versicherungspflicht der Klägerin in der sozialen Pflegeversicherung (§ 20 Abs. 3 SGB XI).
Die Kostenentscheidung nach § 193 Sozialgerichtsgesetz [SGG] entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs. 2 Satz 1 SGG zugelassen. Die grundsätzliche Bedeutung folgt aus der Vielzahl der parallelen Antrags- bzw. Widerspruchsverfahren bei den Versicherungsträgern.
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