L 32 B 1312/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 124 AS 10646/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 B 1312/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juli 2007 wird abgeändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 9. März 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2007 wird angeordnet, soweit dort der Bescheid vom 28. August 2006 über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum 1. April bis 30. September 2007 in Höhe von mehr als 183,53 EUR monatlich aufgehoben wurde. Die Beschwerde wird im Übrigen zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller ein Drittel dessen außergerichtlicher Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde vom 23. Juli 2007 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin (SG) vom 15. Juli 2007, mit welchem dieses den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 9.März 2007 zurückgewiesen hat, ist nunmehr als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage auszulegen. Sie hat teilweise Erfolg:

Der erkennende Senat folgt zunächst dem SG in der Auffassung, der angegriffene Bescheid sei ein Bescheid im Sinne der §§ 86a Abs. 2 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG), 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II). Der 19. Senat des Landessozialgerichts hat hierzu im Beschluss vom 19.02.2007 (L 19 B 1087/06 AS ER) ausgeführt: "Über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende wird nur entschieden, wenn Leistungen bewilligt, abgelehnt, entzogen oder herabgesetzt werden. Als Umkehr vorangegangener Bewilligungen handelt es sich auch bei der Rücknahme von Leistungsbewilligen für die Vergangenheit nach den §§ 45, 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) um Verwaltungsakte, mit denen, wie bei der Bewilligung selbst, über Leistungen der Grundsicherung entschieden wird." (Im Gegensatz zum Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X, vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. September 2006 - 18 B 667/06 AS ER -; Beschluss vom 25. August 2006 - L 5 B 549/06 AS ER -; Beschluss vom 28. Juli 2006 - L 14 B 350/06 AS ER -, Beschluss vom 13. März 2006 - 10 B 345/06 AS ER - und Beschluss vom 27. September 2006 - 19 B 587/06 AS ER -.) Dem schließt sich der hier beschließende 32. Senat an.

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG durch Beschluss die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Es handelt sich um eine gerichtliche Interessenabwägung nach pflichtgemäßem Ermessen, bei welcher die für und gegen einen Sofortvollzug sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen sind. Hier überwiegt, soweit stattgegeben wird, aufgrund der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen und alleine möglichen summarischen und pauschalen Prüfung der Sach- und Rechtslage im Ergebnis das Interesse des Antragsstellers, von einer Umsetzung des Bescheides bis zu dessen Bestandskraft verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse. Dies gilt auch unter Beachtung der grundsätzlichen Regel des § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG. Nach § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG soll die Behörde die aufschiebende Wirkung (nur) anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwal¬tungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegende öf¬fentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte An der sofortigen Vollziehbarkeit eines offenbar rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht auf jeden Fall kein öffentliches Interesse. Hier liegen nach einhelliger Auffassung ernstliche Zweifel im Sinne einer entsprechenden Anwendung des § 86 a Abs. 3 Satz 2 SGG vor. Von einer solchen rechtlichen Situation ist vorliegend nach summarischer Prüfung der Sachlage auszugehen:

Zur Rechtsgrundlage des angefochtenen Aufhebungsbescheides nach § 48 SGB X wird zunächst nach § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf die zutreffenden Ausführungen im Beschluss des SG verwiesen. Die Kosten, welche der Antragsteller für die von ihm zur Zeit bewohnte Wohnung aufzubringen hat, sind zwar nicht angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Der Ansatz des Antragsgegners von 360,- EUR pro Monat ist jedoch zu gering. Welche Kosten angemessen i. S. von § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) sind, ist nicht in erster Linie anhand der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz des Landes Berlin vom 07. Juni 2005 (ABl. 3743), zuletzt geändert mit Verwaltungsvorschriften vom 30. Mai 2006 (ABl. 2062; im Folgenden: AV Wohnen) zu bestimmen. Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit obliegt im Streitfalle vielmehr den Gerichten; eine Rechtsverordnung zur näheren Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung ist bisher nicht ergangen. Die Prüfung der Angemessenheit setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG; u. a. Urteil vom 07. November 2006 - B 7b AS 10/06 R, zitiert nach www.bundessozialgericht.de RdNr 24) eine Einzelfallprüfung voraus. Dabei ist zunächst die maßgebliche Größe der Unterkunft zu bestimmen, und zwar typisierend (mit der Möglichkeit von Ausnahmen) anhand der landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen über die Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus (so wörtlich bereits LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 14. 06.07 -L 10 B 391/07 ASER, zitiert nach www.sozialgerichtsbarkeit.de; Beschluss des Senats vom 10. Juli 2007 -Az. L 32 B 823/07 ASER-).

In Berlin erscheint für eine aus einer Person bestehende Bedarfsgemeinschaft eine Ein- bis Zweizimmerwohnung (vgl. Ziff. 8 Abs. 1 der zur Umsetzung von § 5 Wohnungsbindungsgesetz (WobindG) iVm § 27 Abs. 1 bis 5 Wohnraumförderungsgesetz (WoFG) erlassenen Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 15. Dezember 2004 [Mitteilung Nr. 8/2004]) mit einer Größe bis zu 45 m² (Einzimmerwohnung) bzw. 50 m² (Zweizimmerwohnung) als abstrakt angemessen (Abschnitt II Ziff. 1 Buchst a und c der Anlage 1 der Richtlinien für den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau in Berlin) (=Wohnungsbauförderungsbestimmungen 1990 vom 16. Juli 1990 [ABl 1990, 1379 ff] idF der Verwaltungsvorschriften zur Änderung der WFB 1990 vom 13. Dezember 1992 [ABl 1993, 98 f]). Sodann ist der Wohnstandard festzustellen, wobei dem Hilfebedürftigen lediglich ein einfacher und im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht. Letztlich kommt es darauf an, dass das Produkt aus Wohnfläche und dem diesem Standard entsprechenden m²-Preis, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, der Angemessenheit entspricht (so genannte Produkttheorie). Dabei ist der räumliche Vergleichsmaßstab für den Mietwohnungsstandard so zu wählen, dass dem grundsätzlich zu respektierenden Recht des Leistungsempfängers auf Verbleib in seinem sozialen Umfeld ausreichend Rechnung getragen wird (so wiederum zutreffend weitgehend wörtlich LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 14. 06.07 -L 10 B 391/07 ASER, zitiert nach www.sozialgerichtsbarkeit.de; Beschluss des Senats vom 10. Juli 2007 -Az. L 32 B 823/07 ASER-). Zur Bestimmung des angemessenen Mietzinses stützt sich der Senat für die anzustellende Berechnung nunmehr auf den örtlichen, gemäß §§ 558c und 558d Bürgerliches Gesetzbuch qualifizierten, Mietspiegel des Landes Berlin vom 11. Juli 2007 (ABl 1797). Aus (vorläufiger) Sicht des Senates ist dabei der günstigste Spannenhöchstbetrag innerhalb der verschiedenen Baujahrsklasse für Wohnungen mit Bad und WC zugrundezulegen. Zumutbar erscheint nämlich abstrakt-generell jede Wohnung mit üblichem Standard, unabhängig vom Baujahr. Die Angemessenheit kann sich aber nur auf real anmietbare Wohnungen beziehen, in die der Antragsteller umziehen könnte. Deshalb ist ein gewisser Puffer zu den abstrakt-generell absolut günstigsten Mietwerten des Mietspiegels geboten, auch weil dessen Stichtag bereits wieder knapp ein Jahr zurückliegt (1. Oktober 2006). Bei der Ermittlung dieses Wertes sind auch die Betriebskosten einzubeziehen. Nach Auffassung des Senats sind in Eilverfahren und im vorläufigen Rechtsschutz die Werte der Anlage I zum Mietspiegel mangels besserer Zahlen heranzuziehen, auch wenn diese nicht amtlich sind. Der neue Mietspiegel enthält hierzu neben einem Mittelwert auch einen 4/5 Spannen-Oberwert. Letzterer ist -jedenfalls in vorläufigen Rechtsschutzverfahren- zugrunde zu legen, damit auch insoweit von tatsächlich realistischen Kostenansätzen für anzumietende Wohnungen ausgegangen werden kann. Angeführt im Mietspiegel sind nämlich nur die Betriebskosten des Jahres 2005. Konkret ist hier ein Wert von 4,71 EUR (Baujahre 1965-72, einfache Wohnlage, 40 m² bis unter 60 m²) + 2,59 EUR kalte Betriebs- sowie 1,15 EUR Heizkosten pro m² anzusetzen.

Somit ergibt sich eine angemessene Bruttowarmmiete von 8,45 EUR pro Quadratmeter, bei 50 m² also 422,50 EUR. Die Wohnkosten sind damit nach dieser summarischen Berechnung um 606,03 EUR./. 422,50 EUR = 183,53 EUR pro Monat zu hoch.

Dass es der Antragsgegner im Übrigen abgelehnt hat, die Wohnungskosten in vollem Umfang zu bezahlen, erscheint rechtmäßig. Insoweit ist eine Aussetzung der Vollziehbarkeit nicht geboten: Dass es für 422,50- EUR brutto warm keine Wohnungen im bisherigen Wohnumfeld anzumieten geben könnte, ist nicht ersichtlich. Die Kosten der jetzigen Unterkunft sind auch nicht vorübergehend - geschweige denn dauerhaft - voll zu übernehmen aufgrund des Alters des Antragsstellers, der Dauer des Wohnens in der jetzigen Wohnung oder aufgrund des Umstandes, dass ein Umzug mit dem selbst eingegangenen Risiko, auf Rückbaukosten hängen zu bleiben bzw. Umbauten abschreiben zu müssen, verbunden sein könnte. Darauf hinzuweisen ist, dass für die Bewältigung eines Umzuges auch die Zusicherung der Übernahme von Umzugskosten (§ 22 Abs. 3 Satz 2 SBG II) in Betracht kommt (so zutreffend wörtlich LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 15.03.2007 - L 19 B 1200/06 AS PKH -, zitiert nach: www.sozialgerichtsbarkeit.de). Im Streit steht auch nicht der generelle Verlust der eigenen Wohnung. Dem Antragsteller bleibt unbenommen, in den bislang untervermieteten kleineren Teil der Wohnung zur Erreichung angemessener Wohnverhältnisse umzuziehen und künftig den größeren unterzuvermieten. Es ist weiter nicht davon auszugehen, dass die vom Antragsgegner gesetzte Frist von sechs Monaten zu kurz gewesen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG entsprechend.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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