Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 21 R 205/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 R 7/08 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die rente des Klägers wegen Erwerbsminderung (EWM) mit dem Zugangsfaktor 1,00 zu berechnen ist.
Der 1949 geborene Kläger bezieht auf Grund gerichtlichen Vergleichs im Verfahrern S 34 (25) R 48/04 Rente wegen teilweiser EWM auf Dauer ab 01.09.2003, die ihm mit Berscheid vom 02.03.2007 bewilligt wurde. Bei der Rente erkannte die Beklagte im Versicherungsverlauf eine 67-monatige Zurechnungszeit vom 08.08.2003 bis 31.03.2009 an und verminderte den Zugangsfaktor 1,00 für die Zeit nach dem 30.09.2009 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres um monatlich 0,003. Sie errechnete damit für 33 Kalendermonate eine Verminderung von 0,099, so dass sie die sich aus dem Versicherungsverlauf ergebenden persönlichen Entgeltpunkte (EP) von 33,2410 mit 0,901 multiplizierte und der Rentenberechnung 29,9501 EP zugrunde legte. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, der bei der Beklagten am 13.03.2007 einging. Zur Begründung berief er sich auf ein Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R -, wonach die Kürzung des Zugangsfaktors vor Vollendung des 60. Lebensjahres unzulässig sei. Er bat um umgehende Bescheidung. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.07.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, das Urteil des 4. Senats des BSG stehe im Widerspruch zur geltenden Rechtslage und zu den Intentionen des Gesetzgebers, zumal zeitgleich mit der Verminderung des Zugangsfaktors durch § 77 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) eine Anhebung der Zurechnungszeit nach § 59 SGB VI erfolgt sei, um die Härten der Rentenminderung zu mildern. Besonders deutlich werde dieser Zusammenhang auch durch die §§ 253 a, 264 c SGB VI jeweils in Verbindung mit der Anlage 23 zum SGB VI: Nur in dem Umfang, in dem eine zusätzliche Zurechnungszeit stufenweise zu berücksichtigen sei, mindere sich auch der Zugangsfaktor.
Am 12.07.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt unter Hinweis auf ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Lübeck - S 14 R 191/07 - sein bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, die von der Beklagten vorgenommene Ausdeutung der gesetzlichen Vorschriften führe zu einem Verstoß gegen Art. 3 Grundgesetz (GG), da die Abschläge für Rentner, deren Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres wegfalle, nicht kompensierbar seien. Im übrigen dürften EWM-Rentner und Altersrentner nicht mit den gleichen
Abschlagsregelungen versehen werden, da nur Altersrentner frei entscheiden könnten, ob sie die Rente vor Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch nehmen wollten. Die Abschlagsregelung verstoße auch gegen Art. 2 GG, da Pflichtversicherte keinen Einfluss auf die Höhe der Beiträge und die ihnen dafür geschuldete Leistung hätten. Auch verbiete das Sozialstaatsprinzip Rentenkürzungen von nicht selten 10,8 %, da insoweit nicht privat zusatzversicherte Rentner in wirtschaftliche Bedrängnis gerieten, ohne dass dies vorhersehbar gewesen sei. Das Argument der verbesserten Zurechnungszeiten sei nicht durchschlagend, da es nicht nachvollziehbar sei, weshalb Versicherten einerseits etwas gegeben, andererseits aber etwas genommen werde.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 02.03.2007 und unter Aufhebung ihres Widerspruchsbescheides vom 05.07.2007 zu verurteilen, seine Rente wegen teilweiser EWM unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,00 zu berechnen und den Differenzbetrag, der sich ab 01.09.2003 ergibt, dem Kläger nachzuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat den Beteiligten neutralisierte Kopien einer Entscheidung der 21. Kammer des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 12.09.2007 - Az: S 21 R 131/07-, des SG Aachen vom 09.02.2007 - Az: S 8 R 96/06 - und des SG Lübeck vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 - im Termin zur mündlichen Verhandlung überreicht.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, betreffend den Kläger, Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage, mit der der Kläger die Neuberechnung seiner Rente wegen EWM unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors 1,00 sowie die Nachzahlung des Differenzbetrages, der sich ab 01.09.2003 ergibt, begehrt, ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig nach § 54 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die zulässige Klage ist aber nicht begründet, da die angefochtenen Bescheide nicht rechtswidrig sind. Folglich wird der Kläger durch sie auch nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Denn die Beklagte hat zu Recht den Rentenfaktor 1,00 bei der EWM-Rente des Klägers vermindert.
Nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist der Zugangsfaktor bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, für jeden Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend, § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI. Die Rentenbezugszeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres gilt insoweit nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme, § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI. Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Vorschriften, die das Gericht in Übereinstimmung mit Ruland
- Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 2007, S. 2086 ff -
für eindeutig hält, hat die Beklagte zu Recht den Zugangsfaktor bei der Berechnung der EWM-Rente des Klägers um 0,099 auf 0,901 vermindert und diesen Zugangsfaktor mit den persönlichen EP des Klägers von 33,2410 multipliziert.
So auch: SG Aachen, Urteil vom 09.02.2007, Az: S 8 R 96/06, Ruland a.a.O -
Die entgegenstehende Auffassung des 4. Senats des BSG,
Vgl. Urteil vom 16.05.2006 - Az: B 4 RA 22/05 R -
und des SG Lübeck sowie des Landessozialgerichts (LSG) NRW,
Vgl. Urteile vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 - und 09.05.2007 - Az: L 8 R 353/06 -
wonach aus § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI folge, dass Bezugszeiten einer Rente wegen EWM vor Vollendung des 60. Lebensjahres keine vorzeitigen Bezugszeiten seien, weshalb bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor 1,0 für die Rente gelte, hält das Gericht nicht für überzeugend. Denn diese Auffassung widerspricht zum einen dem Willen des Gesetzgebers, der die Rentenhöhe der Rentenbezieher aller Altersgrupppen, wenngleich in unterschiedlich starker Weise, herabsetzen wollte, soweit es nicht um die Regelaltersrente ab Vollendung des 65. Lebensjahres geht.
Vgl. Ruland, a.a.O. -
Darüber hinaus vermag das Gericht keinen sachlich einleuchtenden Grund dafür zu erkennen, dass Bezieher einer Rente wegen EWM, die nicht notwendig mit Vollendung des 60. Lebensjahres überhaupt einen Altersgeldanspruch haben, in einer Phase höheren Lebensalters eine Rentenminderung hinnehmen müssten. Zum anderen ist die Verlängerung der Zurechnungszeit gemäß § 59 Abs. 2 Satz 2 SGB VI in der seit dem 01.01.2001 gültigen Fassung (n.F.) ausdrücklich deswegen erfolgt, um die Auswirkungen der Verminderung des Zugangsfaktors für eine Rente wegen EWM bei jüngeren Versicherten abzumildern, wie das Sozialgericht Aachen
vgl. Urteil vom 09.02.2007 - Az: S 8 R 96/06 -
und Ruland,
- vgl. a.a.O. -
zutreffend ausgeführt haben.
Die Ausführungen des SG Lübeck,
Vgl. Urteil vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 -
wonach ältere Rentner einen "geringeren Bedarf" haben sollen, vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen. Zwar hat die Gruppe der über 60-jährigen im Regelfall keine Unterhaltspflichten mehr gegenüber Kindern, jedoch gegenüber den Eltern, die bei der typischen Generationsfolge von gut 20 Jahren mit über 80 Jahren häufig pflegebedürftig sind, ganz abgesehen von dem Umstand, dass die Gruppe der über 60-jährigen vielfach durch Kosten von Haushaltshilfen belastet wird, da zu diesem Zeitpunkt im Regelfall auch der Ehepartner nicht mehr so voll leistungsfähig ist, wie dies bei Frührentnern regelmäßig noch der Fall ist.
Bei dieser Sachlage führt die Auffassung des 4. Senats des BSG, des 8. Senats des LSG NRW und des SG Lübeck, wonach jüngere Versicherte durch die verlängerte Zurechnungszeit eine höhere Rente als vor 2001 erhalten sollen, während nur über 60-jährige Rentner deutliche Abschläge hinnehmen müssten, zu einer willkürlichen Ungleichbehandlung dieser Rentnergruppe, die mit Art. 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre, während die von der Beklagten vertretene Auffassung, die sich am Gesetzeswortlaut orientiert, eine angemessene Belastung aller Rentnergruppen nach sich zieht. Darüber hinaus ist diese Rechtsauffassung auch europarechtswidrig. Denn sie führt zu einer unzulässigen Altersdiskriminierung. Hierbei kann offenbleiben, ob die Richtlinie 2000/78/EG (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie) Anwendung findet. Denn der Europä- ische Gerichtshof (EuGH) hat im Urteil vom 22.11.2005 ausgeführt, dass das Verbot der Diskriminierung wegen Alters ein sog. "allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts" ist.
Vgl. EuGH, Urteil v. 22.11.2005 in Rs. Mangold/Helm, Az: C 144/04, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2006, S. 16 (20) -
Die Regelung über die Verminderung des Zugangsfaktors bei EWM-Rentnern verstößt auch nicht gegen höherrangiges Recht, nämlich Art. 14 GG, wie das Sozialgericht Aachen zutreffend und umfassend ausgeführt hat.
Vgl. a.a.O., S 8 ff -
Das Gericht schließt sich dieser Auffassung nach eigener Prüfung voll an.
Ein etwaiger Verstoß des § 77 Abs. 3 Satz 3 SGB VI, der Regelung für Altersrentner, gegen Art. 14 GG ist für das Verfahren ohne Bedeutung. Denn der Kläger gehört nicht zum Personenkreis der Altersrentner, so dass ihn ein solcher - etwaiger -Verfassungsverstoß offenkundig gar nicht in eigenen Rechten verletzen kann.
Ohne eine mögliche Verletzung des Klägers in eigenen Rechten durch eine vom Gericht für verfassungswidrig erachtete Norm scheidet indessen jede richterliche Überprüfung, die im Rahmen eines Vorlagebeschlusses zu erfolgen hat, ersichtlich aus.
Ein Verstoß des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI gegen Art. 2 Abs. 1 GG liegt offenkundig nicht vor. Denn Art. 2 Abs. 1 GG ist nach einhelliger Meinung in Literatur und Rechtsprechung ein Auffanggrundrecht gegenüber den speziellen Grundrechten und tritt hinter diese zurück, soweit deren Schutzbereiche reichen. Er gewinnt überhaupt nur Bedeutung, wenn kein Schutzbereich eines speziellen Grundrechts einschlägig ist.
Vgl. statt aller: Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 21. Auflage 2005, Randnr. 369 (S. 87) -
wie z.B. im Fall der Hinterbliebenenrente, die dem Schutzbereich des Art. 14 GG nicht unterfällt
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BverfG), Urteil vom 18.02.1998, - Az: 1 BvR 1318/86 und 1 BvR 1484/06 -.
Dass aber eine Rentenminderung des Versicherten, der selbst Beiträge entrichtet hat, grundsätzlich in den Schutzbereich des Art. 14 GG fällt, ist unumstritten.
Darüber hinaus erhellt sich dem Gericht der Sinnzusammenhang zwischen der zu Art. 2 GG von dem Kläger zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das über nicht anerkannte Heilmethoden bei lebensbedrohlichen Erkrankungen gesetzlich Krankenversicherter zu entscheiden hatte, und der hier streitigen Verminderung des Zugangsfaktors bei EWM-Rentnern nicht. Denn im Hinblick auf den stets gegebenen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen - früher Sozialhilfeleistungen -kann kein Rentner bei Rentenkürzungen in seinem Grundrecht auf Leben bedroht sein.
Auch ein Verstoß gegen Art. 3 GG ist erkennbar nicht gegeben. Denn § 77 SGB VI behandelt EWM- und Altersrentner nicht gleich. Zwar liegen insoweit identische Abschlagsregelungen vor. Jedoch erhalten EWM-Rentner eine verlängerte Zurechnungszeit, an der es bei Altersrentnern fehlt, § 59 Abs. 2 SGB VI. Von daher werden hier unterschiedliche Sachverhalte nur scheinbar gleich behandelt, da gesetzliche Vorschriften stets im Gesamtzusammenhang zu sehen und zu interpretieren sind.
Auch aus dem Sozialstaatsprinzip folgt evident kein Verfassungsverstoß des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI. Das Sozialstaatsprinzip richtet sich nach herrschender Meinung als Staatszielbestimmung primär an den Gesetzgeber.
Vgl. statt aller: Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 20. Aufl. 2004, Randnr. 431 (S. 177). -
Unmittelbare Leistungsansprüche des Bürgers gegen den Staat können aus ihm im Regelfall nicht abgeleitet werden.
Vgl. Degenhart, a.a.O., Randnr. 432 (S. 177) -
Selbst der einzige praktisch relevante Fall, nämlich der des Anspruchs auf Gewährung eines ein menschenwürdiges Dasein sichernden Existenzminimums, ließ sich nicht allein aus dem Sozialstaatsprinzip, sondern nur aus diesem in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, 2, Abs. 2 GG herleiten.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), BverwGE 1, S. 159; 52, S 346 -
Bei dieser Sachlage vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen, wie eine maximal 10,8 %-ige Rentenminderung gegen das Sozialstaatsprinzip sollte verstoßen und einen Anspruch des Klägers begründen können, zumal sogenannte "Kleinstrentner", wie oben ausgeführt, ergänzend Grundsicherungsleistungen beanspruchen können, so dass sie in ihrer Existenz unter keinen Umständen bedroht sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Das Gericht hat die Sprungrevision hier nach § 161 Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und von einer Entscheidung des BSG abweicht. Die Rentenkammern des SG Duisburg werden zudem derzeit mit Klagen, die den Zugangsfaktor betreffen, zahlenmäßig so massiv belastet, dass eine alsbaldige Klärung der umstrittenen Rechtsfrage durch das BSG unter Umgehung der 2. Instanz geboten erscheint, zumal die Arbeitsverdichtung bei den erstinstanzlichen Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in NRW durch die neuen Rechtsgebiete auf allen Rechtsgebieten inzwischen so erheblich ist, dass alle Klagen nicht mehr durchgängig in angemessener Frist erledigt werden können.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die rente des Klägers wegen Erwerbsminderung (EWM) mit dem Zugangsfaktor 1,00 zu berechnen ist.
Der 1949 geborene Kläger bezieht auf Grund gerichtlichen Vergleichs im Verfahrern S 34 (25) R 48/04 Rente wegen teilweiser EWM auf Dauer ab 01.09.2003, die ihm mit Berscheid vom 02.03.2007 bewilligt wurde. Bei der Rente erkannte die Beklagte im Versicherungsverlauf eine 67-monatige Zurechnungszeit vom 08.08.2003 bis 31.03.2009 an und verminderte den Zugangsfaktor 1,00 für die Zeit nach dem 30.09.2009 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres um monatlich 0,003. Sie errechnete damit für 33 Kalendermonate eine Verminderung von 0,099, so dass sie die sich aus dem Versicherungsverlauf ergebenden persönlichen Entgeltpunkte (EP) von 33,2410 mit 0,901 multiplizierte und der Rentenberechnung 29,9501 EP zugrunde legte. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, der bei der Beklagten am 13.03.2007 einging. Zur Begründung berief er sich auf ein Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R -, wonach die Kürzung des Zugangsfaktors vor Vollendung des 60. Lebensjahres unzulässig sei. Er bat um umgehende Bescheidung. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.07.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, das Urteil des 4. Senats des BSG stehe im Widerspruch zur geltenden Rechtslage und zu den Intentionen des Gesetzgebers, zumal zeitgleich mit der Verminderung des Zugangsfaktors durch § 77 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) eine Anhebung der Zurechnungszeit nach § 59 SGB VI erfolgt sei, um die Härten der Rentenminderung zu mildern. Besonders deutlich werde dieser Zusammenhang auch durch die §§ 253 a, 264 c SGB VI jeweils in Verbindung mit der Anlage 23 zum SGB VI: Nur in dem Umfang, in dem eine zusätzliche Zurechnungszeit stufenweise zu berücksichtigen sei, mindere sich auch der Zugangsfaktor.
Am 12.07.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt unter Hinweis auf ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Lübeck - S 14 R 191/07 - sein bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, die von der Beklagten vorgenommene Ausdeutung der gesetzlichen Vorschriften führe zu einem Verstoß gegen Art. 3 Grundgesetz (GG), da die Abschläge für Rentner, deren Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres wegfalle, nicht kompensierbar seien. Im übrigen dürften EWM-Rentner und Altersrentner nicht mit den gleichen
Abschlagsregelungen versehen werden, da nur Altersrentner frei entscheiden könnten, ob sie die Rente vor Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch nehmen wollten. Die Abschlagsregelung verstoße auch gegen Art. 2 GG, da Pflichtversicherte keinen Einfluss auf die Höhe der Beiträge und die ihnen dafür geschuldete Leistung hätten. Auch verbiete das Sozialstaatsprinzip Rentenkürzungen von nicht selten 10,8 %, da insoweit nicht privat zusatzversicherte Rentner in wirtschaftliche Bedrängnis gerieten, ohne dass dies vorhersehbar gewesen sei. Das Argument der verbesserten Zurechnungszeiten sei nicht durchschlagend, da es nicht nachvollziehbar sei, weshalb Versicherten einerseits etwas gegeben, andererseits aber etwas genommen werde.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 02.03.2007 und unter Aufhebung ihres Widerspruchsbescheides vom 05.07.2007 zu verurteilen, seine Rente wegen teilweiser EWM unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,00 zu berechnen und den Differenzbetrag, der sich ab 01.09.2003 ergibt, dem Kläger nachzuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat den Beteiligten neutralisierte Kopien einer Entscheidung der 21. Kammer des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 12.09.2007 - Az: S 21 R 131/07-, des SG Aachen vom 09.02.2007 - Az: S 8 R 96/06 - und des SG Lübeck vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 - im Termin zur mündlichen Verhandlung überreicht.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, betreffend den Kläger, Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage, mit der der Kläger die Neuberechnung seiner Rente wegen EWM unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors 1,00 sowie die Nachzahlung des Differenzbetrages, der sich ab 01.09.2003 ergibt, begehrt, ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig nach § 54 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die zulässige Klage ist aber nicht begründet, da die angefochtenen Bescheide nicht rechtswidrig sind. Folglich wird der Kläger durch sie auch nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Denn die Beklagte hat zu Recht den Rentenfaktor 1,00 bei der EWM-Rente des Klägers vermindert.
Nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist der Zugangsfaktor bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, für jeden Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend, § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI. Die Rentenbezugszeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres gilt insoweit nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme, § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI. Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Vorschriften, die das Gericht in Übereinstimmung mit Ruland
- Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 2007, S. 2086 ff -
für eindeutig hält, hat die Beklagte zu Recht den Zugangsfaktor bei der Berechnung der EWM-Rente des Klägers um 0,099 auf 0,901 vermindert und diesen Zugangsfaktor mit den persönlichen EP des Klägers von 33,2410 multipliziert.
So auch: SG Aachen, Urteil vom 09.02.2007, Az: S 8 R 96/06, Ruland a.a.O -
Die entgegenstehende Auffassung des 4. Senats des BSG,
Vgl. Urteil vom 16.05.2006 - Az: B 4 RA 22/05 R -
und des SG Lübeck sowie des Landessozialgerichts (LSG) NRW,
Vgl. Urteile vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 - und 09.05.2007 - Az: L 8 R 353/06 -
wonach aus § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI folge, dass Bezugszeiten einer Rente wegen EWM vor Vollendung des 60. Lebensjahres keine vorzeitigen Bezugszeiten seien, weshalb bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor 1,0 für die Rente gelte, hält das Gericht nicht für überzeugend. Denn diese Auffassung widerspricht zum einen dem Willen des Gesetzgebers, der die Rentenhöhe der Rentenbezieher aller Altersgrupppen, wenngleich in unterschiedlich starker Weise, herabsetzen wollte, soweit es nicht um die Regelaltersrente ab Vollendung des 65. Lebensjahres geht.
Vgl. Ruland, a.a.O. -
Darüber hinaus vermag das Gericht keinen sachlich einleuchtenden Grund dafür zu erkennen, dass Bezieher einer Rente wegen EWM, die nicht notwendig mit Vollendung des 60. Lebensjahres überhaupt einen Altersgeldanspruch haben, in einer Phase höheren Lebensalters eine Rentenminderung hinnehmen müssten. Zum anderen ist die Verlängerung der Zurechnungszeit gemäß § 59 Abs. 2 Satz 2 SGB VI in der seit dem 01.01.2001 gültigen Fassung (n.F.) ausdrücklich deswegen erfolgt, um die Auswirkungen der Verminderung des Zugangsfaktors für eine Rente wegen EWM bei jüngeren Versicherten abzumildern, wie das Sozialgericht Aachen
vgl. Urteil vom 09.02.2007 - Az: S 8 R 96/06 -
und Ruland,
- vgl. a.a.O. -
zutreffend ausgeführt haben.
Die Ausführungen des SG Lübeck,
Vgl. Urteil vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 -
wonach ältere Rentner einen "geringeren Bedarf" haben sollen, vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen. Zwar hat die Gruppe der über 60-jährigen im Regelfall keine Unterhaltspflichten mehr gegenüber Kindern, jedoch gegenüber den Eltern, die bei der typischen Generationsfolge von gut 20 Jahren mit über 80 Jahren häufig pflegebedürftig sind, ganz abgesehen von dem Umstand, dass die Gruppe der über 60-jährigen vielfach durch Kosten von Haushaltshilfen belastet wird, da zu diesem Zeitpunkt im Regelfall auch der Ehepartner nicht mehr so voll leistungsfähig ist, wie dies bei Frührentnern regelmäßig noch der Fall ist.
Bei dieser Sachlage führt die Auffassung des 4. Senats des BSG, des 8. Senats des LSG NRW und des SG Lübeck, wonach jüngere Versicherte durch die verlängerte Zurechnungszeit eine höhere Rente als vor 2001 erhalten sollen, während nur über 60-jährige Rentner deutliche Abschläge hinnehmen müssten, zu einer willkürlichen Ungleichbehandlung dieser Rentnergruppe, die mit Art. 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre, während die von der Beklagten vertretene Auffassung, die sich am Gesetzeswortlaut orientiert, eine angemessene Belastung aller Rentnergruppen nach sich zieht. Darüber hinaus ist diese Rechtsauffassung auch europarechtswidrig. Denn sie führt zu einer unzulässigen Altersdiskriminierung. Hierbei kann offenbleiben, ob die Richtlinie 2000/78/EG (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie) Anwendung findet. Denn der Europä- ische Gerichtshof (EuGH) hat im Urteil vom 22.11.2005 ausgeführt, dass das Verbot der Diskriminierung wegen Alters ein sog. "allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts" ist.
Vgl. EuGH, Urteil v. 22.11.2005 in Rs. Mangold/Helm, Az: C 144/04, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2006, S. 16 (20) -
Die Regelung über die Verminderung des Zugangsfaktors bei EWM-Rentnern verstößt auch nicht gegen höherrangiges Recht, nämlich Art. 14 GG, wie das Sozialgericht Aachen zutreffend und umfassend ausgeführt hat.
Vgl. a.a.O., S 8 ff -
Das Gericht schließt sich dieser Auffassung nach eigener Prüfung voll an.
Ein etwaiger Verstoß des § 77 Abs. 3 Satz 3 SGB VI, der Regelung für Altersrentner, gegen Art. 14 GG ist für das Verfahren ohne Bedeutung. Denn der Kläger gehört nicht zum Personenkreis der Altersrentner, so dass ihn ein solcher - etwaiger -Verfassungsverstoß offenkundig gar nicht in eigenen Rechten verletzen kann.
Ohne eine mögliche Verletzung des Klägers in eigenen Rechten durch eine vom Gericht für verfassungswidrig erachtete Norm scheidet indessen jede richterliche Überprüfung, die im Rahmen eines Vorlagebeschlusses zu erfolgen hat, ersichtlich aus.
Ein Verstoß des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI gegen Art. 2 Abs. 1 GG liegt offenkundig nicht vor. Denn Art. 2 Abs. 1 GG ist nach einhelliger Meinung in Literatur und Rechtsprechung ein Auffanggrundrecht gegenüber den speziellen Grundrechten und tritt hinter diese zurück, soweit deren Schutzbereiche reichen. Er gewinnt überhaupt nur Bedeutung, wenn kein Schutzbereich eines speziellen Grundrechts einschlägig ist.
Vgl. statt aller: Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 21. Auflage 2005, Randnr. 369 (S. 87) -
wie z.B. im Fall der Hinterbliebenenrente, die dem Schutzbereich des Art. 14 GG nicht unterfällt
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BverfG), Urteil vom 18.02.1998, - Az: 1 BvR 1318/86 und 1 BvR 1484/06 -.
Dass aber eine Rentenminderung des Versicherten, der selbst Beiträge entrichtet hat, grundsätzlich in den Schutzbereich des Art. 14 GG fällt, ist unumstritten.
Darüber hinaus erhellt sich dem Gericht der Sinnzusammenhang zwischen der zu Art. 2 GG von dem Kläger zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das über nicht anerkannte Heilmethoden bei lebensbedrohlichen Erkrankungen gesetzlich Krankenversicherter zu entscheiden hatte, und der hier streitigen Verminderung des Zugangsfaktors bei EWM-Rentnern nicht. Denn im Hinblick auf den stets gegebenen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen - früher Sozialhilfeleistungen -kann kein Rentner bei Rentenkürzungen in seinem Grundrecht auf Leben bedroht sein.
Auch ein Verstoß gegen Art. 3 GG ist erkennbar nicht gegeben. Denn § 77 SGB VI behandelt EWM- und Altersrentner nicht gleich. Zwar liegen insoweit identische Abschlagsregelungen vor. Jedoch erhalten EWM-Rentner eine verlängerte Zurechnungszeit, an der es bei Altersrentnern fehlt, § 59 Abs. 2 SGB VI. Von daher werden hier unterschiedliche Sachverhalte nur scheinbar gleich behandelt, da gesetzliche Vorschriften stets im Gesamtzusammenhang zu sehen und zu interpretieren sind.
Auch aus dem Sozialstaatsprinzip folgt evident kein Verfassungsverstoß des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI. Das Sozialstaatsprinzip richtet sich nach herrschender Meinung als Staatszielbestimmung primär an den Gesetzgeber.
Vgl. statt aller: Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 20. Aufl. 2004, Randnr. 431 (S. 177). -
Unmittelbare Leistungsansprüche des Bürgers gegen den Staat können aus ihm im Regelfall nicht abgeleitet werden.
Vgl. Degenhart, a.a.O., Randnr. 432 (S. 177) -
Selbst der einzige praktisch relevante Fall, nämlich der des Anspruchs auf Gewährung eines ein menschenwürdiges Dasein sichernden Existenzminimums, ließ sich nicht allein aus dem Sozialstaatsprinzip, sondern nur aus diesem in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, 2, Abs. 2 GG herleiten.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), BverwGE 1, S. 159; 52, S 346 -
Bei dieser Sachlage vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen, wie eine maximal 10,8 %-ige Rentenminderung gegen das Sozialstaatsprinzip sollte verstoßen und einen Anspruch des Klägers begründen können, zumal sogenannte "Kleinstrentner", wie oben ausgeführt, ergänzend Grundsicherungsleistungen beanspruchen können, so dass sie in ihrer Existenz unter keinen Umständen bedroht sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Das Gericht hat die Sprungrevision hier nach § 161 Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und von einer Entscheidung des BSG abweicht. Die Rentenkammern des SG Duisburg werden zudem derzeit mit Klagen, die den Zugangsfaktor betreffen, zahlenmäßig so massiv belastet, dass eine alsbaldige Klärung der umstrittenen Rechtsfrage durch das BSG unter Umgehung der 2. Instanz geboten erscheint, zumal die Arbeitsverdichtung bei den erstinstanzlichen Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in NRW durch die neuen Rechtsgebiete auf allen Rechtsgebieten inzwischen so erheblich ist, dass alle Klagen nicht mehr durchgängig in angemessener Frist erledigt werden können.
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