L 2 U 46/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 67 U 885/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 46/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juni 2003 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über eine rückwirkende Erhöhung von Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung.

Die Klägerin, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, betreibt ein Taxiunternehmen und ist als solches Mitglied der Beklagten. Für die Jahre 1994 bis 1997 wurden die von der Klägerin zu entrichtenden Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung von der Beklagten zunächst auf der Grundlage der von der Klägerin eingereichten Lohnnachweise festgesetzt und erhoben. Dabei trug die Klägerin erzielte Entgelte in den in den Akten befindlichen Lohnnachweisen für die Jahre 1994 und 1996 jeweils in einen Vordruck unter der Rubrik "Lohnnachweis" ein, zu dem ausgeführt war: "Hier nur Entgelte aller Beschäftigten unter Berücksichtigung der Mindestentgeltregelung (vgl. Erläuterungen) eintragen; ...".

Am 14. Mai 1999 erfolgte eine Betriebsprüfung beim Steuerberater der Klägerin, in deren Folge die Klägerin auf entsprechende Anforderung hin mit Datum vom 4. Juni 1999 eine Aufstellung über die in den Jahren 1993 bis 1997 gefahrenen Schichten und Arbeitsstunden und am 14. Juli 1999 Angaben zu gefahrenen Unternehmerschichten an die Beklagte übermittelte. Ein Prüfbericht wurde an die Klägerin am 10. Dezember 1999 abgesandt; in diesem ist angegeben, dass Abweichungen hinsichtlich der Mindestentgelte festgestellt worden seien.

Mit Datum vom 11. Dezember 1999 erließ die Beklagte Beitragsbescheide für die Jahre 1994 bis 1997, die sie mit einer Neufeststellung gemäß § 168 Abs. 2 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch (SGB VII) aufgrund einer Änderung der Berechnungsgrundlagen begründete, was zu höheren Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung von insgesamt 13 151,60 DM führte.

Auf den Widerspruch der Klägerin hin erläuterte die Beklagte mit Schreiben vom 26. Juli 2000 die der Beitragserhebung zugrunde liegende Berechnung dahin, dass Angaben der Klägerin über die in den Jahren 1994 bis 1997 gefahrenen Schichten, abzüglich der von den Unternehmern selbst gefahrenen Schichten, zugrunde gelegt und mit dem entsprechenden Mindestentgelt pro Schicht/Tag multipliziert worden seien. So sei es zu den angegebenen Bruttoentgelten gekommen. Eine Neuberechnung könne daher nicht erfolgen. Den aufrechterhaltenen Widerspruch, mit dem die Klägerin ausführte, die Berechnung unter Zugrundelegung von Mindestentgelten nicht zu akzeptieren, wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid ohne Datum (nach ihren Angaben erlassen am 14. November 2001, der Klägerin zugegangen am 20. November 2001) zurück. Zur Begründung verwies sie auf § 22 Abs. 2 ihrer Satzung, wonach bei dem Nachweis des Arbeitsentgeltes eine Mindestentgeltgrenze zu beachten sei. Diese Satzungsbestimmung werde durch § 153 Abs. 3 SGB VII ermöglicht.

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin durch Gerichtsbescheid vom 12. Juni 2003 die Beitragsbescheide vom 11. Dezember 1999, jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2001, aufgehoben. Die streitgegenständlichen Beitragsneufeststellungsbescheide würden durch die für eine rückwirkende Beitragserhöhung einschlägigen gesetzlichen Regelungen § 749 Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Beitragsjahre 1994 bis 1996 und § 168 Abs. 2 SGB VII für das Beitragsjahr 1997 nicht gedeckt. Es sei weder eine unrichtige Anmeldung im Sinne des § 168 Abs. 2 Nr. 3 SGB VII erfolgt noch seien die bei der Beklagten eingereichten und der ursprünglichen Beitragsberechnung zugrunde gelegten Lohnnachweise unrichtig im Sinne von § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII und § 749 Nr. 3 RVO gewesen. Dies wäre nur dann der Fall gewesen, wenn die tatsächlich von der Klägerin an ihre Beschäftigten gezahlten Arbeitsentgelte höher gewesen wären als die gemeldeten Lohnsummen. Hierfür habe es aber auch nach Durchführung der Betriebsprüfung keinerlei Hinweise gegeben. Alleine die Tatsache, dass die tatsächlich gezahlten Arbeitsentgelte unterhalb der Mindestentgeltgrenzen lagen, mache die eingereichten Lohnnachweise der Klägerin nicht unrichtig, weil diese zur Frage der Mindestentgelte keinerlei Angaben enthielten, auch nicht zu den gefahrenen Schichten, die der Berechnung der Mindestentgeltgrenze vom Prüfdienst der Beklagten zugrunde gelegt worden sei.

Gegen diesen ihr am 25. Juni 2003 zugegangenen Gerichtsbescheid richtet sich die am 19. Juli 2003 eingegangene Berufung der Beklagten. Die Beklagte trägt vor, dass die Lohnnachweise objektiv unrichtig gewesen seien, was für eine Aufhebung nach § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII ausreichend sei. Mit Schriftsatz vom 13. März 2006 hat die Beklagte im Anschluss an Entscheidungen der 67. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 24. Februar 2006 (u. a. Az. S 67 U 585/04) zur Notwendigkeit von Ermessenserwägungen bei der Beitragsnacherhebung gemäß § 168 Abs. 2 SGB VII ausgeführt, nunmehr ihre Ermessensausübung für die Jahre 1994 bis 1997 nachzuholen. Gründe, die zu einem Absehen von der Nacherhebung hätte führen können, seien nicht erkennbar; vielmehr habe das öffentliche Interesse an einer Beitragsgerechtigkeit im Vordergrund gestanden. Besondere Härten seien nicht erkennbar. Damit habe sie ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt; hierfür genüge es, wenn in der Begründung der Ermessensentscheidung hinreichend erkennbar werde, dass eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen stattgefunden habe. Die Verspätungsrüge hinsichtlich der Ermessensausübung gehe fehl, da gemäß § 41 Abs. 2 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) Handlungen nach Abs. 1 Nr. 2 bis 6 bis zur letzten Tatsacheninstanz nachgeholt werden könnten. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass das Fehlen der Ermessensausübung weder vorsätzlich noch rechtsmissbräuchlich gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juni 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Lohnnachweise seien vollständig und richtig gewesen. Sie habe auch durchaus ortsübliche Löhne gezahlt. Die der Beitragsberechnung zugrunde liegenden Mindestentgelte seien nicht erzielbar. Es werde zur Kenntnis genommen, dass die Beklagte versuche, nach mehr als sechs Jahren das von ihr nicht ausgeübte Ermessen nachzuholen, insofern werde eine Verspätungsrüge erhoben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist im Ergebnis rechtmäßig. Die Beitragsbescheide der Beklagten vom 11. Dezember 1999 für die Jahre 1994 bis 1997, jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2001, sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Nicht Gegenstand des Verfahrens sind entgegen der Auffassung der Beklagten die für die Folgejahre erlassenen Beitragsbescheide, insbesondere der Beitragsbescheid vom 21. Dezember 2005 für das Jahr 2000. Die Voraussetzungen des § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor, da die Beitragsbescheide für die Folgejahre die vorliegend streitgegenständlichen Bescheide für 1994 bis 1997 weder abändern noch ersetzen. Es bestand auch kein Grund für eine Einbeziehung der Bescheide in entsprechender Anwendung des § 96 SGG. Zum einen ist die von der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 21. Februar 2006 angeführte Rechtsprechung aus 1974 bzw. 1978 zu einer weiten Auslegung des § 96 SGG bei Dauerrechtsverhältnissen mittlerweile aufgegeben worden, da sich diese unter dem Aspekt der Prozessökonomie vertretene Ansicht nicht bewährt hat (BSG, Urteil vom 21. November 2002, Az.: B 3 KR 13/02 R, SozR 3 2500 § 37 Nr. 5 m. w. N.). Zum anderen wären die Voraussetzungen für eine Einbeziehung in entsprechender Anwendung des § 96 SGG auch nach früherer Auffassung (z.B. BSG, SozR 3-2600 § 319 b Nr. 2 m. w. N.) nicht erfüllt, weil es vorliegend an dem eine solche Einbeziehung rechtfertigenden inneren Zusammenhang fehlt. Denn wie den Ausführungen der Beklagten in ihrem Schreiben an die Klägerin vom 19. Dezember 2005 zu entnehmen ist, liegt dem Bescheid für das Jahr 2000 nicht mehr eine Hochrechnung gemeldeter Arbeitsstunden auf das Mindestentgelt zugrunde, da sich nach Auffassung der Beklagten die Kilometerleistungen mit den in Ansatz gebrachten Arbeitsstunden nicht in Übereinstimmung bringen lassen, so dass die Nachberechnung unter anderen Voraussetzungen erfolgte. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieses Bescheides sind damit vom vorliegenden Fall abweichende Sach- und Rechtsfragen zu klären, so dass eine Einbeziehung des Bescheides in das laufende Verfahren nicht in Betracht kommt. Abgesehen davon widerspräche die Einbeziehung der Folgebescheide auch dem im Schriftsatz vom 10. Februar 2006 erklärten und nach der genannten Rechtsprechung auch beachtlichen Willen der Klägerin, die darauf hingewiesen hat, dass ihr anderenfalls der Rechtsweg unzulässig verkürzt würde.

Gemäß § 749 RVO, der gemäß § 219 Abs. 1 Satz 2 SGB VII für die Beitragsjahre bis 1996 einschlägig ist, darf nach Zustellung des Bescheides die Berufsgenossenschaft den Beitrag zu Ungunsten des Beitragsschuldners nur dann noch anders feststellen, wenn sich der Lohnnachweis als unrichtig ergibt. Nach dem für das Beitragsjahr 1997 einschlägigen § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII darf der Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten der Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthält. Die Angaben der Klägerin in ihren Lohnnachweisen waren für die streitigen Jahre unrichtig im Sinne der zitierten Vorschriften. Denn ausweislich der in den Verwaltungsakten befindlichen Vordrucke für die Lohnnachweise war bereits ab dem Jahr 1994 ausdrücklich nach Entgelten aller Beschäftigten "unter Berücksichtigung der Mindestentgeltregelung" gefragt worden. Dieselbe Formulierung enthielt der für 1996 in der Verwaltungsakte befindliche Lohnnachweis. Die Forderung nach einer Meldung unter Berücksichtigung der Mindestentgeltregelung begegnete auch keinen Bedenken, sondern war durch die gesetzlichen Vorgaben gedeckt. Denn nach § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben die Unternehmer die Arbeitsentgelte "in der vom Unfallversicherungsträger geforderten Aufteilung zu melden"; die Erhebung von Beiträgen nach Mindestentgelten war gemäß § 728 RVO, § 153 Abs. 3 SGB VII in Verbindung mit § 22 Abs. 2 der Satzung der Beklagten zulässig. Meldungen, die trotz dieses klaren und nicht zu übersehenden Hinweises Lohnsummen unter Außerachtlassung der Mindestentgeltregelung enthalten, sind unrichtig. Hierbei kam es auch nicht darauf an, ob und wann die Klägerin die im Lohnnachweis-Vordruck in Bezug genommenen Erläuterungen tatsächlich erhalten hat. Selbst wenn man unterstellt, dass ihr derartige Erläuterungen zu keinem Zeitpunkt zugegangen wären, hätte sie einen Lohnnachweis mit dieser eindeutigen Vorgabe, die Mindestentgeltregelung zu beachten, nicht abgeben dürfen, ohne sich diesbezüglich zuvor sachkundig zu machen.

Die angefochtenen Bescheide sind dennoch rechtswidrig, so dass sie aufzuheben waren. Dies folgt zwar noch nicht bereits aus einer Verletzung der in § 24 Abs. 1 SGB X geregelten Anhörungspflicht. Grundsätzlich ist zwar vor der Rücknahme eines Beitragsbescheides nach Maßgabe der § 749 RVO, § 168 Abs. 2 SGB VII der Beitragspflichtige nach § 24 SGB X anzuhören (vgl. etwa Freischmidt in Hauck, Sozialgesetzbuch SGB VII, K § 168 SGB VII Rdnr. 11, Platz in Lauterbach, SGB VII, 4. Aufl., § 168 Rdnr. 8, Ricke in Kasseler Kommentar, § 168 SGB VII Rdnr. 4). Vorliegend ist allerdings die Beklagte nicht von den seitens der Klägerin gemachten tatsächlichen Angaben in ihren Erklärungen vom 4. Juni und 14. Juli 1999 abgewichen, so dass von der Anhörung gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X abgesehen werden konnte. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, wenn aufgrund der tatsächlichen Angaben zu Ungunsten des Betroffenen entschieden wird (BSG, Urteil vom 5. September 2006, Az. B 7a AL 38/05 R, zitiert nach juris). Abgesehen davon muss eine Anhörung nicht schriftlich ergehen (BSG, Urteil vom 31. März 1982, Az. 4 RJ 21/81, USK 8250). Aus dem Umstand, dass die Klägerin sich im Anschluss an die Betriebsprüfung vom 14. Mai 1999 mit Schreiben vom 4. Juni und 14. Juli 1999 zur Anzahl der gefahrenen Schichten und geleisteten Arbeitsstunden in den streitgegenständlichen Jahren geäußert hat, folgt, dass sie – wenn auch über ihren Steuerberater als Überbringer – über die Absicht, eine Neuberechnung für diese Jahre unter Zugrundelegung der von ihr übermittelten Daten durchzuführen, in Kenntnis gesetzt worden ist, zugleich hatte sie Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu. Damit war vorliegend von einer Durchführung der Anhörung auszugehen.

Die angefochtenen Bescheide waren jedoch deshalb rechtswidrig, weil §§ 749 RVO, 168 Abs. 2 SGB VII die Ausübung von Ermessen verlangen, welches durch die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden nicht ausgeübt worden ist. Die Entscheidung nach §§ 749 RVO, 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII ist eine Ermessensentscheidung (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. Februar 2004, Az.: L 2 ER 59/03 U, NZS 2004, 602; Platz in Lauterbach, a. a. O., § 168 SGB VII Rdnr. 4; Freischmidt in Hauck, a. a. O., § 168 Rdnr. 11; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 168 Rdnr. 4, und umfassend SG Berlin, Urteil vom 24. Februar 2006, Az.: S 67 U 585/04; anderer Ansicht Ricke in Kasseler Kommentar, a. a. O., § 168 Rdnr. 4). Für die Notwendigkeit, eine Ermessensentscheidung zu treffen, spricht der Wortlaut der Vorschriften ("darf"). Hätte der Gesetzgeber den Unfallversicherungsträgern nicht bloß die Möglichkeit einräumen, sondern sie verpflichten wollen, beim Vorliegen einer der tatbestandlichen Alternativen des § 168 Abs. 2 SGB VII rückwirkend höhere Beiträge als die ursprünglich festgesetzten zu erheben, hätte er die Formulierung "wird aufgehoben, wenn ..." oder "wird nur aufgehoben, wenn ..." gewählt (vgl. die Formulierungen in § 160 SGB VII). Auch zum gleich lautenden § 45 Abs. 1 SGB X, zu dem § 168 Abs. 2 SGB VII eine Sondervorschrift darstellt, ist für alle Bereiche des SGB die Notwendigkeit einer Ermessensausübung anerkannt (Steinwedel in Kasseler Kommentar, a. a. O., § 45 SGB X Rdnr. 50 m. w. N.). Sinn und Zweck des § 168 Abs. 2 stehen dem nicht entgegen. Der Gesetzesbegründung ist Abweichendes ebenfalls nicht zu entnehmen. Zur Neuregelung durch das Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz ist in der Gesetzesbegründung lediglich ausgeführt, dass § 168 Abs. 2 die Fälle aufzähle, in denen ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Unternehmens aufgehoben werden kann. Sie entspreche "im Wesentlichen dem geltenden Recht (§ 749 RVO)" (BT Drs. 13/2204, zitiert nach Hauck, a. a. O., M 010, Seite 86). Das BSG hat zu §749 RVO eine Ermessensausübung, soweit ersichtlich, zwar nicht geprüft, das Erfordernis einer derartigen Ermessensausübung aber auch nicht verneint (vgl. BSG, Urteile vom 12. Dezember 1985, Az.: 2 RU 49/84 und 2 RU 30/85, SozR 2200 § 734 Nr. 5 und 6). Dahingestellt bleiben kann, ob – wie die Beklagte vorträgt - das Ermessen im Falle des § 168 Abs. 2 SGB VII deutlich reduziert ist. Selbst wenn man in Anbetracht der Verpflichtung zur rechtzeitigen und vollständigen Erhebung von Beiträgen zu diesem Ergebnis kommen mag, macht dies doch nicht grundsätzlich die gesetzlich angeordnete Ausübung des Ermessens entbehrlich; eine Ermessensreduzierung auf Null folgt hieraus bereits deshalb nicht, weil es sich um eine Nacherhebung zu einer bereits stattgefundenen Beitragserhebung handelt, hinsichtlich derer möglicherweise in bestimmten Fällen Vertrauensschutz zu gewähren ist.

§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X schreibt für Ermessensentscheidungen eine erweiterte Begründungspflicht vor; danach muss die Begründung diejenigen Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) besteht auf eine pflichtgemäße Ermessensausübung ein Anspruch; bei völligem Ausfall des Ermessens ist der Verwaltungsakt nach § 54 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG rechtswidrig. Vorliegend hat die Beklagte bei Erlass der angefochtenen Bescheide ihre Pflicht zur Ermessensausübung verkannt und eine Ermessensausübung nicht vorgenommen, was zur Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Bescheide führt.

Dieses Versäumnis ist nicht durch die mit Schriftsatz vom 13. März 2006 angestellten Ermessenserwägungen geheilt worden. Nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 SGB X kann zwar eine erforderliche Begründung eines Verwaltungsaktes noch bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Die Vorschrift ist vorliegend auch in dieser erst seit 01. Januar 2001 geltenden Fassung anwendbar, da das Vorverfahren am 31. Dezember 2000 bei Außer Kraft Treten der alten Regelung, die ein Nachholen grundsätzlich lediglich bis zum Abschluss des Vorverfahrens gestattete, noch nicht abgeschlossen war (hierzu LSG Brandenburg, Urteil vom 24. November 2003, Az.: L 7 U 4/02, zitiert nach juris). Entgegen der Auffassung der Beklagten ermöglicht jedoch § 41 Abs. 2 SGB X trotz der Neufassung nicht das erstmalige Anstellen von zuvor unterbliebenen Ermessenserwägungen noch während des gerichtlichen Verfahrens. Die Änderung des § 41 Abs. 2 SGB X erfolgte in Anlehnung an die verwaltungsprozessuale Regelung des § 45 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), wonach ebenfalls eine erforderliche Begründung bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann. Zur möglichen Nachholung von Ermessenserwägungen enthält jedoch für das verwaltungsgerichtliche Verfahren § 114 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) eine gesonderte Regelung, wonach die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren "ergänzen" kann. Eine derartige Regelung ist im SGG nicht enthalten. Auch § 114 Satz 2 VwGO schafft jedoch lediglich die prozessualen Voraussetzungen dafür, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen dafür, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 05. September 2006, Az.: 1 C 20/05, DVBL 2007, 260 m. w. N.). Dementsprechend ermöglicht auch § 41 Abs. 2 SGB X jedenfalls nicht das erstmalige Anstellen von Ermessenserwägungen im Prozess bei vorherigem Ermessensausfall. Dahingestellt bleiben konnte nach allem, ob eine fehlerhafte Ermessensausübung insgesamt als materiell-rechtlicher Fehler über § 41 SGB X nicht geheilt werden kann (so LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 31. Mai 2005, Az.: L 2 U 10/04, zitiert nach juris) oder ob § 41 Abs. 2 SGB X lediglich die nachträgliche Mitteilung der für den Erlass eines Verwaltungsaktes aus damaliger Sicht der Behörde maßgebenden Gründe erlaubt (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. Januar 2006, Az.: L 29 B 1104/05 AS ER, zitiert nach juris, und Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 41 SGB X Rdnr. 24 und 25).

Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Entscheidung über die Zulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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