L 16 R 723/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 16 R 2426/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 723/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2008 geändert. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Mai 2006 verurteilt, der Klägerin für die Zeit ab 1. Dezember 2008 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist – nur noch - die Gewährung von Versichertenrente wegen teilweiser Erwerbsminderung (EM) bei Berufsunfähigkeit (BU) für die Zeit ab 1. Dezember 2008.

Die 1958 geborene Klägerin hatte den Beruf des Friseurs erlernt (Gesellenbrief vom 14. März 1977). Sie war anschließend in ihrem Lehrberuf, dann als Reinigungskraft bei den französischen Stationierungsstreitkräften in B (W) und zuletzt ab 01. Oktober 1995 wiederum als Friseurin im Friseursalon K Min B versicherungspflichtig beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch arbeitgeberseitige Kündigung zum 31. Januar 2005. Vom 01. Februar 2005 bis 30. Juli 2006 bezog die Klägerin Arbeitslosengeld.

Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung von 30 anerkannt aufgrund folgender Leiden: Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, degenerative Veränderungen und muskuläre Verspannungen der Wirbelsäule, operierte Bandscheibe, Migräne, Funktionsbehinderung beider Schultergelenke (Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales – Versorgungsamt – B vom 23. September 2009).

Im Februar 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung von EM-Rente. Die Beklagte ließ die Klägerin durch den Orthopäden Dr. R untersuchen und begutachten. Dieser Arzt bescheinigte der Klägerin in seinem Gutachten vom 10. März 2006 noch ein täglich vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten unter Beachtung der aufgezeigten qualitativen Leistungseinschränkungen. Als Frisörin sei die Klägerin nicht mehr leistungsfähig. Mit Bescheid vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03. Mai 2006 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Berlin Befundberichte von den behandelnden Ärzten der Klägerin erstatten lassen, und zwar von der Allgemeinmedizinerin K vom 23. Juni 2006 und von dem Orthopäden Dipl.-Med. G vom 14. Juli 2006. Das SG hat die Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S als Sachverständige eingesetzt. Diese Ärztin hat in ihrem Gutachten vom 18. Juni 2007 (Untersuchung am 13. Juni 2007) folgende Gesundheitsstörungen der Klägerin diagnostiziert: Anpassungsstörung mit ängstlich-depressiven Zügen vor dem Hindergrund einer familiären Konfliktsituation und auf dem Boden einer depressiv-histrionischen Persönlichkeitsstruktur, Zervikalsyndrom und rezidivierendes Zervikokranialsyndrom bei nachgewiesenen degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule und Bandscheibenschäden in Höhe C4/C5 und C5/C6, rezidivierendes Lumbalsyndrom mit pseudoradikulärer Beschwerdesymptomatik rechts bei degenerativen Lendenwirbelsäulenveränderungen und Protrusion und Prolaps in Höhe L4/L5 sowie rechts lateral im teilverkalkten Vorfall in Höhe L5/S1, Alkoholmissbrauch, Zustand nach Diazepammissbrauch, Schulter-Arm-Syndrom beidseitig bei Angabe einer Periarthropatia humero skapularis, Epicondylitis humeri radialis rechts, Herzrhythmusstörungen, medikamentös behandelt. Die Klägerin könne täglich regelmäßig vollschichtig noch leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen oder im Wechsel der Haltungsarten unter Beachtung der aufgezeigten qualitativen Leistungseinschränkungen verrichten. Einfache bis mittelschwere geistige Tätigkeiten seien der Klägerin entsprechend ihrem Ausbildungsstand zumutbar. Die Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit sei erhalten und auch Arbeiten mit Publikumsverkehr seien möglich.

Mit Urteil vom 25. Februar 2008 hat das SG die auf Gewährung von Rente wegen voller EM, hilfsweise wegen teilweiser EM, hilfsweise wegen teilweiser EM bei BU für die Zeit ab 01. Februar 2006 gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Die Klägerin habe gegen die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen voller EM, teilweiser EM bzw. teilweiser EM bei BU gemäß den §§ 43, 240 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI). Die Klägerin sei schon nicht berufsunfähig. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei sie in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich als Rezeptionistin in einem Friseursalon zu arbeiten. Auf diese Tätigkeit sei die Klägerin sozial und gesundheitlich zumutbar zu verweisen. Bei der Tätigkeit einer Rezeptionistin in einem Friseursalon handele es sich um eine körperlich leichte Arbeit, die im Wechsel der Körperhaltungen verrichtet werde. Es seien insoweit auf dem Arbeitsmarkt auch genügend Arbeitsplätze vorhanden. Da es sich um eine Berufsausübungsform des Facharbeiterberufs des Friseurs handele, sei diese Tätigkeit der Klägerin nach dem maßgebenden Mehrstufenschema des Bundessozialgerichts (BSG) auch sozial zumutbar (Verweis auf Sächsisches LSG, Urteil vom 10. Juni 2003 – L 6 RJ 35/02 –).

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin nunmehr nur noch ihr Begehren auf Gewährung von Rente wegen teilweiser EM bei BU weiter. Sie trägt u. a. vor: Auch die von der Beklagten als Verweisungstätigkeit bezeichnete Tätigkeit einer Telefonistin könne sie nicht ausführen, weil diese Tätigkeit im Sitzen ausgeübt werde.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2008 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Mai 2006 zu verurteilen, ihr für die Zeit ab 1. Dezember 2008 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung weiterhin im Ergebnis für zutreffend. Die Klägerin könne auf die Tätigkeit einer Telefonistin gesundheitlich und sozial zumutbar verwiesen werden (Verweis auf LSG Berlin, Urteil vom 27. Oktober 2004 – L 17 RJ 7/03 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 08. September 2005 – L 3 RJ 18/04 –); die Verweisungstätigkeit einer Rezeptionistin bzw. Empfangsdame in einem Friseursalon werde hingegen nicht mehr geltend gemacht. Die Beklagte überreicht den Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik L vom 11. März 2009, auf den Bezug genommen wird.

Der Senat hat im Berufungsverfahren Befundberichte von den behandelnden Ärzten der Klägerin erstatten lassen, und zwar von dem Orthopäden Dr. D vom 17. September 2008 und von dem Orthopäden Dr. F vom 01. Februar 2009. Entlassungsberichte der Gemeinschaftspraxis für Neurochirurgie P vom 17. September 2008 (Facharzt für Neurochirurgie S; stationäre Behandlung vom 01. Juli 2008 bis 11. Juli 2008 mit Implantation einer Bandscheibenvollprothese C5 bis C7 am 02. Juli 2008) und der E B(stationäre Behandlung vom 10. November 2008 bis 12. November 2008 wegen Schulter-OP links) sind beigezogen worden.

Der Senat hat den Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. G mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser Arzt teilt in seinem Gutachten vom 02. März 2009 (Untersuchung am 19. Januar 2009) folgende Gesundheitsstörungen mit: chronisches Zervikalsyndrom bei Zustand nach Implantation einer Bandscheibenvollprothese C5/6 und C6/7 am 02. Juli 2008, chronisches Thorakalsyndrom bei linkskonvexer Thorakalskoliose, chronisches Lumbalsyndrom mit Pseudoradikulärsymptomatik bei Prolaps L4/5, Outlet-Impingement-Syndrom beider Schultergelenke, linksseitig Zustand nach subakromialer Dekompression 11/2008, AC-Gelenksarthrose rechts. Die Klägerin könne täglich regelmäßig und vollschichtig noch körperlich leichte Tätigkeiten im Wechsel der Haltungsarten, aber auch überwiegend im Sitzen, mit der Möglichkeit eines gelegentlichen Haltungswechsels und unter Beachtung der im Übrigen aufgezeigten qualitativen Leistungseinschränkungen ausführen.

Der Senat hat berufskundliche Unterlagen zur Tätigkeit einer Telefonistin aus dem Verfahren S 30 RJ 823/02L 3 RJ 18/04 (SG Berlin/ LSG Berlin-Brandenburg) sowie Beschreibungen des Anforderungs- und Tätigkeitsprofils einer Telefonistin bzw. Call-Center-Agentin (Berufsinformationen der Bundesagentur für Arbeit – BERUFENET.de) in das Verfahren eingeführt; hierauf wird verwiesen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen, wegen der medizinischen Feststellungen auf die zum Verfahren eingeholten Befund- und Entlassungsberichte sowie die Sachverständigengutachten von Dr. S und Dr. G Bezug genommen.

Die Leistungsakte der Agentur für Arbeit R, die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten (2 Bände) haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, die im Berufungsverfahren zuletzt (nur) noch Rente wegen teilweiser EM bei BU für die Zeit ab 1. Dezember 2008 geltend macht, ist begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen teilweiser EM bei BU auf Dauer für die Zeit ab 1. Dezember 2008 aufgrund einer am 10. November 2008 eingetretenen BU iS des § 240 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB VI.

Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte, die wie die Klägerin vor dem 2. Januar 1961 geboren sind (Nr. 1 der Vorschrift), einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser EM, wenn sie berufsunfähig sind (Nr. 2 der Vorschrift) und die sonstigen Voraussetzungen vorliegen, also die allgemeine Wartezeit erfüllt ist (vgl. §§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 51 Abs. 1 SGB VI) und in den letzten fünf Jahren vor dem Eintritt von BU drei Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit vorliegen (vgl. § § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 241 Abs. 1 SGB VI).

Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist (Satz 1). Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (Satz 2). Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Satz 4).

Die Klägerin erfüllt die Wartezeit für eine Rente wegen teilweiser EM bei BU, da sie ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 20. Mai 2008 vor Eintritt der BU am 10. November 2008 weitaus mehr als fünf Jahre (60 Kalendermonate) Pflichtbeitragszeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt hatte. Der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI (sog. Drei-Fünftel-Belegung) bedarf es vorliegend nicht, weil die Klägerin nach dem Versicherungsverlauf vom 20. Mai 2008 nicht nur die allgemeine Wartezeit vor dem 1. Januar 1984 erfüllt hatte, sondern auch jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum 30. Juli 2006 mit Anwartschaftserhaltungszeiten iS des § 241 Abs. 2 Satz 1 SGB VI belegt ist. Für die Zeit ab August 2006 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der BU ist eine Belegung mit Anwartschaftserhaltungszeiten nicht erforderlich, weil in der Zeit ab Rentenantragstellung eine (freiwillige) Beitragszahlung noch zulässig ist (§ 241 Abs. 2 Satz 2 SGB VI iVm §§ 197 Abs. 2, 198 Satz 1 SGB VI).

Die tatsächlichen Voraussetzungen für den Eintritt von BU bei der Klägerin liegen zur vollen Überzeugung des Senats jedenfalls seit 10. November 2008 (Beginn der stationären Behandlung in der E) vor. Ausgangspunkt für die Prüfung der BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt, der "bisherige Beruf" der Versicherten (vgl. z. B. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn. 107, 169; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn. 55, 61 mwN; BSG, Urteil vom 12. Februar 2004 - B 13 RJ 34/03 R = SozR 4-2600 § 43 Nr. 1). Grundsätzlich ist dies die letzte nicht nur vorübergehend ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit (vgl. z. B. BSG SozR 4-2600 § 43 Nr. 1 mwN). Nach diesen Grundsätzen ist als bisheriger Beruf der Klägerin der Beruf der Friseurin der rentenrechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen. Diesen Beruf hatte die Klägerin zuletzt vom 1. Oktober 1995 bis 31. Januar 2005 im Friseursalon K M und damit nicht nur vorübergehend versicherungspflichtig ausgeübt.

Fest steht, dass die Klägerin diesem ihrem bisherigen Beruf einer Friseurin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr nachgehen kann; insofern besteht auch zwischen den Beteiligten kein Streit. Denn das ihr verbliebene Leistungsvermögen reicht nur noch für die Ausübung körperlich leichter Tätigkeiten im Wechsel der Haltungsarten oder aber überwiegend im Sitzen aus, wenn dabei weitere qualitative Leistungseinschränkungen wie z. B. das Vermeiden von Zwangshaltungen (Dr. G) vermieden werden. Das auf körperlich leichte Tätigkeiten im Wechsel der Haltungsarten bzw. überwiegend im Sitzen beschränkte Leistungsvermögen der Klägerin ergibt sich aus der insofern übereinstimmenden Leistungsbeurteilung des von der Beklagten im Verwaltungsverfahren gehörten Sachverständigen Dr. R und der gerichtlichen Sachverständigen Dr. S und Dr. G und entspricht auch der Beurteilung im Kurentlassungsbericht der Rehabilitationsklinik Lin BS vom 11. März 2009. Bei einer beruflichen Tätigkeit als Friseurin fällt indes, wie allgemein bekannt ist, längeres Arbeiten im Stehen und in Zwangshaltungen an. Derartigen Anforderungen war und ist die Klägerin aber bereits aufgrund der bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen am Bewegungsapparat, die ein längeres Stehen nicht mehr zulassen, nicht mehr gewachsen.

Der BU begründende Leidenszustand der Klägerin besteht dabei im erforderlichen Vollbeweis jedenfalls (erst) seit 10. November 2008 (Beginn der stationären Behandlung in der E). Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zwar davon auszugehen, dass die zur Annahme von BU führenden Tatsachen bereits vor dem genannten Zeitpunkt gegeben waren. Der für den Eintritt von BU in § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB VI normierte anspruchsbegründende Ausschluss von zumutbaren Verweisungstätigkeiten lässt sich aber erst für den Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme am 10. November 2008 zur vollen Überzeugung des Senats feststellen. Zu dieser Zeit war die Klägerin – das ergibt sich aus dem in dem Entlassungsbericht der E vom 12. November 2008 dokumentierten Hinzutreten erheblicher Funktionseinschränkungen im Schulterbereich – nicht mehr nur außerstande, in ihrem bisherigen Beruf zu arbeiten, sondern (auch) nicht mehr in der Lage, die für sie allein noch in Betracht zu ziehende Verweisungstätigkeit einer Telefonistin zu verrichten.

Damit sind jedenfalls seit 10. November 2008 sozial zumutbare Verweisungstätigkeiten iS des § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB VI nicht mehr vorhanden, die die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen noch ausführen kann. Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit richtet sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat die höchstrichterliche Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, gebildet worden. Danach sind unter Berücksichtigung der mit dem Gesetz zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 9. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3242) mit Wirkung vom 1. Januar 2005 aufgehobenen Unterscheidung der Versicherten in Arbeiter und Angestellte (vgl. §§ 125, 126, 127 SGB VI) folgende Gruppen zu unterscheiden: Versicherte, deren hohe Qualifikation regelmäßig auf einem Hochschulstudium oder einer vergleichbaren Qualifikation beruht, Versicherte in Berufen, die eine erfolgreich abgeschlossene Fachhochschulausbildung oder eine zumindest gleichwertige Ausbildung voraussetzen, Versicherte in Berufen, die neben einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren zusätzliche Qualifikationen oder Erfahrungen oder den Besuch einer Fachschule voraussetzen, Versicherte mit einer Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren, angelernte Versicherte (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildung von drei Monaten bis zu zwei Jahren) sowie ungelernte Versicherte (vgl. zB zum Mehrstufenschema für "Arbeiter": BSG SozR 2200 § 1246 Nr 132; BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 138, 140; BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 1; zum allgemeinen Mehrstufenschema: BSG, Urteil vom 29. Juli 2004 – B 4 RA 5/04 R - juris).

Die Klägerin ist, wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist, im Rahmen des Mehrstufenschemas der dritten Berufsgruppe mit dem Leitberuf der Versicherten mit einer Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren zuzuordnen. Sie hatte den Lehrberuf des Friseurs, der eine dreijährige Regelausbildung voraussetzt (vgl. die Verordnung über die Berufsausbildung zum Friseur/zur Friseurin vom 21. Januar 1997 – BGBl I, 36 -), erlernt und die Ausbildung mit der Gesellenprüfung abgeschlossen sowie den Beruf der Friseurin zuletzt vom 1. Oktober 1995 bis 31. Januar 2005 ausgeübt; die Beschäftigung wurde zwar in Teilzeit ausgeübt, war aber versicherungspflichtig. Die Klägerin ist daher der dritten Berufsgruppe im Rahmen des Mehrstufenschemas (= frühere Berufsgruppe mit dem "Leitberuf des Facharbeiters") ohne weiteres zuzurechnen (vgl. BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 1 mwN).

Aufgrund der Bewertung des bisherigen Berufs der Klägerin als der eines anerkannten Ausbildungsberufs mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren ist die Klägerin aber im Rahmen des so genannten Mehrstufenschemas sozial zumutbar nur auf die nächst niedrigere Stufe und damit nur auf Anlerntätigkeiten verweisbar, für die ihr gesundheitliches Leistungsvermögen noch ausreicht und die sie nach einer Einarbeitungszeit bis zu höchstens drei Monaten vollwertig ausüben kann. Versicherte, die - wie die Klägerin – einen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren erlernt und bisher ausgeübt haben, können mithin nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die einerseits eine Ausbildung von mindestens drei Monaten voraussetzen, andererseits aber nach einer Einarbeitung von bis zu drei Monaten von der leistungsgeminderten Versicherten vollwertig verrichtet werden können. Diese – unterschiedlichen – Anforderungen an in Betracht zu ziehende Verweisungstätigkeiten sind grundsätzlich nur ausnahmsweise miteinander zu vereinbaren, und zwar ausschließlich dann, wenn die grundsätzliche Unvereinbarkeit im Einzelfall aufgrund einer fachlichen Nähe von Ausgangs- und Verweisungsberuf, einer Rückgriffsmöglichkeit auf eine frühere Ausbildung oder durch sonstige Vorkenntnisse aufgehoben ist (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 28. November 1980 - 5 RJ 98/80 - juris). Die Klägerin kann unter Berücksichtigung dieser an eine Verweisungstätigkeit zu stellenden Anforderungen auf die von der Beklagten zuletzt (nur) noch benannte Verweisungstätigkeit einer Telefonistin nicht verwiesen werden.

Der Beruf einer Telefonistin ist nämlich schon deshalb auszuschließen, weil die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen jedenfalls seit 10. November 2008 nicht in der Lage war und ist, diese Tätigkeit vollwertig auszuüben. Aus den im Berufungsverfahren eingeführten berufskundlichen Auskünften zu dieser Verweisungstätigkeit aus dem Verfahren – S 30 RJ 823/02L 3 RJ 18/04 – (SG Berlin/LSG Berlin-Brandenburg) und den Beschreibungen des Anforderungs- und Tätigkeitsprofils eines Telefonisten/einer Telefonistin bzw. eines Call-Center-Agenten/einer Call-Center-Agentin der Bundesagentur für Arbeit (BERUFENET.de) sind Arbeitsbedingungen zu ersehen, denen das Restleistungsvermögen der Klägerin nicht mehr entspricht. Denn diese Tätigkeiten sind im Sitzen auszuführen und regelmäßig mit Bildschirmarbeit verbunden. Dabei arbeiten ein Telefonist/eine Telefonistin nicht nur überwiegend, sondern nach den im Verfahren – S 30 RJ 823/02/L 3 RJ 18/04 – eingeholten Arbeitgeberauskünften aus dem Bereich des Landes B fast ausschließlich im Sitzen (vgl. die Auskünfte der Landesbank B vom 26. August 1999 – 95% Sitzen -, des Landesbetriebs für Informationstechnik B vom 17. August 1999 – 90 % Sitzen -, der B Bank vom 26. Juli 1999 – 85 % Sitzen -, der B Verkehrsbetriebe vom 9. November 1999 – 100 % Sitzen -, der – ehemaligen - Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 27. September 1999 – "ausschließlich" sitzende Tätigkeit – , der Bundesagentur für Arbeit vom 2. September 1999 – Arbeit "(nur)" im Sitzen -). Der Klägerin war und ist eine derartige Tätigkeit fast ausschließlich im Sitzen aber gesundheitlich nicht zuzumuten. Denn ihr Restleistungsvermögen erlaubt nach der übereinstimmenden Leistungsbeurteilung der Sachverständigen und der Ärzte der Kurklinik L nur Tätigkeiten überwiegend im Sitzen und dann auch nur, wenn die Möglichkeit zum Wechsel der Haltungsarten besteht. Der erforderliche Haltungswechsel ist aber ungeachtet dessen, wie oft und in welcher zeitlichen Abfolge er zu erfolgen hat, bei einer Tätigkeit als Telefonistin bzw. Call-Center-Agentin von vornherein schon deshalb nicht gewährleistet, weil bei diesen Tätigkeiten praktisch ausschließlich im Sitzen gearbeitet wird. Die erforderliche Kongruenz zwischen dem Anforderungsprofil der von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeit und dem der Klägerin verbliebenen Leistungsvermögen lässt sich somit nicht herstellen. Hinzu kommt, dass die Klägerin aufgrund ihrer schwerwiegenden Erkrankungen im Bereich der Halswirbelsäule und beider Schultern, die sich nach der Leistungsbeurteilung von Dr. Gsowohl hinsichtlich der Halswirbelsäulenbeweglichkeit als auch hinsichtlich der Schultergelenksbeweglichkeit beidseits verschlechtert haben, und den daraus resultierenden Leistungseinschränkungen weder einseitigen körperlichen Belastungen noch Zwangshaltungen ausgesetzt werden darf, die, wie allgemein bekannt ist, bei länger andauerndem Bedienen eines Computers und auch einer Telefonanlage nicht auszuschließen sind. Nach den im BERUFENET.de aufgeführten Arbeitsbedingungen eines Telefonisten/einer Telefonistin gehört aber ein derartiger Arbeitseinsatz am Computer, selbst wenn sich die Klägerin die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten im PC-Bereich innerhalb von drei Monaten aneignen sollte, zum regelmäßigen Arbeitsfeld einer Telefonistin. Soweit Dr. S eine "Computertauglichkeit" der Klägerin bejaht hatte, ist aufgrund der von Dr. Gfestgestellten Verschlechterung des Leidenszustandes der Klägerin jedenfalls seit der Notwendigkeit zur Operation der linken Schulter im November 2008 neben der von Dr. G angegebenen weiteren Einschränkung der Beweglichkeit der Halswirbelsäule auch noch die ebenfalls von diesem Sachverständigen angeführte weitergehende Einschränkung der Beweglichkeit beider Schultergelenke hinzugetreten, sodass auch insoweit die erforderliche Kongruenz zwischen dem Anforderungsprofil der Verweisungstätigkeit und dem Restleistungsvermögen der Klägerin auszuschließen ist.

Der Rentenbeginn folgt aus § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI. Die Rente wegen teilweiser EM bei BU ist auf Dauer zu leisten. Nach dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen ist es unwahrscheinlich, dass die BU begründende Leistungsminderung der Klägerin behoben werden kann (vgl. § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI). So hat insbesondere der Sachverständige Dr. G ausgesagt, dass die degenerativ bedingten und chronifizierten Leistungseinschränkungen der Klägerin nicht zu beheben sein werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin zuletzt (nur) noch eine Rente wegen teilweiser EM bei BU für die Zeit ab 1. Dezember 2008 beansprucht hat.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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