L 2 U 75/05

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 25 U 121/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 75/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. März 2005 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Witwenrente.

Die 1953 geborene Klägerin ist die Witwe des 2002 verstorbenen RS (S). Bei dem 1948 geborenen S war 1993 u.a. ein Bronchialkarzinom im rechten Lungenunterlappen festgestellt und eine Unterlappenresektion rechts sowie eine radikale Lymphadenektomie durchgeführt worden.

Mit Bescheid vom 13. März 1996 erkannte die Beklagte eine Berufskrankheit nach Nr. 4104 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung an und gewährte S eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v.H. Bei einer im April 1996 durchgeführten Herniotomie kam es zu einem Kreislaufstillstand mit Reanimation, in dessen Folge S an einem hirnorganischen Psychosyndrom litt. Bis zum 29. Dezember 1996 stand S unter befristeter vorläufiger Betreuung durch eine Betreuerin.

Seit August 1985 lebte S bei der Klägerin, mit der nach ihren Angaben seit 1979 eine nichteheliche Partnerschaft bestand. Am 18. Oktober 2002 schlossen S und die Klägerin die Ehe. Vom 23. Oktober 2002 an wurde S zur Durchführung einer Strahlentherapie stationär im Krankenhaus N behandelt, in deren Verlauf er an einer Lungenentzündung verstarb.

Mit Bescheid vom 9. Januar 2003 lehnte die Beklagte die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab. S sei bereits im ersten Ehejahr verstorben. Nach § 65 Abs. 6 Sozialgesetzbuch (SGB) VII hätten Witwen keinen Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen, wenn die Ehe erst nach dem Versicherungsfall (hier: 18. März 1993) geschlossen worden sei und der Tod des Versicherten innerhalb des ersten Ehejahres eingetreten sei. Es werde dann eine Versorgungsehe vermutet. Die gesamten Umstände ergäben keine Hinweise darauf, dass die gesetzliche Vermutung des § 65 Abs. 6 SGB VII widerlegt sei.

Den dagegen eingelegten Widerspruch, mit dem die Klägerin geltend machte, zum Zeitpunkt des Entschlusses zu heiraten, habe keiner ahnen können, dass es eine kurze Ehe sei, wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 31. März 2003 zurück. Die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe sei nur dann widerlegt, wenn die Abwägung aller zur Eheschließung führenden Motive beider Ehegatten ergebe, dass es nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat gewesen sei, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen. Aufgrund der durch Dres. H und F bei den Untersuchungen am 24. Mai 2002, 1. August 2002 und 14. Oktober 2002 gestellten Diagnose – Karzinom der Luftröhre – müsse davon ausgegangen werden, dass der Klägerin zum Zeitpunkt der Eheschließung die gesundheitliche Situation des S bekannt gewesen sei. Die Eheschließung kurz vor der stationären Behandlung ab 23. Oktober 2002 spreche eher für als gegen die Vermutung, dass die Eheschließung den Zweck verfolgt habe, der Klägerin eine Versorgung zu verschaffen.

Mit der dagegen vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, infolge einer stationären Behandlung des S im Jahr 2001, bei der sie – wie schon zuvor- keinerlei Informationen erhalten habe und wegen der Behandlungsmethoden nicht habe mitsprechen können, hätten sie sich beide entschlossen, nunmehr die Ehe einzugehen, zumal seitens der Ärzte angedeutet worden sei, den Antrag zu stellen, S in einem Pflegeheim unterzubringen. Im September 2002 hätten sie das Aufgebot bestellen wollen, aber erst einen Termin für den 9. Oktober 2002 erhalten. Die Einweisung in das Krankenhaus sei erst nach Bestellung des Aufgebotes erforderlich geworden. Bei der Bestrahlung habe sich der betreffende Knoten verkleinert. S sei nicht an dem Tumor, sondern an einer Lungenentzündung gestorben.

Die Beklagte hat eine Auskunft des behandelnden Arztes Dr. H vom 11. November 2003 eingeholt und Arztbriefe des Krankenhauses N u.a. über einen Aufenthalt vom 29. Oktober bis 17. November 2001 sowie Berichte der Tumorkonferenz vom 5. November 2001 und vom 10. September 2002 vorgelegt und darauf verwiesen, dass bereits im Mai 2002 eine deutliche Befundverschlechterung mit einem Ei-großen Rundherd im linken Mittelgeschoss eingetreten sei. Im weiteren Verlauf habe sich der Befund zunehmend verschlechtert, so dass am 1. August 2002 die Beschwerdesymptomatik durch Atemnot und blutigen Auswurf charakterisiert gewesen sei. Die Klägerin sei über den gesamten Verlauf und den Befund unterrichtet gewesen. Für die angegebene fehlende Information der Klägerin und eine drohende Unterbringung des S in einem Pflegeheim ergäben sich anhand der eingeholten Informationen keine Hinweise.

Das Sozialgericht hat Kopien der S betreffenden chronologischen Computereinträge von Dr. H aus der Zeit von Januar 1994 bis zum Tod zur Akte genommen und die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 10. März 2005 zu vorherigen Heiratsplänen befragt.

Durch Urteil vom 10. März 2005 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 9. Januar 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2003 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Witwenrente zu gewähren. Nach § 63 Abs. 1 S.1 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 1 S. 2 SGB VII hätten Hinterbliebene Anspruch auf eine Rente, wenn der Tod infolge eines Versicherungsfalles eingetreten sei. S sei an den Folgen des mit Bescheid vom 13. März 1996 anerkannten Versicherungsfalles der Berufskrankheit Nr. 4104 gestorben. Die gesetzliche Vermutung des § 65 Abs. 6 SGB VII sei widerlegt. Allerdings sei die Klägerin über den Verlauf der Erkrankung des S und die Befundverschlechterung im Jahr 2002 umfassend unterrichtet gewesen. Auch widerlege der Bestand einer langjährigen Lebensgemeinschaft nicht die Vermutung einer Versorgungsehe, weil nach heutigem gesellschaftlichen Verständnis die nichteheliche Lebensgemeinschaft eine eigenständige Form des Zusammenlebens und keine Vorstufe der Ehe sei. Gegen eine Versorgungsehe sprächen jedoch die von der Klägerin mitgeteilten Motive der Eheschließung. Sie habe glaubhaft gemacht, dass sie durch die Eheschließung die weitere Pflege des S im häuslichen Bereich habe sichern wollen und Informationsrechte hinsichtlich der Erkrankung ihres Partners und Mitspracherechte bei der Behandlung habe erhalten wollen. Auch wenn die Klägerin faktisch vollständig über die Erkrankung informiert gewesen sei, habe sich ihre rechtliche Stellung hinsichtlich der Informations- und Mitspracherechte durch die Eheschließung verbessert. Es sei nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat gewesen, der Klägerin eine Versorgung zu verschaffen.

Mit ihrer Berufung macht die Beklagte geltend, dass die besonderen Umstände des Einzelfalles für das Vorliegen einer Versorgungsehe sprächen. Da die Klägerin S bereits jahrelang intensiv gepflegt habe, sei nicht nachzuvollziehen, warum die Ehe zur Sicherung der weiteren Pflege im häuslichen Bereich hätte geschlossen werden sollen. Auch sei eine beabsichtigte Verbesserung der Mitspracherechte nicht nachvollziehbar, weil die Klägerin voll umfänglich über die Befunde unterrichtet gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. März 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und darauf verwiesen, dass die Strahlentherapie im Oktober 2002 nicht durchgeführt worden wäre, wenn mit einem schnellen Ableben des S gerechnet worden wäre.

Der Senat hat eine Auskunft von Dr. H vom 16. November 2006 eingeholt, der angegeben hat, er habe ab Ende 2001 bei den Gesprächen mit der Klägerin keinen Zweifel daran gelassen, dass ein Wiederauftreten der lebensbedrohenden bösartigen Krankheit vorliege. Es sei jedoch bei der Entwicklung der Krankheit über mehrere Jahre natürlich offen gewesen, wie begrenzt die Lebenserwartung gewesen sei. Selbst bei einem Tumor in der Luftröhre bestünden durch Kleinraumbestrahlung und eventuell Einlage eines Stents noch lebensverlängernde Möglichkeiten.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt verwiesen. Die S betreffende Verwaltungsakten der Beklagten lagen dem Gericht vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist begründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente, da ihr Anspruch nach § 65 Abs. 6 SGB VII ausgeschlossen ist. Danach haben Witwen und Witwer keinen Anspruch, wenn die Ehe erst nach dem Versicherungsfall geschlossen worden ist und der Tod innerhalb des ersten Jahres dieser Ehe eingetreten ist, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Einzelfalles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Die Vorschrift begründet mithin die gesetzliche Vermutung, dass bei Tod des Versicherten innerhalb eines Jahres nach der Eheschließung die Erlangung einer Versorgung Ziel der Eheschließung war. Die Vermutung ist allerdings durch besondere Umstände des Einzelfalles widerlegbar, die die Annahme einer Versorgungsehe nicht rechtfertigen. Dabei sind vor allem solche Umstände von Bedeutung, die auf einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund schließen lassen. Es muss eine Gesamtabwägung der Motive erfolgen, weil die Vermutung nur dann als widerlegt angesehen werden kann, wenn die Versorgungsabsicht, insgesamt betrachtet, nicht überwiegt (vgl. BSGE 35, 272). Die Widerlegung der Rechtsvermutung erfordert nach §§ 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG), 292 Zivilprozessordnung den vollen Beweis des Gegenteils (vgl. BSGE SozR 3100 § 38 Nr. 5).

Dieser Beweis konnte vorliegend nicht geführt werde. Die Klägerin hat seit 1985 mit S in einer gemeinsamen Wohnung gelebt und ihn seit 1996 gepflegt. Die Heirat am 18. Oktober 2002 erfolgte zum Zweck der Versorgung der Klägerin, denn ein anderer Grund für die Eheschließung zu diesem Zeitpunkt ist gerade im Hinblick auf die lange Bekanntschaft und das bereits langjährig bestehende eheähnliche Zusammenleben nicht ersichtlich. Auch die konkreten Umstände der Eheschließung sprechen für eine Versorgungsehe. Die Heirat erfolgte erst, nachdem bei S im Laufe des Jahres 2002 eine Verschlimmerung der Krebserkrankung festgestellt worden war.

Ein anderes Motiv ist nicht mit der erforderlichen Gewissheit zu erkennen. Die Eheschließung stellt sich insbesondere nicht als Verwirklichung einer schon vor Bekanntwerden der Verschlimmerung der Erkrankung gefassten Heiratsabsicht dar. Zwar hat die Klägerin vorgetragen, es sei immer wieder beabsichtigt gewesen, zu heiraten, jedoch keine Gründe angegeben, die einer vorherigen Eheschließung, etwa in unmittelbarer Folge zum vorherigen Krankenhausaufenthalt im Jahr 2001, als sie nach ihren Angaben nicht umfassend informiert wurde, entgegengestanden hätten. Die Klägerin hat sich vielmehr erst im August 2002 um die zur Eheschließung erforderlichen Unterlagen gekümmert.

Die gesetzliche Vermutung wird auch nicht dadurch widerlegt, dass keine Anhaltspunkte für ein vorzeitiges Ableben des S bestanden hätten. Denn die Klägerin war seit dem am 4. Dezember 2001 mit Dr. H geführten Gespräch über den verschlechterten Gesundheitszustand des S informiert. In diesem Gespräch war den Aufzeichnungen des Arztes zufolge über die Prognose und eventuelle palliative Maßnahmen einschließlich einer Kleinraumbestrahlung der Trachea gesprochen worden. Dass nach der Auskunft des Arztes vom 16. November 2006 zu diesem Zeitpunkt offen war, wie begrenzt die Lebenserwartung des S sein könnte, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Anspruchsausschluss erfordert nämlich nicht den Nachweis, dass die Eheschließenden eine positive Kenntnis von einem zu erwartenden baldigen Tod hatten, sondern die gesetzliche Vermutung ist lediglich dann, wenn der Tod unvermittelt eintritt, widerlegt. Hierfür ergibt sich aber auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass S nicht an den Folgen des Tumors in der Luftröhre gestorben ist, sondern an einer Lungenentzündung, kein Anhalt. Denn die Lungenentzündung war nach Auskunft des behandelnden Arztes eine Folge der Bestrahlung.

Die von der Klägerin geltend gemachten Motive für die Eheschließung, weitergehende Informationsrechte und eine Mitsprache hinsichtlich der Behandlung zu erhalten, konnte der Senat nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen. Derartige Motive wären dann für die im Oktober 2002 erfolgte Eheschließung nachvollziehbar, wenn die Klägerin aufgrund der erneut erforderlich werdenden Krankenhausbehandlung hätte befürchten müssen, nicht informiert zu werden. Dieser Annahme steht jedoch entgegen, dass der Klägerin von dem Krankenhaus in der Vergangenheit Röntgenbilder ausgehändigt worden waren, damit sie diese am 4. Dezember 2001 mit Dr. H besprechen konnte. Auch ist dem Bericht über die Tumorkonferenz vom 10. September 2002 zu entnehmen, dass die Vorstellung gerade auf Drängen der Klägerin erfolgte und die Befunde mit S und ihr besprochen wurden.

Nach alledem hatte die Berufung der Beklagten Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
Saved