Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 67 U 1118/95 W01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 43/03 -16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2003 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig sind die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) – bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können - sowie die Gewährung von Entschädigungsleistungen (Verletztengeld und Verletztenrente).
Der 1933 geborene Kläger absolvierte vom 01. Januar 1949 bis zum 30. Februar 1952 (Prüfungszeugnis vom 06. Februar 1952) eine Lehre zum Glaser. Vom 01. März 1952 bis zum 15. Mai 1955 war er bei der kasernierten Volkspolizei. Danach arbeitete er im Beitrittsgebiet vom
03. Oktober 1955 - 07. Januar 1956 als Glaser bei der Firma B in Z, 23. März 1956 - 01. Juni 1956 als Schädlingsbekämpfer beim Fachbetrieb für Pflanzenschutz in G, 06. Juni 1956 - 05. März 1957 als Glasergeselle bei der Bau- und Kunstglaserei M in W, 11. März 1957 – 01. August 1960 als Glasergehilfe bei der Kunst- und Bauglaserei B in N, 16. August 1960 – 31. Dezember 1991 als (Bau)Glaser beim VEB M und GB bzw. nach Aufgehen dieses VEB im VEB A B ab 01. Januar 1963 beim VEB A B, zuletzt als Brigadier 01. Januar 1992 – 31. August 1995 als (Bau)Glaser (Vorarbeiter) bei Glasbau V GmbH in B.
Nach eigenen Angaben kam es erstmals im Jahre 1967 zu lumbalen Rückenbeschwerden. Ab dem 06. Juni 1994 war er arbeitsunfähig erkrankt wegen Rückenschmerzen mit Ausstrahlung in das rechte Bein. Es erfolgte eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der S-Kurklinik in B N (Kostenträger war die damalige LVA Berlin), aus der er als arbeitsunfähig entlassen wurde. Seit dem 01. April 1996 bezog er rückwirkend ab dem 12. April 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 26. Februar 1996). Seit dem 01. Oktober 1998 erhält er Regelaltersrente.
Auf Betreiben seiner behandelnden Ärztin stellte sich der Kläger am 14. Juli 1994 bei dem BK-Arzt und Allgemeinmediziner Dr. B vor, der aufgrund eines lumbalen spinalen CTs vom 05. Juli 1994 (schwergradige Osteochondrose mit konsekutiver Spondylosis deformans und Spondylarthrose in den Segmenten L4 bis S1, breitbasiger Bandscheibenprolaps L4/5 mit erheblicher Einengung des Neuroforamens, schwergradige knöcherne Einengung der Neuroforamina bei L5/S1), Röntgenbildern des Thorax vom 15. Januar 1994 sowie der Lendenwirbelsäule vom 21. Juni 1994 (erhebliche Bandscheibenverschmälerung zwischen L4/5 und L5/S1 mit Spondylolisthesis um etwa 1 cm zwischen L4/5) und einer eigenen Untersuchung eine Gefahr für das Entstehen einer BK 2108 sah. Am 02. Februar 1995 erfolgte eine Kontrolluntersuchung durch Dr. B, der nunmehr einen begründeten Verdacht auf eine BK 2108 äußerte. Unter Berücksichtigung dieser medizinischen Unterlagen, der Angaben des Klägers vom 15. August 1994, einer Auskunft des letzten Arbeitgebers vom 06. September 1994 sowie einer Stellungnahme ihres eigenen technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 11. Oktober 1994 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Oktober 1995 die Gewährung einer Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, da eine BK 2108 nicht vorliege. Nach den Feststellungen des TAD und gemäß der Dokumentation des Belastungsumfangs eines Bauglasers sei er nur zu ca. 20% der Gesamtarbeitszeit (GAZ) gefährdend tätig gewesen. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 1995 zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhoben und zunächst vorgetragen, er sei in wesentlich stärkerem Umfang gefährdend tätig gewesen als von der Beklagten angenommen. Zum Umfang der Belastung hat er schriftliche Angaben seines ehemaligen Abteilungsleiters G W vom 18. März 1996 zu den Akten gereicht.
Die Beklagte hat weitere – negative - Stellungnahmen ihres TAD (vom 02. Mai 1996 und 01. November 1996) sowie ein von ihr in Auftrag gegebenes orthopädisches (Zu-sammenhangs) Gutachten von Prof. Dr. N/Dr. W vom 08. Juli 1996 vorgelegt. Die Gutachter sind darin zu dem Schluss gelangt, bei dem Kläger bestehe eine durch berufliche Einwirkungen verursachte bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei mit 20 v. H. anzusetzen.
Das SG hat daraufhin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 1997 die Zeugen G W, J K (Vorgesetzter des Klägers vom 01. Februar 1985 bis zum 31. August 1995) und J B zur Frage der beruflichen Belastung des Klägers ab 1960 be-fragt. Die Beklagte ist anschließend bei ihrer Auffassung verblieben, der Kläger sei nicht in ausreichendem Umfang gefährdend tätig gewesen (Stellungnahme des TAD vom 19. Dezember 1997).
Durch Beschluss des SG vom 30. September 1998 ist das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden, die Wiederaufnahme ist im September 2001 erfolgt.
Das SG hat nunmehr die Schwerbehindertenakte des Klägers beigezogen und Auszüge hieraus in den Rechtsstreit eingeführt. Weiterhin hat es ein Vorerkrankungsverzeichnis des Klägers sowie Befundberichte von dem behandelnden Allgemeinmediziner Dr. M vom 25. Februar 2002, dem Orthopäden Dr. W vom 21. Februar 2002, dem Neurochirurgen Dr. S vom 22. Februar 2002, der Orthopädin Dipl.-Med. W vom 28. März 2002 sowie dem Chirurgen Dr. L vom 14. Oktober 2002 eingeholt.
Die Beklagte hat Stellungnahmen des TAD nach den Kriterien des Mainz-Dortmunder-Dosis-Modells (MDD) vom 10. April 2002 sowie des Orthopäden Dr. E vom 29. März 2002 vorgelegt. Der TAD hat in seiner Stellungnahme eine Gesamtdosis von 17,96 x 106 Nh für den Zeitraum vom 01. Juli 1949 bis zum 31. Dezember 1994 errechnet und die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 verneint. Dr. E hat es nicht für wahrscheinlich erachtet, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden sei.
Das SG hat die Beklagte durch Urteil vom 23. Mai 2003 verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer BK 2108 ab dem 06. Juni 1994 Entschädigungsleistungen, insbesondere Verletztengeld vom 06. Juni 1994 bis zum 11. April 1995 sowie ab dem 12. April 1995 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H., zu gewähren. Es ist dabei zu der Auffassung gelangt, die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien sowohl nach dem Kriterium der gefährdenden Tätigkeit zu mindestens 1/3 der GAZ als auch – wahrscheinlich – nach dem MDD erfüllt. Die Beklagte habe nicht hinreichend die Angaben des Klägers sowie der Zeugen berücksichtigt. Darüber hinaus seien auf der Grundlage des von der Beklagten eingeholten fachärztlichen Gutachtens der Prof. Dr. N/Dr. W auch die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 erfüllt. Soweit Dr. E dem entgegen getreten sei, seien dessen Argumente nicht überzeugend.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der diese zunächst vorgetragen hat, es fehle im vorliegenden Fall sowohl an den arbeitstechnischen als auch an den arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für eine BK 2108.
Die Beklagte hat in der Folge nach Hinweisen des Gerichts, weiterem Vortrag des Klägers (insbesondere auch zu den Arbeitszeiten), Vorlage eines Auszugs aus dem Sozialversicherungsausweis sowie nach Einreichung weiterer schriftlicher Angaben der Zeugen K vom 29. Dezember 2003 und W vom 02. Januar 2004 mehrere Stellungnahmen des TAD jeweils als worst-case-Berechnungen vorgelegt, nämlich vom 21. November 2003 (15,98 x 106 Nh), 08. Juni 2004 (21,0 x 106 Nh) und 02. Dezember 2004 (24,43 x 106 Nh).
Der Senat hat zunächst die Schwerbehindertenakte sowie die Rentenakte der LVA Berlin (heute: DRV Berlin-Brandenburg) beigezogen und anschließend den Orthopäden Dr. M mit der Untersuchung des Klägers und der Erstellung eines Sachverständigengutachtens betraut. In seinem Gutachten vom 03. Oktober 2005 ist dieser nach einer körperlichen Untersuchung des Klägers am 16. August 2005 zu dem Ergebnis gelangt, bei dem Kläger seien folgende Diagnosen zu stellen:
• Degeneratives Lumbalsyndrom mit pseudoradikulären und intermittierend radikulären Schmerzausstrahlungen • Mäßiggradiges cervikales Schmerzsyndrom mit insgesamt altersentsprechenden Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule • Mäßiggradige Gonarthrosen.
Radiologisch bestünden keine Hinweise für einen anlagebedingten Gleitvorgang. Eine Kontinuitätsunterbrechung oder dysplastische Veränderung der Interartikularportion lasse sich nicht nachweisen. Im Segment L3/4 kämen altersentsprechend mittelgradige Degenerationen zur Darstellung. Darüber seien die Veränderungen als altersgerecht einzustufen. Insbesondere sei bei L1/2, wo diskrete Residuen (und nur dort) eines Morbus Scheuermann auffielen, kein altersvorauseilender Verschleiß auffällig. Andere anlagebedingte Faktoren seien auszuschließen. Im Ergebnis der klinischen Untersuchung und der genauen Untersuchung der Röntgenbilder (vom 04. Januar 2001, 12. November 2001, 08. Januar 2003, 19. Januar 2004 und 16. August 2005) handele es sich um eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Das Schadensbild sei belastungskonform insoweit, als ein von oben nach unten zunehmendes Schadensmuster vorliege. Es sei daher eine BK 2108 anzuerkennen, wenn die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien. Berufskrankheitenbedingte Arbeitsunfähigkeit bestehe seit Juli 1994. Die Gesundheitsstörungen im Bereich der Lendenwirbelsäule bedingten eine MdE von 20 v. H.
Die Beklagte hat in Erwiderung hierauf eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. F vom 25. Januar 2006 eingereicht, in der dieser nach Neubefundung der vorliegenden Röntgenbilder aus den Jahren 2001, 2004 und 2005 die Auffassung vertreten hat, aus den Röntgenbildern ergebe sich hier eine Scheuermann´sche Erkrankung sämtlicher Wirbelsäulenabschnitte, zugleich liege ein primäres Bandscheibenschadensbild nicht vor. Primärschaden sei hier die Verknöcherungsstörung des Wirbelbogens von LWK 4. Ein eindeutiges neurologisches Schadensbild, das auf einen Nervenwurzelschaden hindeute, existiere nicht. Im letzten Gutachten von Dr. M fänden sich typische Beschwerden im Sinne einer Claudicatio spinalis, jedoch ohne eindeutigen nervenwurzelbezogenen Schaden. Es handele Eine BK 2108 liege daher medizinisch gesehen nicht vor. Der Funktionsschaden bedinge im Übrigen nur eine MdE von 10 v. H.
In einer ergänzenden Stellungnahme hierzu vom 30. Mai 2006 hat der Sachverständige Dr. M – allerdings ohne erneute Einsichtnahme in die Röntgenbilder – die Ausführungen des Dr. F nicht nachvollziehen können. Weder seien die zur Erfüllung der radiologischen Definition eines vollen Scheuermanns erforderlichen Keilwirbel an mindestens drei aufeinander folgenden Segmenten mit mindestens 5° Neigung noch seien grobe Unregelmäßigkeiten der Grund- und Deckplatten, alte Schmorl´sche Knoten oder abgelaufene ventrale Kantenabrisse an den Wirbelkörpern oder eine kurzbogige Kyphose vorhanden. Grundsätzlich halte er den Morbus Scheuermann, wenn er denn als solcher vorliege, sehr wohl für ein Ausschlusskriterium bei der Diskussion über eine BK 2108. Im vorliegenden Fall treffe dies aber nicht zu. Zumal gerade in dem Segment, in dem man beim Kläger am ehesten Auswirkungen eines Morbus Scheuermann erwarten müsste (LWK1), keine altersvorauseilenden Gesamtveränderungen zu erkennen seien. Darüber hinaus bewerte er das Wirbelgleiten weiterhin als degenerativ. Eine MdE von 10 v. H. sei im Übrigen zu niedrig.
Unter den Daten 30. Juni 2006 und 31. Juli 2006 hat Dr. F auf Bitten der Beklagten zwei weitere beratungsärztliche Stellungnahmen abgegeben. In seinen Stellungnahmen ist er bei seiner Beurteilung verblieben und hat insbesondere darauf hingewiesen, dass aus seiner Sicht die "Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des HVBG eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe – Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (I), Trauma und Berufskrankheit, Springer Medizin Verlag, Heft 3/2005 S. 211ff " (in Zukunft nur noch: Konsensempfehlungen) in Bezug auf den Morbus Scheuermann (Punkt 2.1.9) unbrauchbar seien.
In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 20. Januar 2007 ist Dr. M ebenfalls bei seiner Auffassung verblieben.
Die Beklagte hat daraufhin eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. P vom 27. März 2007 eingeholt, in der dieser eine erneute Röntgendiagnostik empfohlen hat. Mit Einverständnis des Klägers ist sodann am 11. September 2007 im Ukrankenhaus B (UKB) ein MRT der gesamten Wirbelsäule nativ erstellt worden. Unter Auswertung dieser Bilder sowie von CTs der Lendenwirbelsäule vom 05. März 1999, 23. Januar 2002 und 19. Januar 2004, Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule vom 04. Januar 2001, 08. Januar 2003, 20. November 2003, 16. August 2005, 16. Juni 2007, Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule vom 16. August 2005, des Thorax vom 13. Januar 2006 sowie der Brustwirbelsäule vom 16. Juni 2007 sowie letztlich eines Untersuchungsberichts der Radiologen Prof. Dr. M/Dr. R vom 18. Oktober 2007 samt ergänzender Stellungnahme der Frau Dr. R vom 28. Dezember 2007 ist Dr. P in einer beratungsärztlichen Stellungnahme für die Beklagte vom 18. März 2008 zu dem Schluss gelangt, eine BK 2108 sei aus medizinischer Sicht abzulehnen, denn 1. eine bandscheibenbedingte Erkrankung liege nach der Definition der Konsensempfehlungen nicht vor, 2. es ließen sich keine eindeutigen belastungsadaptiven Veränderungen nachweisen, die auf eine mechanische Überlastung des Achsorgans hindeuten könnten, 3. es lasse sich keine plausible zeitliche Korrelation zwischen der beruflichen Belastung und dem morphologischen Bild nachweisen, 4. die unteren drei Segmente der Lendenwirbelsäule seien nicht schwerpunktmäßig betroffen, 5. es lasse sich keine eindeutige Zunahme der Schäden von kranial nach kaudal nachweisen, 6. es lasse sich an der Lendenwirbelsäule kein belastungskonformes Schadensbild nachweisen, 7. als konkurrierende Ursache zur BK 2108 lasse sich an der Lendenwirbelsäule eine juvenile Aufbaustörung analog dem Morbus Scheuermann nachweisen.
Für die Beurteilung der Wirbelsäule nach den Konsensempfehlungen seien die zur beruflichen Exposition zeitnächsten Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule in zwei Ebe-nen heranzuziehen. Dies seien hier die Aufnahmen der Halswirbelsäule vom 16. August 2005 sowie der Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule vom 12. November 2001. Danach zeigten sich radiologisch unter Anwendung der Maßgaben der Kon-sensempfehlungen im Bereich der Lendenwirbelsäule im Segment L4/5 eine Chondrose Grad I und im Segment L5/S1 eine Chondrose Grad II, eine Spondylolisthesis des LWK 4 gegenüber LWK 5 mit einem Schweregrad nach Meyerding I sowie in den MRT-Bildern Deformierungen mehrerer Brustwirbelkörper mit intraossären Bandscheibenherniationen (Schmorl´sche Knötchen), die mit zusätzlichen Degenerationen der entsprechenden Bandscheiben einen Hinweis auf Residuen einer abgelau-fenen Scheuermann´schen Erkrankung gäben. Weitere Schmorl´sche Knötchen fänden sich in der Deckplatte des LWK 1 sowie in den Grund- und Deckplatten von LWK 4 und 5. Im Bereich der Lendenwirbelsäule lasse das MRT deutliche Chorda-Rückbildungsstörungen erkennen, die sich vor allem am LWK 1, 4 und 5 deutlich manifestierten. Es zeige sich das Vollbild einer juvenilen Aufbaustörung analog dem Morbus Scheuermann. Bandscheibenschäden, die das im Alter von 68 Jahren (2001) zu erwartende durchschnittliche Maß überschritten, lägen eindeutig für die Segmente L4/5 und L5/S1 vor. Über das radiologische Bild hinaus sei jedoch nach den Kon-sensempfehlungen zur Feststellung einer bandscheibenbedingten Erkrankung eine entsprechende klinische Symptomatik unabdingbar. Unter Beachtung der Befunde im orthopädischen Gutachten der Prof. Dr. N/Dr. W vom 08. Juli 1996 komme hier nur ein radikuläres Wurzelsyndrom in Betracht. Dafür fehle es jedoch an korrelierenden Zeichen der Reizung bzw. Schädigung der entsprechenden Nervenwurzeln. Denn während radiologisch im Segment L4/5 die Wurzel L4 rechts und im Segment L5/S1 die Wurzeln L5 sowie S1 links irritiert werden könnten, zeigten sich beim Kläger tatsächlich lediglich Zeichen der Wurzelirritation L5 bzw. S1 rechts (Abschwächung der Sensibilität auf der rechten Seite im Bereich der äußeren Wade, der Ferse, des Fußrückens und des Fußaußenrandes, negative Zeichen nach Lasègue und Bragard, physiologische Reflexe, Erhalt der groben Kraft in allen Muskelgruppen der unteren Extremitäten). Außerdem seien Begleitspondylosen nicht sicher feststellbar, denn nach dem 60. Lebensjahr verschwänden die Gruppenunterschiede wieder. Belastungs-
adaptive Veränderungen an der oberen Lendenwirbelsäule und unteren Brustwirbelsäule im Sinne einer Spondylosis deformans fehlten. Es handele sich um ein bisegmentales Schadensbild, ohne dass die übrigen Lendenwirbelsäulensegmente Anzeichen von belastungsadaptiven Veränderungen aufwiesen. Nach den Ergebnissen biomechanischer Studien müsste sich bei mechanisch bedingten Veränderungen der Lendenwirbelsäule eine Betonung der Bandscheibenschäden an den unteren drei Segmenten der Lendenwirbelsäule manifestieren, wie es auch die Konsensempfehlungen forderten. Das Segment L3/4 zeige hier aber rein rechnerisch keine Chondrose und erscheine röntgenologisch weitestgehend unauffällig. Die darüber liegenden Segmente zeigten keine zu erwartenden belastungsadaptiven Reaktionen. Das röntgenologische Schadensbild sei demnach nicht belastungskonform. Ebenso wenig sei das Schadensbild von kranial nach kaudal zunehmend. Auch wenn sich rein rechnerisch bei L4/5 eine Chondrose Grad I und bei L5/S1 eine Chondrose Grad II ergebe, imponiere optisch eine isolierte Schädigung der beiden unteren Segmente. Eine plausible zeitliche Korrelation zwischen der beruflichen Belastung und dem morphologischen Befund lasse sich demzufolge ebenfalls nicht herstellen. Zwar sei die Spondylo-listhesis Meyerding Grad I nach den Konsensempfehlungen keine konkurrierende Ursache zur BK 2108, anders sei dies jedoch bei einem lumbalen Morbus Scheuermann wie hier, der sich genau auf die beiden letzten Segmente der Lendenwirbelsäule konzentriere.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 23. Juni 2008 hat Dr. M insbesondere zur Frage des Vorliegens einer korrelierenden klinischen Symptomatik Zweifel an der Beurteilung des Dr. P geäußert. Eine Rezessusstenose L4/5 durch knöcherne Hypertrophie der Facettengelenke führe in erster Linie zu einer Irritation und Kompression der Wurzel L5 im Lateralrezessus und viel weniger zu einer der Wurzel L4. Ein positives Lasègue-Zeichen finde man im klinischen Alltag nur bei relativ frischen, reinen Bandscheibenproblemen.
Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat sodann den Orthopäden Dr. K mit der Untersuchung des Klägers und Erstellung eines Sachverständigengutachtens betraut. In seinem Gutachten vom 16. März 2009 hat dieser nach eigener Untersuchung des Klägers am 03. Dezember 2008 folgende Diagnosen gestellt:
• lumbale Spinalknalstenose bei geringer Lumbalskoliose, deutlicher Spondylarthrose, Spondylolisthesis Meyerding I • Bandscheibenaufbrauchschaden in Höhe L4/5, L5/S1 (degenerativer Bandscheibenaufbrauchschaden) • Scheuermann´sche Erkrankung der gesamten Wirbelsäule • Keilwirbelbildung nach Th-12-Fraktur (Kompressionsfraktur).
Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule hat er verneint.
Die Beklagte ist jetzt der Auffassung, nach dem Ergebnis der Beweiserhebung fehle es an den arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er geht davon aus, dass sämtliche Voraussetzungen für eine BK 2108 erfüllt seien. Die Beklagte habe bei ihren bisherigen Berechnungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen die Maßgaben des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 30. Oktober 2007 – B 2 U 4/06 R – noch nicht umgesetzt. Unter Anwendung der Vorgaben des BSG aus diesem Urteil müsse die Gesamtbelastungsdosis noch wesentlich höher als bisher errechnet angesetzt werden. Auch die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen seien erfüllt. Dem Gutachten des Dr. K könne nicht gefolgt werden. Die Konsensempfehlungen stellten Empfehlungen der Beklagten dar und seien somit durch das Gericht überprüfbar. Sie könnten nicht als Ablehnungskriterium in einem Gutachten verwendet werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Schwerbehindertenakte und der in kompletter Kopie vorliegenden Rentenakte der DRV Berlin-Brandenburg verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 27. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 1995 ist im Ergebnis rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung, sei es Verletztengeld, sei es Verletztenrente, denn eine BK Nr. 2108 liegt bei ihm nicht vor. Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2003 war daher aufzuheben.
Rechtsgrundlage sind die Rechtsvorschriften des Dritten Buchs der Reichsversicherungsordnung (RVO), da der Eintritt einer BK und der Beginn der Leistung für einen Zeitpunkt vor Inkrafttreten des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) am 01. Januar 1997 geltend gemacht wird (§§ 212, 214 SGB VII). Der Kläger hat die gefährdende Tätigkeit als (Bau)Glaser am 06. Juni 1994 vollständig aufgegeben. Ab diesem Zeitpunkt war er arbeitsunfähig erkrankt und hat hiernach keine berufliche Tätig-keit – gleich welcher Art – mehr aufgenommen, so dass als Zeitpunkt des Versicherungsfalls nur der 06. Juni 1994 in Betracht kommt. Nach §§ 547 ff RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt eines Arbeitsunfalls Leistungen aus der Unfallversicherung. Als Arbeitsunfall gilt nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann BKen auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten versehen.
Gemäß diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf. bei einzelnen Listen-BKen einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R – in SozR 4-2700 § 9 Nr. 7 und vom 09. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a. a. O.).
Von Nr. 2108 der Anlage zur BKV werden "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben ursächlich waren oder sein können", erfasst. Nach dem Tatbestand der BK 2108 muss also der Versicherte auf Grund einer versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw. in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben. Durch die spezifischen, der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden besonderen Einwirkungen muss eine bandscheibenbedingte Erkran-kung der LWS entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen muss ein sachlicher Zusammenhang und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen. Der Versicherte muss darüber hinaus gezwungen gewesen sein, alle gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt eine BK 2108 nicht vor (vglBSG, Urteile vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 4/06 R– inSozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 2108 sowie vom 18. November 2008 - B 2 U 14/07 R – und – B 2 U 14/08 R – jeweils zitiert nach Juris) und ist nicht anzuer-kennen.
Der Anspruch des Klägers scheitert hier nicht daran, dass die so genannten arbeits-technischen Voraussetzungen, d. h. die im Sinne der BK 2108 erforderlichen Einwir-kungen durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw. Arbeit in Rumpfbeuge-haltung, nicht gegeben wären. Dies ergibt sich auch nicht aus den vorliegenden Be-rechnungen des TAD der Beklagten zum Ausmaß der mechanischen Belastung nach dem MDD (vgl. dazu die grundlegende Veröffentlichung von Jäger u. a., ASUMed 1999, 101 ff, 112 ff). Die Beklagte hat im gesamten Verfahrensverlauf vier Berech-nungen nach dem MDD durch ihren TAD vorgelegt. Daraus ergeben sich folgende Gesamtdosen: 10. April 2002 17,93 x 106 Nh 21. November 2003 15,98 x 106 Nh (für den Zeitraum ab 1963) 08. Juni 2004 21,0 x 106 Nh 02. Dezember 2004 24,43 x 106 Nh.
Zwar ist danach die nach dem MDD vorgegebene Gesamtdosis von 25 x 106 Nh un-terschritten. Dennoch sind die so genannten arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt, denn das MDD legt selber für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die auf Grund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfel-der ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis, sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu ver-stehen. Von diesem Verständnis geht auch das aktuelle Merkblatt des Bundesministe-riums für Arbeit und Sozialordnung zur BK 2108 aus, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist BArbBl 2006, Heft 10 S. 30 ff) Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden; umge-kehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht von vornherein aus (vgl. BSG Urteile vom 30. Oktober 2007 a. a. O. sowie vom 18. No-vember 2008 a. a. O.).
Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig un-terschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zu-sammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der die Wirbelsäu-le belastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, et-wa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwir-kungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist das Vorliegen einer BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (vgl. BSG Urteile vom 30. Oktober 2007 a. a. O. sowie vom 18. November 2008 a. a. O.).
Das BSG hat daher in seinen Entscheidungen vom 30. November 2008 – B 2 U 14/07 R und B 2 U 14/08 R - Modifizierungen zur Anwendung des MDD für notwendig erach-tet. Danach ist die dem MDD zu Grunde liegende Mindestdruckkraft pro Arbeitsvor-gang bei Männern nunmehr mit dem Wert 2.700 N pro Arbeitsvorgang anzusetzen. Auf eine Mindesttagesdosis ist nach dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten. Alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelas-tung von 2.700 N bei Männern erreichen, sind entsprechend dem quadratischen An-satz (Kraft mal Kraft mal Zeit) zu berechnen und aufzuaddieren. Der untere Grenz-wert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzu-sammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkran-kung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Er-mittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 x 106 Nh, also auf 12,5 x 106 Nh, herabzusetzen.
Berücksichtigt man dies, ist der maßgebliche Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh hier in jedem Fall erfüllt, zumal die bisher vorliegenden Berechnungen des TAD nach dem MDD noch von einer erforderlichen Mindesttagesdosis ausgehen.
In der medizinischen Wissenschaft ist anerkannt, dass Bandscheibenschäden und Bandscheibenvorfälle insbesondere der unteren Lendenwirbelsäule in allen Alters-gruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vorkommen. Sie sind von multifakto-rieller Ätiologie. Da diese Bandscheibenerkrankungen ebenso in Berufsgruppen vor-kommen, die während ihres Arbeitslebens keiner schweren körperlichen Belastung ausgesetzt waren, genauso wie in solchen, die wie der Kläger schwere körperliche Arbeiten geleistet haben, kann allein die Erfüllung der arbeitstechnischen Vorausset-zungen im Sinne des MDD die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen Kausalzusammenhanges nicht begründen (vgl. Merkblatt zu der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zur BKV, BArbBl. 10-2006, S. 30 ff. ).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK 2108 nicht gegeben. Das Vorliegen einer durch die berufli-che Tätigkeit verursachten bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäu-le ist nicht nachgewiesen. Der Senat stützt sich hierbei auf die umfangreiche, gründli-che und an dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft und Forschung ausgerichteten Stellungnahme des beratenden Arztes der Beklagten Dr. P vom 18. März 2008.
Die beim Kläger festgestellten Veränderungen der Wirbelsäule stellen keine band-scheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule im Sinne der BK 2108 dar. Zu der Frage, was unter einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS zu verstehen sein soll, hat der Verordnungsgeber in der Begründung zur zweiten Änderungsverord-nung (2. ÄndVO), durch welche die BK 2108 in die Berufskrankheitenliste aufgenom-men worden ist (BR-Druck 773/92 S.8), eingehende Ausführungen gemacht. Danach sind unter bandscheibenbedingten Erkrankungen zu verstehen: Bandscheibendege-neration (Diskose), Instabilität im Bewegungssegment, Bandscheibenvorfall (Prolaps), degenerative Veränderungen der Wirbelkörperabschlussplatten (Osteochondrose), knöcherne Ausziehungen an den vorderen seitlichen Randleisten der Wirbelkörper (Spondylose), degenerative Veränderungen der Wirbelgelenke (Spondylarthrose) mit den durch derartige Befunde bedingten Beschwerden und Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule. Erforderlich ist ein Krankheitsbild, das über einen längeren Zeitraum andauert, also chronisch oder zumindest chronisch wiederkehrend ist, und das zu Funktionseinschränkungen führt, die eben eine Fortsetzung der genannten Tätigkeit unmöglich machen. Erforderlich sind daher ein bestimmtes radiologisches Bild sowie ein damit korrelierendes klinisches Bild (vgl. das aktuelle Merkblatt zur BK 2108, BArbBl. 10-2006, S. 30ff sowie die Konsensempfehlungen Punkt 1.3).
Heranzuziehen sind richtigerweise die der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zeitlich nächstliegenden Röntgenbilder (vgl. auch Punkt 1.2 der Konsensempfehlungen). Zwar stellen sich im Falle des Klägers nach übereinstimmender Auffassung aller in dem Verfahren involvierten Mediziner (Dr. B vom 19. Juli 1994 und 05. Dezember 1995, Prof. Dr. N/Dr. W vom 08. Juli 1996, Dr. M vom 03. Oktober 2005, Dr. K vom 16. März 2009) morphologisch Bandscheibenschäden dar. So werden schon im Befund des lumbalen spinalen CTs vom 05. Juli 1994 eine schwergradige Osteochondrose mit konsekutiver Spondylosis deformans und Spondylarthrose in den Segmenten L 4 bis S1 sowie ein breitbasiger Bandscheibenprolaps mediorechtslateral bei L4/5 mit erheb-licher Einengung des Neuroforamens, schwergradiger knöcherner Einengung der Neuroforamina bei L5/S1 beschrieben. Diese sind auch altersuntypisch, wie Dr. P in seiner Stellungnahme als beratender Arzt der Beklagten vom 18. März 2008 nachvoll-ziehbar unter Zugrundelegung der Röntgenaufnahmen vom 12. November 2001 in Bezug auf die Chondrose Grad I im Segment L4/5 und die Chondrose Grad II im Seg-ment L5/S1 dargestellt hat.
Es fehlt jedoch an mit dem morphologischen Bild korrelierenden chronischen klini-schen Beschwerden und Funktionseinschränkungen, wie Dr. P in der eben genannten Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat. Dr. B hat am 14. Juli 1994 eine Einschränkung der Beweglichkeit der Lendenwirbel-säule vor allem in der Vor- und Rückbeugung sowie der Seitneigung, einen Sensibili-tätsausfall am rechten Bein im Bereich der Außenseite und Vorderseite von Ober- und Unterschenkel sowie der Großzehe festgestellt. Der Lasègue war rechts bei 50° und links bei 70° positiv. Die Reflexe waren erhalten, die Motorik uneingeschränkt. Hin-sichtlich der zweiten Untersuchung am 02. Februar 1995 hat Dr. B eine Einschrän-kung der Beweglichkeit bei der Vor- und Rückbeugung, eine Trägheit der Reflexe an den unteren Extremitäten und Schmerzen in der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in das rechte Bein (Außenseite Ober- und Unterschenkel und Vorfuß im Großzehen-bereich) bei erhaltener grober Kraft und Motorik beschrieben. Die behandelnde Allgemeinmedizinerin Dr. W hat in einem Befundbericht vom 26. September 1994 von seit November 1993 verstärkten Rückenschmerzen mit Schmerzausstrahlung in das rechte Bein berichtet. Es bestehe eine Haut-Sensibilitätsstörung am rechten Bein seitlich bei Steilstellung der Lendenwirbelsäule und Bewegungsstörung der Wirbelsäule mit Gangstörung. Dr. S hat für den MDK am 23. November 1994 eine erhebliche Einschränkung der Beweglichkeit der Brust- und Lendenwirbeläule in der Seitneigung sowie in der Vor-neigung bei beidseits negativen Zeichen nach Lasègue und Bragard sowie ohne pa-thologische Reflexe festgestellt. Von der Außenseite von der Mitte des rechten Ober-schenkels bis zur Fußkante bestand eine deutliche Minderung des Tastempfindens, wobei im Fußbereich kaum Schmerzempfindlichkeit bestand. Die grobe Kraft der Fü-ße war erhalten, das Gangbild unauffällig. Im Reha-Entlassungsbericht vom 11. April 1995 finden sich eine Sensibilitätsminde-rung an der rechten Fußaußenkante bei erhaltener Motorik und Reflexen sowie nega-tivem Lasègue. In einem weiteren Gutachten für den MDK von Herrn B ist anlässlich einer Untersu-chung am 09. Oktober 1995 eine skoliotische Fehlstellung der Wirbelsäule mit Klopf-schmerzangabe über der Lendenwirbelsäule bei Bewegungseinschränkung im Be-reich der Lendenwirbelsäule bei Seitdrehung und Seitneigung beschrieben worden. Der Finger-Boden-Abstand (FBA) betrug 25 cm. Eine Fußheber- oder Fußsen-kerschwäche fand sich nicht, es bestanden Sensibilitätsstörungen an der Innenseite des Unterschenkels und des Fußes rechts bei negativem Lasègue beidseits. Prof. Dr. N/Dr. W haben am 03. Juli 1996 eine Schmerzhaftigkeit der Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule vor allem bei Vor- und Rückneigung, eine Abschwächung der Sensibilität des rechten Beins im Bereich der äußeren Wade, der Ferse, des Fußrü-ckens und des Fußaußenrandes entsprechend den Dermatomen L5 und S1 festge-stellt. Die grobe Kraft war erhalten, die Reflexe physiologisch, die Motorik uneinge-schränkt. Die Zeichen nach Lasègue und Bragard waren negativ. Der behandelnde Neurochirurg Dr. S hat für den Behandlungszeitraum vom 03. März 1999 bis zum 13. Februar 2002 ein linksseitiges Pseudoradikulärsyndrom ohne neuro-logische oder motorische Defizite beschrieben. In einem EMG/ENG-Befund vom 12. Januar 2001 ist unter "klinischer Fragestellung" ein Radikulärsyndrom S1 links mit beidseits schwachem Achillessehnenreflex (ASR) ohne Paresen, Minderung des Tastempfindens in L5 und geringer S1 wechselnder Ausprägung links sowie Verlust des Vibrationsempfindens über beiden Ballen und ein Gefühl kalter Beine beschrieben worden. In der zusammenfassenden Beurteilung ist eine chronische neurogene Schädigung leichten bis mäßigen Grades ohne Denervati-onstätigkeit im Kennmuskel S1 links diagnostiziert worden bei Verdacht auf axonale Polyneuropathie leichten Grades (toxische Genese nach einjähriger Herpestherapie möglich). Dr. M hat am 16. August 2005 unter anderem eine unvollständige Entfaltung der Len-denwirbelsäule bei der Vorbeugung festgestellt. Die Beweglichkeit war bezüglich Seit-neigung und Rotation nicht wesentlich eingeschränkt, eine verdächtige Nervenwurzel-reizsymptomatik in beiden Beinen fehlte. Es bestanden eher typische ISG-assoziierte Beschwerden. Die Zeichen nach Lasègue und Bragard waren negativ. Die Kennmus-keln aller lumbalen Nervenwurzeln wiesen vollständige Kraftwerte auf. Sensibilität und Motorik waren erhalten, der ASR war beidseits negativ bei beidseits normalem Patel-lasehnenreflex.
Die allein rechtsseitigen neurologischen Beeinträchtigungen – sofern welche vorhan-den – entsprechen den Dermatomen L5 und S1 (vgl. hierzu die Stellungnahme des Dr. P sowie das Merkblatt zur BK 2108). Tatsächlich ist bei L5/S1 jedoch nur die linke Wurzel möglicherweise irritiert (vgl. den CT-Befund vom 30. Januar 2002 zum CT vom 23. Januar 2002) und nicht die rechte. Laut desselben CTs ist zwar die rechte Wurzel bei L 4 möglicherweise irritiert, es zeigen sich aber (mit der Ausnahme der im Zeit-raum 1994 bis 1995 von Dr. B, Dr. W und Dr. S dokumentierten Verminderung der Oberflächensensibilität an der Vorderaußenseite des rechten Oberschenkels) tatsäch-lich keine dauerhaft anhaltenden klinischen Zeichen einer derartigen Irritation. In den letzten Jahren zeigen sich sogar gar keine klinischen Zeichen mehr.
Da es also an einem mit dem morphologischen Bild korrelierenden chronischen klini-schen Beschwerdebild fehlt, ist hier eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Len-denwirbelsäule zu verneinen. Soweit Dr. M in seiner Stellungnahme vom 23. Juni 2008 eine andere Auffassung vertritt, ist dies nicht überzeugend.
Im Übrigen fehlt es an weiteren Kriterien, die zumindest eine positive Indizwirkung für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen einer – unterstellten - band-scheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule und einer adäquaten berufli-chen Belastung haben. So kann hier eine so genannte Begleitspondylose nicht sicher nachgewiesen werden. Als Begleitspondylose wird nach den Konsensempfehlungen Punkt 1.4 definiert eine Spondylose in/im nicht von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en) bzw.in/im von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en), die nachgewiese-nermaßen vor dem Eintritt der bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne einer Chondrose oder eines Vorfalls aufgetreten ist. Um eine positive Indizwirkung für eine berufsbedingte Verursachung zu haben, muss die Begleitspondylose über das Al-tersmaß (s. Punkt 1.2 der Konsensempfehlungen) hinausgehen und mindestens zwei Segmente betreffen. Bei dem Kläger sind jedoch auf der Grundlage des CTs der Len-denwirbelsäule vom 23. Januar 2002 trotz eines Alters von 68 Jahren keine Begleitspondylosen in den über L4/5 gelegenen Segmenten der Lenden- und Brustwirbeläule nachgewiesen. Dass es am sicheren Nachweis solcher Begleitspon-dylosen fehlt, bestreitet auch Dr. M in seiner Stellungnahme vom 23. Juni 2008 nicht. Auch sind lediglich die beiden untersten Segmente der Lendenwirbelsäule von einer Chondrose betroffen, während das Segment L3/4 bezogen auf die der Aufgabe der Beschäftigung nächsten Röntgenbilder (u. a. Röntgenbefund der Lendenwirbelsäule vom 21. Juni 1994 des DRK Krankenhauses K in der Rentenakte der DRV Berlin-Brandenburg, CT vom 23. Januar 2002) keine Verschmälerung des Bandscheiben-fachs zeigt. Das Segment war bis zum MRT vom 11. September 2007 weitgehend unauffällig. Biomechanisch wäre jedoch zu erwarten, dass sich auch an diesem Seg-ment ein Bandscheibenschaden in plausiblem zeitlichen Zusammenhang mit der be-ruflichen Belastung manifestiert (vgl. die Stellungnahme des Dr. P vom 18. März 2008 Seite 12/13 unter Zitierung von Literatur). Eine Betonung an den unteren drei Seg-menten der Lendenwirbelsäule spräche daher eher für einen Ursachenzusammen-hang mit einer beruflichen Belastung (vgl. die Konsensempfehlungen Punkt 1.4).
Ob darüber hinaus auch konkurrierende Krankheitsfaktoren bestehen wie eine juveni-le Aufbaustörung im Sinne eines lumbalen Morbus Scheuermann bzw. eines anlage-bedingten Wirbelgleitens mag hier dahin stehen. Jedenfalls stellt das im vorliegenden Fall einmütig diagnostizierte Wirbelgleiten Grad Meyerding I nach den Konsensemp-fehlungen Punkt 2.1.1 keine konkurrierende Ursache dar. Bezüglich des Morbus Scheuermann setzen sich die Konsensempfehlungen unter 2.1.9 schwerpunktmäßig mit dem thorakalen Morbus Scheuermann auseinander, der – so das Resümee am Ende von Punkt 2.1.9 der Konsensempfehlungen – keinen konkurrierenden Krank-heitsfaktor für das Auftreten einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwir-belsäule darstellen soll. Nur für den seltenen Fall einer lumbalen Lokalisation des Morbus Scheuermann mit Keilwirbelbildung und Abweichung von mindestens 10° sei es nach Expertenmeinung plausibel, dass bei Vorliegen der genannten Faktoren an-lagebedingte biomechanische Überlastungen der unteren Lendenwirbelsäule an deren Bandscheibe wirksam werden. Zwar ist beim Kläger eine juvenile Aufbaustörung ana-log eines Morbus Scheuermann der gesamten Wirbelsäule und insbesondere auch in den Segmenten L1, L4 und L5 durch das MRT vom 11. September 2007 nunmehr nachgewiesen. Allerdings liegt keine Keilwirbelbildung im Bereich eines der von einer altersüberschreitenden Chondrose betroffenen Segmente der Lendenwirbelsäule vor, so dass nach dem in den Konsensempfehlungen festgehaltenen derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft ein konkurrierender Krankheitsfaktor nicht festzustellen ist.
Der Senat hat keine Bedenken, sich im Rahmen seiner Beurteilung auf die so genann-ten Konsensempfehlungen zu stützen. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Beurtei-lung des Ursachenzusammenhangs bei der BK 2108 war die medizinische Wissen-schaft gezwungen, weitere Kriterien zu erarbeiten, die zumindest in ihrer Gesamt-schau für oder gegen eine berufliche Verursachung sprechen. Diese sind niedergelegt in den medizinischen Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankhei-ten der Lendenwirbelsäule, die als Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbe-gutachtung auf Anregung der vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossen-schaften eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe anzusehen sind (vgl. Trauma und Berufskrankheit Heft 3/2005, Springer Medizin Verlag, S. 211 ff). Auch der vom Kläger benannte Sachverständige Dr. K hat auf Nachfrage des Senats in der Beweis-anordnung vom 05. November 2008 in seinem Gutachten vom 16. März 2009 keinen neueren, von den Konsensempfehlungen abweichenden, Stand der wissenschaftli-chen Diskussion zu den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäu-le aufgezeigt. Es ist daher davon auszugehen, dass diese nach wie vor den aktuellen Stand der nationalen und internationalen Diskussion zur Verursachung von Lenden-wirbelsäulenerkrankungen durch körperliche berufliche Belastungen darstellen (vgl. auch BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 – B 2 U 13/05 R – in SozR 4-2700 § 9 Nr. 9). Zur Gewährleistung einer gleichen und gerechten Behandlung aller Versicherten im Gel-tungsbereich des SGB VII begegnet es daher keinen Bedenken, wenn die befassten Gutachter und die Sozialgerichtsbarkeit diese Konsensempfehlungen anwenden.
Nach alldem war das Urteil des SG vom 23. Mai 2003 aufzuheben und die Klage ab-zuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Tatbestand:
Streitig sind die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) – bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können - sowie die Gewährung von Entschädigungsleistungen (Verletztengeld und Verletztenrente).
Der 1933 geborene Kläger absolvierte vom 01. Januar 1949 bis zum 30. Februar 1952 (Prüfungszeugnis vom 06. Februar 1952) eine Lehre zum Glaser. Vom 01. März 1952 bis zum 15. Mai 1955 war er bei der kasernierten Volkspolizei. Danach arbeitete er im Beitrittsgebiet vom
03. Oktober 1955 - 07. Januar 1956 als Glaser bei der Firma B in Z, 23. März 1956 - 01. Juni 1956 als Schädlingsbekämpfer beim Fachbetrieb für Pflanzenschutz in G, 06. Juni 1956 - 05. März 1957 als Glasergeselle bei der Bau- und Kunstglaserei M in W, 11. März 1957 – 01. August 1960 als Glasergehilfe bei der Kunst- und Bauglaserei B in N, 16. August 1960 – 31. Dezember 1991 als (Bau)Glaser beim VEB M und GB bzw. nach Aufgehen dieses VEB im VEB A B ab 01. Januar 1963 beim VEB A B, zuletzt als Brigadier 01. Januar 1992 – 31. August 1995 als (Bau)Glaser (Vorarbeiter) bei Glasbau V GmbH in B.
Nach eigenen Angaben kam es erstmals im Jahre 1967 zu lumbalen Rückenbeschwerden. Ab dem 06. Juni 1994 war er arbeitsunfähig erkrankt wegen Rückenschmerzen mit Ausstrahlung in das rechte Bein. Es erfolgte eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der S-Kurklinik in B N (Kostenträger war die damalige LVA Berlin), aus der er als arbeitsunfähig entlassen wurde. Seit dem 01. April 1996 bezog er rückwirkend ab dem 12. April 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 26. Februar 1996). Seit dem 01. Oktober 1998 erhält er Regelaltersrente.
Auf Betreiben seiner behandelnden Ärztin stellte sich der Kläger am 14. Juli 1994 bei dem BK-Arzt und Allgemeinmediziner Dr. B vor, der aufgrund eines lumbalen spinalen CTs vom 05. Juli 1994 (schwergradige Osteochondrose mit konsekutiver Spondylosis deformans und Spondylarthrose in den Segmenten L4 bis S1, breitbasiger Bandscheibenprolaps L4/5 mit erheblicher Einengung des Neuroforamens, schwergradige knöcherne Einengung der Neuroforamina bei L5/S1), Röntgenbildern des Thorax vom 15. Januar 1994 sowie der Lendenwirbelsäule vom 21. Juni 1994 (erhebliche Bandscheibenverschmälerung zwischen L4/5 und L5/S1 mit Spondylolisthesis um etwa 1 cm zwischen L4/5) und einer eigenen Untersuchung eine Gefahr für das Entstehen einer BK 2108 sah. Am 02. Februar 1995 erfolgte eine Kontrolluntersuchung durch Dr. B, der nunmehr einen begründeten Verdacht auf eine BK 2108 äußerte. Unter Berücksichtigung dieser medizinischen Unterlagen, der Angaben des Klägers vom 15. August 1994, einer Auskunft des letzten Arbeitgebers vom 06. September 1994 sowie einer Stellungnahme ihres eigenen technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 11. Oktober 1994 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Oktober 1995 die Gewährung einer Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, da eine BK 2108 nicht vorliege. Nach den Feststellungen des TAD und gemäß der Dokumentation des Belastungsumfangs eines Bauglasers sei er nur zu ca. 20% der Gesamtarbeitszeit (GAZ) gefährdend tätig gewesen. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 1995 zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhoben und zunächst vorgetragen, er sei in wesentlich stärkerem Umfang gefährdend tätig gewesen als von der Beklagten angenommen. Zum Umfang der Belastung hat er schriftliche Angaben seines ehemaligen Abteilungsleiters G W vom 18. März 1996 zu den Akten gereicht.
Die Beklagte hat weitere – negative - Stellungnahmen ihres TAD (vom 02. Mai 1996 und 01. November 1996) sowie ein von ihr in Auftrag gegebenes orthopädisches (Zu-sammenhangs) Gutachten von Prof. Dr. N/Dr. W vom 08. Juli 1996 vorgelegt. Die Gutachter sind darin zu dem Schluss gelangt, bei dem Kläger bestehe eine durch berufliche Einwirkungen verursachte bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei mit 20 v. H. anzusetzen.
Das SG hat daraufhin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 1997 die Zeugen G W, J K (Vorgesetzter des Klägers vom 01. Februar 1985 bis zum 31. August 1995) und J B zur Frage der beruflichen Belastung des Klägers ab 1960 be-fragt. Die Beklagte ist anschließend bei ihrer Auffassung verblieben, der Kläger sei nicht in ausreichendem Umfang gefährdend tätig gewesen (Stellungnahme des TAD vom 19. Dezember 1997).
Durch Beschluss des SG vom 30. September 1998 ist das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden, die Wiederaufnahme ist im September 2001 erfolgt.
Das SG hat nunmehr die Schwerbehindertenakte des Klägers beigezogen und Auszüge hieraus in den Rechtsstreit eingeführt. Weiterhin hat es ein Vorerkrankungsverzeichnis des Klägers sowie Befundberichte von dem behandelnden Allgemeinmediziner Dr. M vom 25. Februar 2002, dem Orthopäden Dr. W vom 21. Februar 2002, dem Neurochirurgen Dr. S vom 22. Februar 2002, der Orthopädin Dipl.-Med. W vom 28. März 2002 sowie dem Chirurgen Dr. L vom 14. Oktober 2002 eingeholt.
Die Beklagte hat Stellungnahmen des TAD nach den Kriterien des Mainz-Dortmunder-Dosis-Modells (MDD) vom 10. April 2002 sowie des Orthopäden Dr. E vom 29. März 2002 vorgelegt. Der TAD hat in seiner Stellungnahme eine Gesamtdosis von 17,96 x 106 Nh für den Zeitraum vom 01. Juli 1949 bis zum 31. Dezember 1994 errechnet und die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 verneint. Dr. E hat es nicht für wahrscheinlich erachtet, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden sei.
Das SG hat die Beklagte durch Urteil vom 23. Mai 2003 verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer BK 2108 ab dem 06. Juni 1994 Entschädigungsleistungen, insbesondere Verletztengeld vom 06. Juni 1994 bis zum 11. April 1995 sowie ab dem 12. April 1995 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H., zu gewähren. Es ist dabei zu der Auffassung gelangt, die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien sowohl nach dem Kriterium der gefährdenden Tätigkeit zu mindestens 1/3 der GAZ als auch – wahrscheinlich – nach dem MDD erfüllt. Die Beklagte habe nicht hinreichend die Angaben des Klägers sowie der Zeugen berücksichtigt. Darüber hinaus seien auf der Grundlage des von der Beklagten eingeholten fachärztlichen Gutachtens der Prof. Dr. N/Dr. W auch die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 erfüllt. Soweit Dr. E dem entgegen getreten sei, seien dessen Argumente nicht überzeugend.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der diese zunächst vorgetragen hat, es fehle im vorliegenden Fall sowohl an den arbeitstechnischen als auch an den arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für eine BK 2108.
Die Beklagte hat in der Folge nach Hinweisen des Gerichts, weiterem Vortrag des Klägers (insbesondere auch zu den Arbeitszeiten), Vorlage eines Auszugs aus dem Sozialversicherungsausweis sowie nach Einreichung weiterer schriftlicher Angaben der Zeugen K vom 29. Dezember 2003 und W vom 02. Januar 2004 mehrere Stellungnahmen des TAD jeweils als worst-case-Berechnungen vorgelegt, nämlich vom 21. November 2003 (15,98 x 106 Nh), 08. Juni 2004 (21,0 x 106 Nh) und 02. Dezember 2004 (24,43 x 106 Nh).
Der Senat hat zunächst die Schwerbehindertenakte sowie die Rentenakte der LVA Berlin (heute: DRV Berlin-Brandenburg) beigezogen und anschließend den Orthopäden Dr. M mit der Untersuchung des Klägers und der Erstellung eines Sachverständigengutachtens betraut. In seinem Gutachten vom 03. Oktober 2005 ist dieser nach einer körperlichen Untersuchung des Klägers am 16. August 2005 zu dem Ergebnis gelangt, bei dem Kläger seien folgende Diagnosen zu stellen:
• Degeneratives Lumbalsyndrom mit pseudoradikulären und intermittierend radikulären Schmerzausstrahlungen • Mäßiggradiges cervikales Schmerzsyndrom mit insgesamt altersentsprechenden Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule • Mäßiggradige Gonarthrosen.
Radiologisch bestünden keine Hinweise für einen anlagebedingten Gleitvorgang. Eine Kontinuitätsunterbrechung oder dysplastische Veränderung der Interartikularportion lasse sich nicht nachweisen. Im Segment L3/4 kämen altersentsprechend mittelgradige Degenerationen zur Darstellung. Darüber seien die Veränderungen als altersgerecht einzustufen. Insbesondere sei bei L1/2, wo diskrete Residuen (und nur dort) eines Morbus Scheuermann auffielen, kein altersvorauseilender Verschleiß auffällig. Andere anlagebedingte Faktoren seien auszuschließen. Im Ergebnis der klinischen Untersuchung und der genauen Untersuchung der Röntgenbilder (vom 04. Januar 2001, 12. November 2001, 08. Januar 2003, 19. Januar 2004 und 16. August 2005) handele es sich um eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Das Schadensbild sei belastungskonform insoweit, als ein von oben nach unten zunehmendes Schadensmuster vorliege. Es sei daher eine BK 2108 anzuerkennen, wenn die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien. Berufskrankheitenbedingte Arbeitsunfähigkeit bestehe seit Juli 1994. Die Gesundheitsstörungen im Bereich der Lendenwirbelsäule bedingten eine MdE von 20 v. H.
Die Beklagte hat in Erwiderung hierauf eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. F vom 25. Januar 2006 eingereicht, in der dieser nach Neubefundung der vorliegenden Röntgenbilder aus den Jahren 2001, 2004 und 2005 die Auffassung vertreten hat, aus den Röntgenbildern ergebe sich hier eine Scheuermann´sche Erkrankung sämtlicher Wirbelsäulenabschnitte, zugleich liege ein primäres Bandscheibenschadensbild nicht vor. Primärschaden sei hier die Verknöcherungsstörung des Wirbelbogens von LWK 4. Ein eindeutiges neurologisches Schadensbild, das auf einen Nervenwurzelschaden hindeute, existiere nicht. Im letzten Gutachten von Dr. M fänden sich typische Beschwerden im Sinne einer Claudicatio spinalis, jedoch ohne eindeutigen nervenwurzelbezogenen Schaden. Es handele Eine BK 2108 liege daher medizinisch gesehen nicht vor. Der Funktionsschaden bedinge im Übrigen nur eine MdE von 10 v. H.
In einer ergänzenden Stellungnahme hierzu vom 30. Mai 2006 hat der Sachverständige Dr. M – allerdings ohne erneute Einsichtnahme in die Röntgenbilder – die Ausführungen des Dr. F nicht nachvollziehen können. Weder seien die zur Erfüllung der radiologischen Definition eines vollen Scheuermanns erforderlichen Keilwirbel an mindestens drei aufeinander folgenden Segmenten mit mindestens 5° Neigung noch seien grobe Unregelmäßigkeiten der Grund- und Deckplatten, alte Schmorl´sche Knoten oder abgelaufene ventrale Kantenabrisse an den Wirbelkörpern oder eine kurzbogige Kyphose vorhanden. Grundsätzlich halte er den Morbus Scheuermann, wenn er denn als solcher vorliege, sehr wohl für ein Ausschlusskriterium bei der Diskussion über eine BK 2108. Im vorliegenden Fall treffe dies aber nicht zu. Zumal gerade in dem Segment, in dem man beim Kläger am ehesten Auswirkungen eines Morbus Scheuermann erwarten müsste (LWK1), keine altersvorauseilenden Gesamtveränderungen zu erkennen seien. Darüber hinaus bewerte er das Wirbelgleiten weiterhin als degenerativ. Eine MdE von 10 v. H. sei im Übrigen zu niedrig.
Unter den Daten 30. Juni 2006 und 31. Juli 2006 hat Dr. F auf Bitten der Beklagten zwei weitere beratungsärztliche Stellungnahmen abgegeben. In seinen Stellungnahmen ist er bei seiner Beurteilung verblieben und hat insbesondere darauf hingewiesen, dass aus seiner Sicht die "Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des HVBG eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe – Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (I), Trauma und Berufskrankheit, Springer Medizin Verlag, Heft 3/2005 S. 211ff " (in Zukunft nur noch: Konsensempfehlungen) in Bezug auf den Morbus Scheuermann (Punkt 2.1.9) unbrauchbar seien.
In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 20. Januar 2007 ist Dr. M ebenfalls bei seiner Auffassung verblieben.
Die Beklagte hat daraufhin eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. P vom 27. März 2007 eingeholt, in der dieser eine erneute Röntgendiagnostik empfohlen hat. Mit Einverständnis des Klägers ist sodann am 11. September 2007 im Ukrankenhaus B (UKB) ein MRT der gesamten Wirbelsäule nativ erstellt worden. Unter Auswertung dieser Bilder sowie von CTs der Lendenwirbelsäule vom 05. März 1999, 23. Januar 2002 und 19. Januar 2004, Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule vom 04. Januar 2001, 08. Januar 2003, 20. November 2003, 16. August 2005, 16. Juni 2007, Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule vom 16. August 2005, des Thorax vom 13. Januar 2006 sowie der Brustwirbelsäule vom 16. Juni 2007 sowie letztlich eines Untersuchungsberichts der Radiologen Prof. Dr. M/Dr. R vom 18. Oktober 2007 samt ergänzender Stellungnahme der Frau Dr. R vom 28. Dezember 2007 ist Dr. P in einer beratungsärztlichen Stellungnahme für die Beklagte vom 18. März 2008 zu dem Schluss gelangt, eine BK 2108 sei aus medizinischer Sicht abzulehnen, denn 1. eine bandscheibenbedingte Erkrankung liege nach der Definition der Konsensempfehlungen nicht vor, 2. es ließen sich keine eindeutigen belastungsadaptiven Veränderungen nachweisen, die auf eine mechanische Überlastung des Achsorgans hindeuten könnten, 3. es lasse sich keine plausible zeitliche Korrelation zwischen der beruflichen Belastung und dem morphologischen Bild nachweisen, 4. die unteren drei Segmente der Lendenwirbelsäule seien nicht schwerpunktmäßig betroffen, 5. es lasse sich keine eindeutige Zunahme der Schäden von kranial nach kaudal nachweisen, 6. es lasse sich an der Lendenwirbelsäule kein belastungskonformes Schadensbild nachweisen, 7. als konkurrierende Ursache zur BK 2108 lasse sich an der Lendenwirbelsäule eine juvenile Aufbaustörung analog dem Morbus Scheuermann nachweisen.
Für die Beurteilung der Wirbelsäule nach den Konsensempfehlungen seien die zur beruflichen Exposition zeitnächsten Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule in zwei Ebe-nen heranzuziehen. Dies seien hier die Aufnahmen der Halswirbelsäule vom 16. August 2005 sowie der Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule vom 12. November 2001. Danach zeigten sich radiologisch unter Anwendung der Maßgaben der Kon-sensempfehlungen im Bereich der Lendenwirbelsäule im Segment L4/5 eine Chondrose Grad I und im Segment L5/S1 eine Chondrose Grad II, eine Spondylolisthesis des LWK 4 gegenüber LWK 5 mit einem Schweregrad nach Meyerding I sowie in den MRT-Bildern Deformierungen mehrerer Brustwirbelkörper mit intraossären Bandscheibenherniationen (Schmorl´sche Knötchen), die mit zusätzlichen Degenerationen der entsprechenden Bandscheiben einen Hinweis auf Residuen einer abgelau-fenen Scheuermann´schen Erkrankung gäben. Weitere Schmorl´sche Knötchen fänden sich in der Deckplatte des LWK 1 sowie in den Grund- und Deckplatten von LWK 4 und 5. Im Bereich der Lendenwirbelsäule lasse das MRT deutliche Chorda-Rückbildungsstörungen erkennen, die sich vor allem am LWK 1, 4 und 5 deutlich manifestierten. Es zeige sich das Vollbild einer juvenilen Aufbaustörung analog dem Morbus Scheuermann. Bandscheibenschäden, die das im Alter von 68 Jahren (2001) zu erwartende durchschnittliche Maß überschritten, lägen eindeutig für die Segmente L4/5 und L5/S1 vor. Über das radiologische Bild hinaus sei jedoch nach den Kon-sensempfehlungen zur Feststellung einer bandscheibenbedingten Erkrankung eine entsprechende klinische Symptomatik unabdingbar. Unter Beachtung der Befunde im orthopädischen Gutachten der Prof. Dr. N/Dr. W vom 08. Juli 1996 komme hier nur ein radikuläres Wurzelsyndrom in Betracht. Dafür fehle es jedoch an korrelierenden Zeichen der Reizung bzw. Schädigung der entsprechenden Nervenwurzeln. Denn während radiologisch im Segment L4/5 die Wurzel L4 rechts und im Segment L5/S1 die Wurzeln L5 sowie S1 links irritiert werden könnten, zeigten sich beim Kläger tatsächlich lediglich Zeichen der Wurzelirritation L5 bzw. S1 rechts (Abschwächung der Sensibilität auf der rechten Seite im Bereich der äußeren Wade, der Ferse, des Fußrückens und des Fußaußenrandes, negative Zeichen nach Lasègue und Bragard, physiologische Reflexe, Erhalt der groben Kraft in allen Muskelgruppen der unteren Extremitäten). Außerdem seien Begleitspondylosen nicht sicher feststellbar, denn nach dem 60. Lebensjahr verschwänden die Gruppenunterschiede wieder. Belastungs-
adaptive Veränderungen an der oberen Lendenwirbelsäule und unteren Brustwirbelsäule im Sinne einer Spondylosis deformans fehlten. Es handele sich um ein bisegmentales Schadensbild, ohne dass die übrigen Lendenwirbelsäulensegmente Anzeichen von belastungsadaptiven Veränderungen aufwiesen. Nach den Ergebnissen biomechanischer Studien müsste sich bei mechanisch bedingten Veränderungen der Lendenwirbelsäule eine Betonung der Bandscheibenschäden an den unteren drei Segmenten der Lendenwirbelsäule manifestieren, wie es auch die Konsensempfehlungen forderten. Das Segment L3/4 zeige hier aber rein rechnerisch keine Chondrose und erscheine röntgenologisch weitestgehend unauffällig. Die darüber liegenden Segmente zeigten keine zu erwartenden belastungsadaptiven Reaktionen. Das röntgenologische Schadensbild sei demnach nicht belastungskonform. Ebenso wenig sei das Schadensbild von kranial nach kaudal zunehmend. Auch wenn sich rein rechnerisch bei L4/5 eine Chondrose Grad I und bei L5/S1 eine Chondrose Grad II ergebe, imponiere optisch eine isolierte Schädigung der beiden unteren Segmente. Eine plausible zeitliche Korrelation zwischen der beruflichen Belastung und dem morphologischen Befund lasse sich demzufolge ebenfalls nicht herstellen. Zwar sei die Spondylo-listhesis Meyerding Grad I nach den Konsensempfehlungen keine konkurrierende Ursache zur BK 2108, anders sei dies jedoch bei einem lumbalen Morbus Scheuermann wie hier, der sich genau auf die beiden letzten Segmente der Lendenwirbelsäule konzentriere.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 23. Juni 2008 hat Dr. M insbesondere zur Frage des Vorliegens einer korrelierenden klinischen Symptomatik Zweifel an der Beurteilung des Dr. P geäußert. Eine Rezessusstenose L4/5 durch knöcherne Hypertrophie der Facettengelenke führe in erster Linie zu einer Irritation und Kompression der Wurzel L5 im Lateralrezessus und viel weniger zu einer der Wurzel L4. Ein positives Lasègue-Zeichen finde man im klinischen Alltag nur bei relativ frischen, reinen Bandscheibenproblemen.
Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat sodann den Orthopäden Dr. K mit der Untersuchung des Klägers und Erstellung eines Sachverständigengutachtens betraut. In seinem Gutachten vom 16. März 2009 hat dieser nach eigener Untersuchung des Klägers am 03. Dezember 2008 folgende Diagnosen gestellt:
• lumbale Spinalknalstenose bei geringer Lumbalskoliose, deutlicher Spondylarthrose, Spondylolisthesis Meyerding I • Bandscheibenaufbrauchschaden in Höhe L4/5, L5/S1 (degenerativer Bandscheibenaufbrauchschaden) • Scheuermann´sche Erkrankung der gesamten Wirbelsäule • Keilwirbelbildung nach Th-12-Fraktur (Kompressionsfraktur).
Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule hat er verneint.
Die Beklagte ist jetzt der Auffassung, nach dem Ergebnis der Beweiserhebung fehle es an den arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er geht davon aus, dass sämtliche Voraussetzungen für eine BK 2108 erfüllt seien. Die Beklagte habe bei ihren bisherigen Berechnungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen die Maßgaben des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 30. Oktober 2007 – B 2 U 4/06 R – noch nicht umgesetzt. Unter Anwendung der Vorgaben des BSG aus diesem Urteil müsse die Gesamtbelastungsdosis noch wesentlich höher als bisher errechnet angesetzt werden. Auch die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen seien erfüllt. Dem Gutachten des Dr. K könne nicht gefolgt werden. Die Konsensempfehlungen stellten Empfehlungen der Beklagten dar und seien somit durch das Gericht überprüfbar. Sie könnten nicht als Ablehnungskriterium in einem Gutachten verwendet werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Schwerbehindertenakte und der in kompletter Kopie vorliegenden Rentenakte der DRV Berlin-Brandenburg verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 27. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 1995 ist im Ergebnis rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung, sei es Verletztengeld, sei es Verletztenrente, denn eine BK Nr. 2108 liegt bei ihm nicht vor. Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2003 war daher aufzuheben.
Rechtsgrundlage sind die Rechtsvorschriften des Dritten Buchs der Reichsversicherungsordnung (RVO), da der Eintritt einer BK und der Beginn der Leistung für einen Zeitpunkt vor Inkrafttreten des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) am 01. Januar 1997 geltend gemacht wird (§§ 212, 214 SGB VII). Der Kläger hat die gefährdende Tätigkeit als (Bau)Glaser am 06. Juni 1994 vollständig aufgegeben. Ab diesem Zeitpunkt war er arbeitsunfähig erkrankt und hat hiernach keine berufliche Tätig-keit – gleich welcher Art – mehr aufgenommen, so dass als Zeitpunkt des Versicherungsfalls nur der 06. Juni 1994 in Betracht kommt. Nach §§ 547 ff RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt eines Arbeitsunfalls Leistungen aus der Unfallversicherung. Als Arbeitsunfall gilt nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann BKen auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten versehen.
Gemäß diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf. bei einzelnen Listen-BKen einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R – in SozR 4-2700 § 9 Nr. 7 und vom 09. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a. a. O.).
Von Nr. 2108 der Anlage zur BKV werden "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben ursächlich waren oder sein können", erfasst. Nach dem Tatbestand der BK 2108 muss also der Versicherte auf Grund einer versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw. in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben. Durch die spezifischen, der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden besonderen Einwirkungen muss eine bandscheibenbedingte Erkran-kung der LWS entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen muss ein sachlicher Zusammenhang und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen. Der Versicherte muss darüber hinaus gezwungen gewesen sein, alle gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt eine BK 2108 nicht vor (vglBSG, Urteile vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 4/06 R– inSozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 2108 sowie vom 18. November 2008 - B 2 U 14/07 R – und – B 2 U 14/08 R – jeweils zitiert nach Juris) und ist nicht anzuer-kennen.
Der Anspruch des Klägers scheitert hier nicht daran, dass die so genannten arbeits-technischen Voraussetzungen, d. h. die im Sinne der BK 2108 erforderlichen Einwir-kungen durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw. Arbeit in Rumpfbeuge-haltung, nicht gegeben wären. Dies ergibt sich auch nicht aus den vorliegenden Be-rechnungen des TAD der Beklagten zum Ausmaß der mechanischen Belastung nach dem MDD (vgl. dazu die grundlegende Veröffentlichung von Jäger u. a., ASUMed 1999, 101 ff, 112 ff). Die Beklagte hat im gesamten Verfahrensverlauf vier Berech-nungen nach dem MDD durch ihren TAD vorgelegt. Daraus ergeben sich folgende Gesamtdosen: 10. April 2002 17,93 x 106 Nh 21. November 2003 15,98 x 106 Nh (für den Zeitraum ab 1963) 08. Juni 2004 21,0 x 106 Nh 02. Dezember 2004 24,43 x 106 Nh.
Zwar ist danach die nach dem MDD vorgegebene Gesamtdosis von 25 x 106 Nh un-terschritten. Dennoch sind die so genannten arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt, denn das MDD legt selber für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die auf Grund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfel-der ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis, sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu ver-stehen. Von diesem Verständnis geht auch das aktuelle Merkblatt des Bundesministe-riums für Arbeit und Sozialordnung zur BK 2108 aus, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist BArbBl 2006, Heft 10 S. 30 ff) Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden; umge-kehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht von vornherein aus (vgl. BSG Urteile vom 30. Oktober 2007 a. a. O. sowie vom 18. No-vember 2008 a. a. O.).
Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig un-terschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zu-sammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der die Wirbelsäu-le belastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, et-wa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwir-kungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist das Vorliegen einer BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (vgl. BSG Urteile vom 30. Oktober 2007 a. a. O. sowie vom 18. November 2008 a. a. O.).
Das BSG hat daher in seinen Entscheidungen vom 30. November 2008 – B 2 U 14/07 R und B 2 U 14/08 R - Modifizierungen zur Anwendung des MDD für notwendig erach-tet. Danach ist die dem MDD zu Grunde liegende Mindestdruckkraft pro Arbeitsvor-gang bei Männern nunmehr mit dem Wert 2.700 N pro Arbeitsvorgang anzusetzen. Auf eine Mindesttagesdosis ist nach dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten. Alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelas-tung von 2.700 N bei Männern erreichen, sind entsprechend dem quadratischen An-satz (Kraft mal Kraft mal Zeit) zu berechnen und aufzuaddieren. Der untere Grenz-wert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzu-sammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkran-kung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Er-mittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 x 106 Nh, also auf 12,5 x 106 Nh, herabzusetzen.
Berücksichtigt man dies, ist der maßgebliche Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh hier in jedem Fall erfüllt, zumal die bisher vorliegenden Berechnungen des TAD nach dem MDD noch von einer erforderlichen Mindesttagesdosis ausgehen.
In der medizinischen Wissenschaft ist anerkannt, dass Bandscheibenschäden und Bandscheibenvorfälle insbesondere der unteren Lendenwirbelsäule in allen Alters-gruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vorkommen. Sie sind von multifakto-rieller Ätiologie. Da diese Bandscheibenerkrankungen ebenso in Berufsgruppen vor-kommen, die während ihres Arbeitslebens keiner schweren körperlichen Belastung ausgesetzt waren, genauso wie in solchen, die wie der Kläger schwere körperliche Arbeiten geleistet haben, kann allein die Erfüllung der arbeitstechnischen Vorausset-zungen im Sinne des MDD die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen Kausalzusammenhanges nicht begründen (vgl. Merkblatt zu der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zur BKV, BArbBl. 10-2006, S. 30 ff. ).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK 2108 nicht gegeben. Das Vorliegen einer durch die berufli-che Tätigkeit verursachten bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäu-le ist nicht nachgewiesen. Der Senat stützt sich hierbei auf die umfangreiche, gründli-che und an dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft und Forschung ausgerichteten Stellungnahme des beratenden Arztes der Beklagten Dr. P vom 18. März 2008.
Die beim Kläger festgestellten Veränderungen der Wirbelsäule stellen keine band-scheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule im Sinne der BK 2108 dar. Zu der Frage, was unter einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS zu verstehen sein soll, hat der Verordnungsgeber in der Begründung zur zweiten Änderungsverord-nung (2. ÄndVO), durch welche die BK 2108 in die Berufskrankheitenliste aufgenom-men worden ist (BR-Druck 773/92 S.8), eingehende Ausführungen gemacht. Danach sind unter bandscheibenbedingten Erkrankungen zu verstehen: Bandscheibendege-neration (Diskose), Instabilität im Bewegungssegment, Bandscheibenvorfall (Prolaps), degenerative Veränderungen der Wirbelkörperabschlussplatten (Osteochondrose), knöcherne Ausziehungen an den vorderen seitlichen Randleisten der Wirbelkörper (Spondylose), degenerative Veränderungen der Wirbelgelenke (Spondylarthrose) mit den durch derartige Befunde bedingten Beschwerden und Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule. Erforderlich ist ein Krankheitsbild, das über einen längeren Zeitraum andauert, also chronisch oder zumindest chronisch wiederkehrend ist, und das zu Funktionseinschränkungen führt, die eben eine Fortsetzung der genannten Tätigkeit unmöglich machen. Erforderlich sind daher ein bestimmtes radiologisches Bild sowie ein damit korrelierendes klinisches Bild (vgl. das aktuelle Merkblatt zur BK 2108, BArbBl. 10-2006, S. 30ff sowie die Konsensempfehlungen Punkt 1.3).
Heranzuziehen sind richtigerweise die der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zeitlich nächstliegenden Röntgenbilder (vgl. auch Punkt 1.2 der Konsensempfehlungen). Zwar stellen sich im Falle des Klägers nach übereinstimmender Auffassung aller in dem Verfahren involvierten Mediziner (Dr. B vom 19. Juli 1994 und 05. Dezember 1995, Prof. Dr. N/Dr. W vom 08. Juli 1996, Dr. M vom 03. Oktober 2005, Dr. K vom 16. März 2009) morphologisch Bandscheibenschäden dar. So werden schon im Befund des lumbalen spinalen CTs vom 05. Juli 1994 eine schwergradige Osteochondrose mit konsekutiver Spondylosis deformans und Spondylarthrose in den Segmenten L 4 bis S1 sowie ein breitbasiger Bandscheibenprolaps mediorechtslateral bei L4/5 mit erheb-licher Einengung des Neuroforamens, schwergradiger knöcherner Einengung der Neuroforamina bei L5/S1 beschrieben. Diese sind auch altersuntypisch, wie Dr. P in seiner Stellungnahme als beratender Arzt der Beklagten vom 18. März 2008 nachvoll-ziehbar unter Zugrundelegung der Röntgenaufnahmen vom 12. November 2001 in Bezug auf die Chondrose Grad I im Segment L4/5 und die Chondrose Grad II im Seg-ment L5/S1 dargestellt hat.
Es fehlt jedoch an mit dem morphologischen Bild korrelierenden chronischen klini-schen Beschwerden und Funktionseinschränkungen, wie Dr. P in der eben genannten Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat. Dr. B hat am 14. Juli 1994 eine Einschränkung der Beweglichkeit der Lendenwirbel-säule vor allem in der Vor- und Rückbeugung sowie der Seitneigung, einen Sensibili-tätsausfall am rechten Bein im Bereich der Außenseite und Vorderseite von Ober- und Unterschenkel sowie der Großzehe festgestellt. Der Lasègue war rechts bei 50° und links bei 70° positiv. Die Reflexe waren erhalten, die Motorik uneingeschränkt. Hin-sichtlich der zweiten Untersuchung am 02. Februar 1995 hat Dr. B eine Einschrän-kung der Beweglichkeit bei der Vor- und Rückbeugung, eine Trägheit der Reflexe an den unteren Extremitäten und Schmerzen in der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in das rechte Bein (Außenseite Ober- und Unterschenkel und Vorfuß im Großzehen-bereich) bei erhaltener grober Kraft und Motorik beschrieben. Die behandelnde Allgemeinmedizinerin Dr. W hat in einem Befundbericht vom 26. September 1994 von seit November 1993 verstärkten Rückenschmerzen mit Schmerzausstrahlung in das rechte Bein berichtet. Es bestehe eine Haut-Sensibilitätsstörung am rechten Bein seitlich bei Steilstellung der Lendenwirbelsäule und Bewegungsstörung der Wirbelsäule mit Gangstörung. Dr. S hat für den MDK am 23. November 1994 eine erhebliche Einschränkung der Beweglichkeit der Brust- und Lendenwirbeläule in der Seitneigung sowie in der Vor-neigung bei beidseits negativen Zeichen nach Lasègue und Bragard sowie ohne pa-thologische Reflexe festgestellt. Von der Außenseite von der Mitte des rechten Ober-schenkels bis zur Fußkante bestand eine deutliche Minderung des Tastempfindens, wobei im Fußbereich kaum Schmerzempfindlichkeit bestand. Die grobe Kraft der Fü-ße war erhalten, das Gangbild unauffällig. Im Reha-Entlassungsbericht vom 11. April 1995 finden sich eine Sensibilitätsminde-rung an der rechten Fußaußenkante bei erhaltener Motorik und Reflexen sowie nega-tivem Lasègue. In einem weiteren Gutachten für den MDK von Herrn B ist anlässlich einer Untersu-chung am 09. Oktober 1995 eine skoliotische Fehlstellung der Wirbelsäule mit Klopf-schmerzangabe über der Lendenwirbelsäule bei Bewegungseinschränkung im Be-reich der Lendenwirbelsäule bei Seitdrehung und Seitneigung beschrieben worden. Der Finger-Boden-Abstand (FBA) betrug 25 cm. Eine Fußheber- oder Fußsen-kerschwäche fand sich nicht, es bestanden Sensibilitätsstörungen an der Innenseite des Unterschenkels und des Fußes rechts bei negativem Lasègue beidseits. Prof. Dr. N/Dr. W haben am 03. Juli 1996 eine Schmerzhaftigkeit der Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule vor allem bei Vor- und Rückneigung, eine Abschwächung der Sensibilität des rechten Beins im Bereich der äußeren Wade, der Ferse, des Fußrü-ckens und des Fußaußenrandes entsprechend den Dermatomen L5 und S1 festge-stellt. Die grobe Kraft war erhalten, die Reflexe physiologisch, die Motorik uneinge-schränkt. Die Zeichen nach Lasègue und Bragard waren negativ. Der behandelnde Neurochirurg Dr. S hat für den Behandlungszeitraum vom 03. März 1999 bis zum 13. Februar 2002 ein linksseitiges Pseudoradikulärsyndrom ohne neuro-logische oder motorische Defizite beschrieben. In einem EMG/ENG-Befund vom 12. Januar 2001 ist unter "klinischer Fragestellung" ein Radikulärsyndrom S1 links mit beidseits schwachem Achillessehnenreflex (ASR) ohne Paresen, Minderung des Tastempfindens in L5 und geringer S1 wechselnder Ausprägung links sowie Verlust des Vibrationsempfindens über beiden Ballen und ein Gefühl kalter Beine beschrieben worden. In der zusammenfassenden Beurteilung ist eine chronische neurogene Schädigung leichten bis mäßigen Grades ohne Denervati-onstätigkeit im Kennmuskel S1 links diagnostiziert worden bei Verdacht auf axonale Polyneuropathie leichten Grades (toxische Genese nach einjähriger Herpestherapie möglich). Dr. M hat am 16. August 2005 unter anderem eine unvollständige Entfaltung der Len-denwirbelsäule bei der Vorbeugung festgestellt. Die Beweglichkeit war bezüglich Seit-neigung und Rotation nicht wesentlich eingeschränkt, eine verdächtige Nervenwurzel-reizsymptomatik in beiden Beinen fehlte. Es bestanden eher typische ISG-assoziierte Beschwerden. Die Zeichen nach Lasègue und Bragard waren negativ. Die Kennmus-keln aller lumbalen Nervenwurzeln wiesen vollständige Kraftwerte auf. Sensibilität und Motorik waren erhalten, der ASR war beidseits negativ bei beidseits normalem Patel-lasehnenreflex.
Die allein rechtsseitigen neurologischen Beeinträchtigungen – sofern welche vorhan-den – entsprechen den Dermatomen L5 und S1 (vgl. hierzu die Stellungnahme des Dr. P sowie das Merkblatt zur BK 2108). Tatsächlich ist bei L5/S1 jedoch nur die linke Wurzel möglicherweise irritiert (vgl. den CT-Befund vom 30. Januar 2002 zum CT vom 23. Januar 2002) und nicht die rechte. Laut desselben CTs ist zwar die rechte Wurzel bei L 4 möglicherweise irritiert, es zeigen sich aber (mit der Ausnahme der im Zeit-raum 1994 bis 1995 von Dr. B, Dr. W und Dr. S dokumentierten Verminderung der Oberflächensensibilität an der Vorderaußenseite des rechten Oberschenkels) tatsäch-lich keine dauerhaft anhaltenden klinischen Zeichen einer derartigen Irritation. In den letzten Jahren zeigen sich sogar gar keine klinischen Zeichen mehr.
Da es also an einem mit dem morphologischen Bild korrelierenden chronischen klini-schen Beschwerdebild fehlt, ist hier eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Len-denwirbelsäule zu verneinen. Soweit Dr. M in seiner Stellungnahme vom 23. Juni 2008 eine andere Auffassung vertritt, ist dies nicht überzeugend.
Im Übrigen fehlt es an weiteren Kriterien, die zumindest eine positive Indizwirkung für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen einer – unterstellten - band-scheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule und einer adäquaten berufli-chen Belastung haben. So kann hier eine so genannte Begleitspondylose nicht sicher nachgewiesen werden. Als Begleitspondylose wird nach den Konsensempfehlungen Punkt 1.4 definiert eine Spondylose in/im nicht von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en) bzw.in/im von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en), die nachgewiese-nermaßen vor dem Eintritt der bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne einer Chondrose oder eines Vorfalls aufgetreten ist. Um eine positive Indizwirkung für eine berufsbedingte Verursachung zu haben, muss die Begleitspondylose über das Al-tersmaß (s. Punkt 1.2 der Konsensempfehlungen) hinausgehen und mindestens zwei Segmente betreffen. Bei dem Kläger sind jedoch auf der Grundlage des CTs der Len-denwirbelsäule vom 23. Januar 2002 trotz eines Alters von 68 Jahren keine Begleitspondylosen in den über L4/5 gelegenen Segmenten der Lenden- und Brustwirbeläule nachgewiesen. Dass es am sicheren Nachweis solcher Begleitspon-dylosen fehlt, bestreitet auch Dr. M in seiner Stellungnahme vom 23. Juni 2008 nicht. Auch sind lediglich die beiden untersten Segmente der Lendenwirbelsäule von einer Chondrose betroffen, während das Segment L3/4 bezogen auf die der Aufgabe der Beschäftigung nächsten Röntgenbilder (u. a. Röntgenbefund der Lendenwirbelsäule vom 21. Juni 1994 des DRK Krankenhauses K in der Rentenakte der DRV Berlin-Brandenburg, CT vom 23. Januar 2002) keine Verschmälerung des Bandscheiben-fachs zeigt. Das Segment war bis zum MRT vom 11. September 2007 weitgehend unauffällig. Biomechanisch wäre jedoch zu erwarten, dass sich auch an diesem Seg-ment ein Bandscheibenschaden in plausiblem zeitlichen Zusammenhang mit der be-ruflichen Belastung manifestiert (vgl. die Stellungnahme des Dr. P vom 18. März 2008 Seite 12/13 unter Zitierung von Literatur). Eine Betonung an den unteren drei Seg-menten der Lendenwirbelsäule spräche daher eher für einen Ursachenzusammen-hang mit einer beruflichen Belastung (vgl. die Konsensempfehlungen Punkt 1.4).
Ob darüber hinaus auch konkurrierende Krankheitsfaktoren bestehen wie eine juveni-le Aufbaustörung im Sinne eines lumbalen Morbus Scheuermann bzw. eines anlage-bedingten Wirbelgleitens mag hier dahin stehen. Jedenfalls stellt das im vorliegenden Fall einmütig diagnostizierte Wirbelgleiten Grad Meyerding I nach den Konsensemp-fehlungen Punkt 2.1.1 keine konkurrierende Ursache dar. Bezüglich des Morbus Scheuermann setzen sich die Konsensempfehlungen unter 2.1.9 schwerpunktmäßig mit dem thorakalen Morbus Scheuermann auseinander, der – so das Resümee am Ende von Punkt 2.1.9 der Konsensempfehlungen – keinen konkurrierenden Krank-heitsfaktor für das Auftreten einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwir-belsäule darstellen soll. Nur für den seltenen Fall einer lumbalen Lokalisation des Morbus Scheuermann mit Keilwirbelbildung und Abweichung von mindestens 10° sei es nach Expertenmeinung plausibel, dass bei Vorliegen der genannten Faktoren an-lagebedingte biomechanische Überlastungen der unteren Lendenwirbelsäule an deren Bandscheibe wirksam werden. Zwar ist beim Kläger eine juvenile Aufbaustörung ana-log eines Morbus Scheuermann der gesamten Wirbelsäule und insbesondere auch in den Segmenten L1, L4 und L5 durch das MRT vom 11. September 2007 nunmehr nachgewiesen. Allerdings liegt keine Keilwirbelbildung im Bereich eines der von einer altersüberschreitenden Chondrose betroffenen Segmente der Lendenwirbelsäule vor, so dass nach dem in den Konsensempfehlungen festgehaltenen derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft ein konkurrierender Krankheitsfaktor nicht festzustellen ist.
Der Senat hat keine Bedenken, sich im Rahmen seiner Beurteilung auf die so genann-ten Konsensempfehlungen zu stützen. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Beurtei-lung des Ursachenzusammenhangs bei der BK 2108 war die medizinische Wissen-schaft gezwungen, weitere Kriterien zu erarbeiten, die zumindest in ihrer Gesamt-schau für oder gegen eine berufliche Verursachung sprechen. Diese sind niedergelegt in den medizinischen Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankhei-ten der Lendenwirbelsäule, die als Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbe-gutachtung auf Anregung der vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossen-schaften eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe anzusehen sind (vgl. Trauma und Berufskrankheit Heft 3/2005, Springer Medizin Verlag, S. 211 ff). Auch der vom Kläger benannte Sachverständige Dr. K hat auf Nachfrage des Senats in der Beweis-anordnung vom 05. November 2008 in seinem Gutachten vom 16. März 2009 keinen neueren, von den Konsensempfehlungen abweichenden, Stand der wissenschaftli-chen Diskussion zu den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäu-le aufgezeigt. Es ist daher davon auszugehen, dass diese nach wie vor den aktuellen Stand der nationalen und internationalen Diskussion zur Verursachung von Lenden-wirbelsäulenerkrankungen durch körperliche berufliche Belastungen darstellen (vgl. auch BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 – B 2 U 13/05 R – in SozR 4-2700 § 9 Nr. 9). Zur Gewährleistung einer gleichen und gerechten Behandlung aller Versicherten im Gel-tungsbereich des SGB VII begegnet es daher keinen Bedenken, wenn die befassten Gutachter und die Sozialgerichtsbarkeit diese Konsensempfehlungen anwenden.
Nach alldem war das Urteil des SG vom 23. Mai 2003 aufzuheben und die Klage ab-zuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
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