L 13 SB 100/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 17 SB 125/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 100/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 9. März 2006 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 ab 1. März 2004.

Dem 1947 geborenen Kläger hatte der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 22. März 2001 einen GdB von 20 wegen einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule zuerkannt.

Auf seinen Neufeststellungsantrag vom 11. November 2002 holte der Beklagte Befundberichte der Fachärztin für Orthopädie S, des Facharztes für Innere Medizin Dr. L und des Facharztes für Neurochirurgie und Chirurgie Dr. S ein und zog den Entlassungsbericht des Reha-Klinikums vom 30. April 2003 bei.

Durch Bescheid vom 22. September 2003 lehnte der Beklagte eine Neufeststellung und die Feststellung gesundheitlicher Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen ab. Unter Berücksichtigung des Ausmaßes der Beeinträchtigung

Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, operierte Bandscheibe

sei ein GdB von 20 angemessen.

Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, die im Februar 2003 durchgeführte Wirbelsäulenoperation sei ohne Erfolg gewesen, da ein Postnukleotomiesyndrom aufgetreten sei und erneut starke Schmerzen im Rücken bestünden, und verwies auf eine im Januar 2004 durchgeführte weitere Wirbelsäulen-Operation bei L4/L5. Mit Bescheid vom 23. Februar 2004 erkannte der Beklagte einen GdB von 30 an, weil die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule in ihren Auswirkungen höher zu bewerten sei, und wies den weitergehenden Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 2004 zurück.

Mit der hiergegen vor dem Sozialgericht Cottbus erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass auch die erneute Operation nicht den gewünschten Erfolg erbracht habe. Er befinde sich seit März 2004 in psychotherapeutischer Behandlung bei Dr. P. Das Sozialgericht hat u.a. ein arbeitsamtsärztliches Gutachten der Agentur für Arbeit Cottbus vom 26. Mai 2004 sowie ein für die Landesversicherungsanstalt Brandenburg erstattetes orthopädisches Gutachten von Dr. B vom 19. Dezember 2003 und ein zur Frage der Arbeitsunfähigkeit erstattetes Kurzgutachten der Ärztin für Psychiatrie W vom 2. September 2004 beigezogen und Befundberichte der Fachärzte für Orthopädie S und Dr. R, des Facharztes für Innere Medizin Dr. L und der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P eingeholt.

Der Versorgungsarzt Dr. G wies in einer Stellungnahme vom 20. Mai 2005 darauf hin, dass den beigezogenen Unterlagen das Vorliegen einer depressiven Anpassungsstörung zu entnehmen sei, die das chronische Schmerzsyndrom potenziere. Die psychische Störung sei mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Der Gesamt-GdB betrage 40.

Das Sozialgericht hat ein orthopädisches Gutachten von Dr. K vom 9. November 2005 eingeholt. Der Gutachter ist zu dem Ergebnis gelangt, dass eine weitere, von ihm festgestellte Funktionsbeeinträchtigung des rechten Schultergelenkes noch keinen GdB von 10 bedinge. Der Gesamt-GdB sei für die Funktionsstörung der Wirbelsäule in einem Wirbelsäulenabschnitt (Einzel-GdB 30) und die psychische Störung im Sinne einer Angst- und Depressionsstörung (Einzel-GdB 30) mit 50 zu bewerten, da es zu einer Potenzierung der Beschwerden durch die Angst- und Depressionsstörung komme.

Dieser Einschätzung ist der Beklagte nicht gefolgt und hat unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. J vom 11. Januar 2006 darauf verwiesen, dass sich dem Bericht von Dr. P zufolge die psychiatrische Symptomatik gebessert habe. Da die Bewertung der psychischen Störung mit einem Einzel-GdB von 30 am oberen Rande des Ermessensspielraumes liege, könne keine Erhöhung des Gesamt-GdB auf 50 erfolgen.

Durch Urteil vom 9. März 2006 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 50 ab 1. März 2004 anzuerkennen. Die Bewertung der Einzel-GdB von jeweils 30 entspreche den Vorgaben der Anhaltpunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Anhaltspunkte). Die beiden Einzel-GdB bedingten einen Gesamt-GdB von 50. Ausgehend von der Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, die zu der in der Folge aufgetretenen psychischen Behinderung geführt habe, sei der GdB wegen der psychischen Störung auf 50 zu erhöhen. Es bestünden grundsätzlich große Schwierigkeiten bei der Feststellung, ob ein Einzel-GdB von 30 zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB um 20 führen könne. Dies sei vorliegend der Fall, weil sich die beiden Behinderungen gegenseitig verstärkten.

Mit seiner Berufung macht der Beklagte geltend, dass der Einzel-GdB von 30 für die psychische Störung nach Nr. 26.3.S. 48 der Anhaltspunkte 2004 eine maximale Bewertung darstelle. Hiervon ausgehend liege kein Gesamt-GdB von 50 vor, zumal der Gutachter sich mit der psychischen Beschwerdeproblematik kaum auseinandersetze.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 9. März 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die im Rentenrechtstreit des Klägers vor dem Landessozialgericht eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie die gutachtliche Stellungnahme des Facharztes für Allgemeinmedizin und Diplompsychologen B vom 13. Juli 2006 und ein Gutachten von Dr. K vom 17. November 2006, beide im dortigen Verfahren abgegeben, zur Akte genommen.

Der Beklagte hat diese Unterlagen dahingehend ausgewertet, dass im Befundbericht von Dr. P eine Besserung der Ängste beschrieben werde. Da danach ein Einzel-GdB von 30 für die psychische Beeinträchtigung eine maximale Bewertung darstelle, könne kein Gesamt-GdB von 50 gebildet werden.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Verwiesen wird außerdem auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der Schwerbehindertenakte des Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet. Die bei dem Kläger vorliegenden Funktionseinschränkungen sind auf der Grundlage der zur Akte gelangten Befunde und Untersuchungsergebnisse mit einem GdB von 40 zu bewerten.

Nach §§ 2 Abs.1, 69 Abs.1 Sätze 3,4 des ab 1. Juli 2001 geltenden Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX), sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Gesundheitsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte in der Fassung des Jahres 2005 (deren Vorgänger die Anhaltspunkte 1996 und 2004 waren) zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten mit normähnlicher Qualität gelten.

Der Senat ist nach dem Gesamtergebnis der Ermittlungen zu dem Ergebnis gelangt, dass das Ausmaß der bei dem Kläger bestehenden Behinderungen keinen höheren GdB als 40 bedingt.

Hinsichtlich der Funktionseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule und ihrer Bewertung folgt der Senat dem Gutachten von Dr. K, der in Übereinstimmung mit den Vorgaben von Nr. 26.18, S. 116 der Anhaltspunkte 2004 bzw. 2005 von Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Lendenwirbelsäule ausgeht, die als schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem GdB von 30 zu bewerten sind. Unter Berücksichtigung der im Rentenverfahren eingeholten Gutachten bzw. ergänzenden Stellungnahmen kann nicht festgestellt werden, dass auch an der Halswirbelsäule Funktionseinschränkungen bestehen, die mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten wären. So beschreibt Dr. K in seinem Gutachten vom 17. November 2006 normotone muskuläre Verhältnisse im Bereich der Halswirbelsäule. Echte Funktionsausfälle lägen nicht vor.

Weitere, sich auf die Bildung des Gesamt-GdB auswirkende Funktionsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet sind nicht feststellbar. Zwar stellt Dr. K die Diagnose einer partiellen Schultersteife rechts. In seiner Zusammenfassung führt er jedoch aus, dass ein endgradiger Bewegungsschmerz rechts angegeben werde, die Abduktionsfähigkeit und Retroversionsfähigkeit sei leicht eingeschränkt. Die hierzu mitgeteilten Bewegungsausmaße erreichen jedoch nicht die Bewegungseinschränkung, die nach Nr. 26.18, S. 119 der Anhaltspunkte erforderlich ist, damit ein Einzel-GdB von 10 anzunehmen ist, nämlich eine Einschränkung der Fähigkeit, den Arm auf 120° zu heben.

Als weitere Funktionseinschränkung ist eine depressive Anpassungsstörung zu berücksichtigen, der der Beklagte einen Einzel-GdB von 30 zugeordnet hat. Dem vermag der Senat jedoch nicht zu folgen, wobei er an diese Bewertung nicht gebunden ist. Denn Regelungsgegenstand des Bescheides ist allein die Feststellung des Gesamt-GdB, während die verwaltungsinterne Bewertung der einzelnen Funktionsstörungen nur ein Begründungselement darstellt.

Die gesamten zur Akte gelangten Unterlagen rechtfertigen keinen Einzel-GdB von 30 für das seelische Leiden. Ein Einzel-GdB von 30 setzt nach Nr. 26. 3, S. 48 der Anhaltspunkte 2004 eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit voraus, während leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdB von 20 bewertet werden. Dr. P hatte in ihrem Befundbericht vom 17. November 2004 die Frage, ob der Kläger unter leichteren neurotischen Störungen leide, bejaht und mitgeteilt, dass der Kläger unter Angst vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz und der Angst leide, den Anforderungen nach der Wirbelsäulen-Operation nicht gerecht werden zu können. Der Krankheitsverlauf, den der Befundbericht von Dr. P vom 1. Mai 2006 für die Folgezeit wiedergibt, zeigt, dass diese Ängste in der Folgezeit nicht durchgehend bestanden haben. Nach den Angaben der Ärztin ist sogar im Frühjahr 2005 eine Besserung eingetreten, so dass die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 30 als zu hoch anzusehen ist. Ein Einzel-GdB von 30 würde lediglich durch das von Dr. beschriebene ausgeprägte Schmerzsyndrom gerechtfertigt. Bei Dr befand sich der Kläger jedoch zuletzt am 18. Mai 2004 in Behandlung, während er sich am 22. April 2004 erstmals in psychiatrische Behandlung begab. Dr. P teilte mit, dass der Kläger eine Behandlung des Schmerzsyndroms in der Folgezeit abgelehnt habe. Sie stellte auch in ihrem Befundbericht vom 17. November 2004 nicht die Diagnose einer Schmerzverarbeitungsstörung, sondern nur einer depressiven Störung.

Ausgehend von einem GdB von 30 für das Wirbelsäulenleiden und einem Einzel-GdB von 20 für das seelische Leiden ist die Bildung eines Gesamt-GdB von 40 zutreffend. Die Bildung eines Gesamt-GdB von 40, wie er in den angefochtenen Bescheiden vorgenommen worden ist, entspricht der Vorschrift des § 69 Abs.3 SGB IX. Danach ist dann, wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vorliegen, der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen.

Die Vorschrift stellt klar, dass der Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen oder Behinderungen unabhängig davon, ob sie in einem oder mehreren medizinischen Fachbereichen vorliegen, nicht durch bloße Zusammenrechnung der - für jede Funktionsbeeinträchtigung oder Behinderung nach den Tabellen in den Anhaltspunkten festzustellenden oder festgestellten - Einzel-GdB zu bilden ist, sondern durch eine Gesamtbeurteilung. In der Regel ist von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, um dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft größer wird. Dabei führen grundsätzlich leichte Funktionsbeeinträchtigungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtauswirkung, die bei dem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Anhaltspunkte 2004, Nr. 19 S. 24 bis 26 und BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 9). Ausgehend von einem GdB von 30 für das Wirbelsäulenleiden und einem GdB von 20 für das seelische Leiden entspricht die Bildung eines GdB von 40 diesen Vorgaben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt, dass die Berufung Erfolg hatte und die Klage nur wegen des Hinzutretens einer weiteren Funktionsstörung während des Verfahrens im März 2004 teilweise erfolgreich war. Insoweit hatte der Beklagte unverzüglich ein Teilanerkenntnis abgegeben, so dass er keine Kosten zu tragen hatte.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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