L 1 KR 63/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 88 KR 1511/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 63/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Juni 2004 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die im Jahre 1979 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung der Behandlung der bei ihr bestehenden Multiplen Sklerose (MS) mit Immunglobulinen (IG); dies sei insbesondere in Bezug auf ihren Kinderwunsch sinnvoll.

Die Klägerin leidet an einer schubförmig remittierenden Verlaufsform der MS und die Therapie mit dem zugelassenen Medikament Avonex ist nach den Angaben ihres behandelnden Arztes Dr. B nicht optimal, da es zu neuen Schüben gekommen sei. Schon wegen der Spritzenphobie der Klägerin sei eine Therapie mit Copaxone nicht sinnvoll durchzuführen und Betapheron oder Azathioprien seien wegen des Kinderwunsches ausgeschlossen.

Für die Klägerin beantragte der behandelnde Arzt Dr. B am 28. August 2001 bei der Beklagten die Genehmigung der Behandlung der MS mit IG, was die Klägerin selbst mit Schreiben vom 14. Februar 2002 wiederholte. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung MDK - ein, der in Stellungnahmen vom 05. April 2002 und 10. Juli 2002 darlegte, dass die Voraussetzungen für den Einsatz von IG bei der MS im Off label uses nicht vorlägen, da alternative Therapien, die zugelassen seien, zur Verfügung stünden.

Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. April 2002 die begehrte Leistungsgewährung ab und bestätigte dies auf den Widerspruch der Klägerin hin mit Widerspruchsbescheid vom 09. August 2002.

Hiergegen hat sich die am 15. August 2002 beim Sozialgericht Berlin erhobene Klage gerichtet, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und sich auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 08. Oktober 2002 berufen hat.

Die Beklagte hat sich auf die Ausführungen des MDK und die Rechtsprechung des Landessozialgerichts Berlin berufen.

Die Klägerin ist während des erstinstanzlichen Verfahrens am 13. Oktober 2003 erneut vom MDK begutachtet worden. In der Stellungnahme hat der MDK dargelegt, dass die Risikoeinstufung bei Einsatz in der Schwangerschaft nach Feststellungen der US amerikanischen Federal Drug Administration für IG und Beta Interferone gleich sei, für Copaxone sogar günstiger.

Mit Urteil vom 11. Juni 2004 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, angesichts der bereits seit Jahren andauernden Streitigkeiten um die Wirksamkeit von IG bei MS und dem großen betroffenen Patientenkreis spreche für die Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin, dass die Pharmahersteller immer noch keinen Antrag auf Zulassungserweiterung gestellt hätten, obwohl die Voraussetzungen hierfür weniger streng als bei der Zulassung eines neuen Medikaments seien. Dass die Hersteller selbst noch weitere Studien abwarten wollten, darunter auch solche mit schwangeren MS Patientinnen, belegte die Einschätzung des Landessozialgerichts Berlin, dass derzeit keine Datenlage als gesichert anzusehen sei, die die Kriterien für den Off label use von IG bei MS begründen könnten.

Gegen dieses den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 06. Juli 2004 zugestellte Urteil richtet sich deren Berufung vom 15. Juli 2004, mit der sie sinngemäß beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Juni 2004 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. April 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09. August 2002 zu verurteilen, der Klägerin zur Behandlung der bei ihr bestehenden Multiplen Sklerose eine Therapie mit Immunglobulinen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und durch die zwischenzeitlich ergangene Rechtssprechung des Bundessozialgerichts für bestätigt.

Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Berichterstatters ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie den Leistungsvorgang der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht erhoben, somit insgesamt zulässig.

Über sie konnte der Berichterstatter den Senats ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten übereinstimmend ihr Einverständnis mit einem derartigen Verfahren erklärt haben (§§ 124 Abs. 2, 125 Sozialgerichtsgesetz SGG ).

Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts unterliegt keiner Beanstandung, da der Klägerin die begehrte Therapie zu Lasten der Beklagten nicht zusteht.

Der Senat verweist zur Begründung auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts BSG vom 27. März 2007, der er sich anschließt. Das BSG hat ausgeführt:

Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 04. April 2006 B 1 KR 12/04 R, SozR 4 2500 § 27 Nr. 7 RdNr. 22 m. w. N D-Ribose ). Dies ist hier der Fall, weil "Polyglobin 10 %" für die Behandlung der MS nicht zugelassen ist.

Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von "Polyglobin 10 %" auf Kosten der GKV, das nur über eine Zulassung für die Behandlung anderer Krankheiten als für diejenige verfügt, an welcher die Klägerin leidet, muss ebenfalls ausscheiden. Der Senat hat bereits in seinem von den Vorinstanzen in Bezug genommenen Urteil vom 19. März 2002 B 1 KR 37/00 R (BSGE 89, 184 ff. = SozR 3 2500 § 31 Nr. 8 Sandoglobulin) sowohl allgemein zu den Voraussetzungen für einen solchen Off-Label-Use ausführlich Stellung genommen als auch speziell für einen an MS (dort in einer primär chronisch-progredienten Verlaufsform) leidenden Versicherten den Anspruch auf eine intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen im Einzelnen verneint. Ein Off-Label-Use kommt nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann ( ebenso zuletzt - diese Rspr auch gegen Kritik aus dem Schrifttum verteidigend - Urteil vom 26. September 2006 - B 1 KR 1/06 R - SozR 4 2500 § 31 Nr. 5 RdNr. 17 f. - Ilomedin, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).

Auch wenn es sich bei der bei der Klägerin bestehenden Form der MS um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit handelt und es zumutbare Behandlungsalternativen wegen aufgetretener erheblicher Nebenwirkungen von Betaferon (vgl. aber noch BSGE 89, 184, 192 = SozR 3 2500 § 31 Nr. 8 - Sandoglobulin) nicht zu geben scheint (so die Feststellungen der Vorinstanzen), fehlt es jedenfalls an der für einen Off Label Use auf Kosten der GKV erforderlichen Erfolgsaussicht. Wie der Senat (a. a. O. und Urteil vom 26. September 2006 - B 1 KR 1/06 R - RdNr. 19) dargelegt hat, kann von hinreichenden Erfolgsaussichten dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Die letztgenannten Voraussetzungen waren im Sandoglobulin-Urteil des Senats - bei dem die Versorgung mit Immunglobulinen in der Zeit von September 1997 bis zur Verkündung des Urteils am 19. März 2002 im Streit war - nicht erfüllt. Die Voraussetzungen sind damit gleichermaßen nicht erfüllt bezogen auf den im Falle der Klägerin streitigen Behandlungszeitraum von August 2001 bis Januar 2002, zumal neue, auf diesen Zeitpunkt zurückwirkende Erkenntnisse nicht vorliegen. Der Senat hat im genannten Urteil darauf abgestellt, dass nach den vom Paul-Ehrlich-Institut veröffentlichten Ergebnissen eines internationalen Symposiums von November 2001 für die sekundär-progressive MS ebenfalls kein wissenschaftlicher Konsens über den Nutzen einer Behandlung mit Immunglobulinen bestand (BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr. 8).

Mit diesen Erkenntnissen stehen die von der Revision nicht beanstandeten, vom LSG in Bezug genommenen Feststellungen des SG in Einklang. Die Vorinstanzen haben sich insbesondere auf Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts von Oktober 2005 und die "Leitlinien zur Behandlung der MS" (Stand April 2002) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie gestützt und dargelegt, dass sich selbst für die Folgezeit kein Wandel in der Datenlage für die sekundär-chronische MS abzeichnete, an der die Klägerin leidet. Hinzu kommt das hier fehlende - auch vom LSG hervorgehobenen - Erfordernis, dass die anspruchsauslösenden positiven Erkenntnisse bereits zum Zeitpunkt der Behandlung der Klägerin hätten vorliegen müssen (vgl. zuletzt BSGE 95, 132 RdNr. 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 3 RdNr. 27 m. w. N. - Wobe-Mugos E, vgl. auch Urteil vom 26. September 2006 - B 1 KR 3/06 R - SozR 4 2500 § 27 Nr. 10 RdNr. 24 m. w. N. - Neuropsychologische Therapie, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die neu erhobenen Daten zur Wirksamkeit von IvIg bei schubförmiger MS führten nur dazu, dass immunmodulatorische Medikamente schulmäßig inzwischen frühzeitig nach der Diagnosestellung eingesetzt werden, jedoch kann dieser Arzneimitteleinsatz nicht auf die sekundär-chronische MS übertragen werden; eine Phase-III-Arzneimittelzulassungs-Studie ist bezogen auf die Krankheit der Klägerin und das streitbefangene Arzneimittel bislang nicht mit Erfolg durchgeführt worden. Es sind auch keine Forschungsergebnisse ersichtlich, die eine Zulassung des Präparats zur Behandlung der sekundär-chronischen MS bereits in den Jahren 2001/2002 erwarten ließen. Selbst der behandelnde Arzt der Klägerin hat im Klageverfahren mitgeteilt, dass eine als Zulassungsstudie geplante Studie des Herstellers von "Polyglobin 10 %" Ende 2001 keinen therapeutischen Nutzen für Patienten mit primär- oder sekundär-chronischer MS ergeben habe. Schließlich wurde die begehrte Therapie auch in den "Leitlinien zur Behandlung der MS" (Stand April 2002) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bei sekundär progredienter MS aufgrund der Forschungslage nicht empfohlen. Damit ist - entsprechend den Erkenntnissen des Sandoglobulin-Urteils des Senats - gleichermaßen auszuschließen, dass seinerzeit außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens schon Erkenntnisse vorlagen, die denjenigen einer Phase-III-Studie gleichstehen (vgl. in Bezug auf dieses alternative Erfordernis: Urteil des Senats vom 26. September 2006 - B 1 KR 1/06 R - SozR 4 2500 § 31 Nr. 5 RdNr. 24 - Ilomedin, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Auch weitere von der Klägerin vorgetragene Gesichtspunkte verhelfen der Revision nicht zum Erfolg. Um einen sog Seltenheitsfall, in dem sich eine Krankheit und ihre Behandlung einer systematischen Erforschung entzieht und bei dem eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkassen in Betracht zu ziehen wäre (vgl. dazu BSGE 93, 236 = SozR 4 2500 § 27 Nr, 1, jeweils RdNr. 21 - Visudyne), handelt es sich vorliegend nicht. Der von der Klägerin speziell für ihren Einzelfall geltend gemachte Behandlungserfolg ist unerheblich, weil die streitige Therapie wissenschaftlich anerkannt wirksam sein muss, um den sich für den Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen genügen zu können; der Anspruch umfasst folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht. Hierzu genügt es nicht, dass die Arzneimitteltherapie bei einem Versicherten nach seiner eigenen Ansicht oder derjenigen seiner Ärzte positiv gewirkt haben soll und ggf. herkömmlichen Arzneimitteln vorzuziehen ist (vgl. z. B. BSGE 76, 194, 198 = SozR 3 2500 § 27 Nr. 5 S. 11 - Remedacen). Zu Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels muss es vielmehr grundsätzlich zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne geben, dass der Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist (vgl. z. B. BSGE 93, 1, 2 = SozR 4 2500 § 31 Nr. 1, jeweils RdNr. 7 m. w. N. - Immucothel; zuletzt BSGE 95, 132 RdNr. 18 = SozR 4 2500 § 31 Nr. 3 RdNr. 25 m. w. N. - Wobe-Mugos E). Auch bei einer erfolgten Arzneimittelanwendung sind Spontanheilungen und wirkstoffunabhängige Effekte mit in Rechnung zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 04. April 2006 - B 1 KR 7/05 R, SozR 4 2500 § 31 Nr. 4 RdNr. 42 m. w. N. - Tomudex (auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen)).

Zu keinem anderen Ergebnis führt schließlich aufgrund des Beschlusses des BVerfG vom 06. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 = SozR 4 2500 § 27 Nr. 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 - immunbiologische Therapie) die verfassungskonforme Auslegung derjenigen Normen des SGB V, die einem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen ( vgl dazu BSG, Urteil vom 04. April 2006 - B 1 KR 7/05 R, SozR, a. a. O., RdNr. 23 - Tomudex).

Diese Auslegung hat zur Folge, dass im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit ausnahmsweise bejaht werden müssen, obwohl ein Mittel bzw. eine Behandlungsmethode an sich von der Versorgung zu Lasten der GKV ausgeschlossen ist. Die verfassungskonforme Auslegung setzt u. a. voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende (vgl. BSG, ebenda, RdNr. 21 und 30 m. w. N.) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl. BSG, Urteil vom 04. April 2006 - B 1 KR 12/04 R, SozR 4 2500 § 27 Nr. 7 RdNr. 31 f. - D Ribose). Daran fehlt es.

Der Senat hat insoweit zuletzt in seinem Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R (Idebenone, RdNr. 17 ff., zur Veröffentlichung vorgesehen) ausgeführt, dass mit den genannten Krankheits-Kriterien des BVerfG eine strengere Voraussetzung umschrieben wird, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert ist. Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen an. Ohne einschränkende Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten anzusehen (vgl. auch BSG, Urteil vom 26. September 2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr. 34 - Neuropsychologische Therapie).

Bereits die Anforderungen an das Bestehen einer "schwerwiegenden" Erkrankung für einen Off-Label-Use sind erheblich. Nicht jede Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Auch ein Off-Label-Use bedeutet nämlich, Arzneimittel für bestimmte Indikationen ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit schützen soll. Ausnahmen können schon insoweit nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen des Rechts der GKV an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel (§ 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V) beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden Bedarfs Rechnung trägt ( so zum Ganzen BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R - RdNr. 18 m. w. N. - Idebenone).

Der institutionelle Schutz, den das für Deutschland erforderliche Arzneimittelzulassungsverfahren bietet, fehlt auch bei einem systematisch betriebenen Off-Label-Use, weil in derartigen Fällen die gebotene indikationsbezogene Arzneimittelzulassungsprüfung nicht stattgefunden hat. Damit aber drohen den Versicherten auch hier Gesundheitsgefahren, vor denen sie das Zulassungsverfahren gerade schützen will. Soll trotzdem - noch hinausgehend über die dargestellten einschränkenden Voraussetzungen der Sandoglobulin-Rechtsprechung für einen Off-Label-Use - unter Berufung auf den verfassungsrechtlich gebotenen Gesundheitsschutz ein Anspruch auf die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels zu Lasten der GKV begründet werden, ist auch darauf abzustellen, ob sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren droht. Verbleibt durch einen langen, verzögerten Krankheitsverlauf jahrzehntelang Zeit zur Therapie, ist in Rechnung zu stellen, dass die im Zeitablauf typischerweise voranschreitenden medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse in Zukunft Therapiemöglichkeiten eröffnen und (positive wie negative) Ergebnisse zu Tage fördern können, welche aktuell noch nicht verfügbar sind. Dann aber ist es auch verfassungsrechtlich hinnehmbar, den von einer schweren Krankheit betroffenen Patienten bei fehlender Akut-Problematik trotz der damit verbundenen Belastungen und Unzuträglichkeiten in der Regel abzuverlangen, vor der Inanspruchnahme der GKV für unkonventionelle Pharmakotherapien zunächst das Vorliegen einer auf solchen Forschungsergebnissen gestützten Zulassung der beanspruchten Fertigarzneimittel abzuwarten. Dementsprechend hat das BSG die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit i. S. des Beschlusses des BVerfG vom 06. Dezember 2005 (a. a. O.) verneint z. B. bei einem Prostata-Karzinom im Anfangsstadium (Urteil vom 04. April 2006 - B 1 KR 12/05 R, SozR 4 2500 § 27 Nr. 8 RdNr. 36 - Interstitielle Brachytherapie mit Permanent-Seeds), bei einer in 20 bis 30 Jahren drohenden Erblindung (Beschluss vom 26. September 2006 - B 1 KR 16/06 B) sowie bei einer langsam progredient verlaufenden Friedreich’schen Ataxie mit über Jahre hinweg möglichen stabilen Symptomen ( Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R - Idebenone).

Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten. Solches ist bei einer bestehenden MS in sekundär-progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit nicht anzunehmen. Wie die MDK-Ärzte Dres. H und H in ihrem in den Beklagtenakten enthaltenen, der Klägerseite zur Kenntnis gegebenen Gutachten "Einsatz von Immunglobulinen bei MS" (Stand Dezember 2005, Seite 9/10) - gestützt auf umfangreiche medizinische Fachliteratur-Recherchen - ausgeführt haben, benötigen ca. 50 % der MS Patienten nach 15 Jahren Hilfe beim Laufen und beträgt die durchschnittliche Dauer vom Beginn der Krankheit bis zur Rollstuhlabhängigkeit 29,9 Jahre. Die durchschnittliche Zeit von Krankheitsbeginn bis zum Tod beträgt in der Regel mindestens 30 40 Jahre, ohne dass die MS dann selbst i. d. R. unmittelbare Todesursache ist; die durchschnittliche Überlebenswahrscheinlichkeit von MS-Patienten ist zehn Jahre nach Krankheitsbeginn im Vergleich mit der Normalbevölkerung noch um etwa zehn Jahre reduziert. Ausgehend von diesen auch von der Revision nicht beanstandeten Erkenntnissen handelt es sich bei der sekundär-progredienten MS nicht um eine Krankheit, die von ihrem akuten Behandlungsbedarf her derjenigen gleichsteht, welche dem vom BVerfG am 06. Dezember. 2005 entschiedenen Fall der Duchenneschen Muskeldystrophie zugrunde lag. Während die von diesem Leiden betroffenen Patienten zumeist das 20. Lebensjahr nicht erleben (vgl. BSGE 81, 54, 55 = SozR 3 2500 § 135 Nr. 4), besteht für Patienten mit sekundär-progredienter MS eine deutlich andere Situation. Die letztgenannte Krankheit wird charakterisiert durch eine chronische, z. T. schubartig verlaufende Progredienz. Eine gezielt kausale Therapie gibt es insoweit nicht, vielmehr kann - auch mit den von der Klägerin begehrten, im Übrigen nicht nebenwirkungsfreien Immunglobulinen - nur versucht werden, die Schubrate bzw. die Schwere der Schübe zu vermindern bzw die Progression der Behinderung zu hemmen (vgl. MDK-Gutachten S. 11, 14, 15 f.).

Die Klägerin ist im Falle auftretender Krankheitsschübe zudem nicht gänzlich unversorgt, sondern wird dann zur Linderung mit Cortison behandelt. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von "Polyglobin 10 %" unter Lockerung der zum Schutz der Patienten und der Versicherten der GKV geschaffenen speziellen gesetzlichen Regelungen über die Arzneimittelversorgung muss vor diesem Hintergrund ausscheiden.

Mit Hilfe des Beschlusses des BVerfG vom 06. Dezember 2005 lässt sich auch nicht die rechtliche Schranke überwinden, dass für einen auf Kosten der GKV zulässigen Off-Label-Use bereits zum Zeitpunkt der Behandlung die oben dargestellten anspruchsauslösenden Erkenntnisse vorliegen müssen (vgl. dazu bereits BSG SozR 4 2500 § 31 Nr. 4 RdNr. 31; zuvor außerhalb der Fälle grundrechtsorientierter Auslegung: stRspr, vgl. BSGE 81, 54, 58 = SozR 3 2500 § 135 Nr. 4 S. 13 f.; SozR 3 2500 § 135 Nr. 12 S. 56 f. (für Festlegungen in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen); BSGE 93, 236, 243 = SozR 4 2500 § 27 Nr. 1 RdNr. 19; BSGE 95, 132 RdNr. 20 = SozR 4 2500 § 31 Nr. 3 RdNr. 27 m. w. N. (für Pharmakotherapien)). Diese allgemeine Voraussetzung des Leistungsrechts der GKV gilt unabhängig davon, ob die zu behandelnde Krankheit eine besondere Schwere und Lebensbedrohung aufweist. Das Verfassungsrecht gebietet es nicht, eine Krankenkasse für leistungspflichtig zu erklären und zur Kostenerstattung zu verurteilen, wenn sich eine zum Behandlungszeitpunkt aufgestellte, den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechende Prognose über die Erfolgsaussichten einer bestimmten Behandlung aufgrund zwischenzeitlich gewonnener neuer Erkenntnisse ex post als (möglicherweise) "medizinisch überholt" erweist.

Die Berufung war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

Für die Zulassung der Revision liegt keiner der in § 160 Abs. 2 SGG dargelegten Gründe vor.
Rechtskraft
Aus
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