L 2 AS 3640/10 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 13 AS 1806/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 AS 3640/10 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Wenn bei einem Umzug die Grenze des Vergleichsraumes (i.S. der Rechtsprechung des BSG) überschritten wird, findet § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II keine Anwendung . In diesem Fall kommt es dann auch nicht darauf an, ob der Umzug erforderlich war und eine Zusicherung nach
§ 22 Abs. 2 SGB II zu erteilen gewesen wäre oder nicht.
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 25. Juni 2010 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner erstattet dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg.

Die nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde gegen die einstweilige Anordnung im Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen (SG) vom 25.06.2010 ist zulässig; insbesondere ist sie gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG statthaft. Sie ist jedoch unbegründet.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Gewährung von höheren Leistungen für die Unterkunft (KdU) im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nach erfolgtem Umzug des Antragstellers von 78176 Blumberg nach 78628 Rottweil (50 km), die dieser statt in Höhe der bisherigen Kaltmiete von 100 EUR in Höhe von nun fällig werdenden 270 EUR monatlich begehrt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen des § 86b Abs. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden Rechtszustandes geht (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG), nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (vgl. z.B. Beschlüsse Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (vgl. etwa Beschlüsse Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 6. September 2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - (beide juris) jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das SG den Antragsgegner im Ergebnis zu Recht verpflichtet, zeitlich begrenzt vorläufig monatlich weitere Leistungen in Höhe von 170 EUR zu gewähren. Allerdings kann die Entscheidung entgegen der Ansicht des SG nicht auf § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II und die Erforderlichkeit des Umzugs - hier aus familiären Gründen zur Gewährleistung des Umgangsrechts des Vaters mit seinen Kindern, die bei der getrennt lebenden Mutter der Kinder in Rottweil wohnen - gestützt werden. Denn die Vorschrift ist vorliegend nicht anwendbar.

Der Umzug von einer Stadt in eine andere, hier von Bl. in das 50 Kilometer entfernt liegende R., dürfte nämlich über die Grenze des Vergleichsraums iS der Rechtsprechung des BSG hinaus vorgenommen worden sein. Nach den Kriterien, die das Bundessozialgericht (BSG) für die Beurteilung des maßgeblichen räumlichen Vergleichsmaßstabs aufgestellt hat (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19.02.2009 - Az. B 4 AS 30/08 R), bildet grundsätzlich der Wohnort - hier der Ort B. - den Vergleichsraum. Zwar geht es darum zu beschreiben, welche ausreichend großen Räume (nicht bloße Orts- oder Stadtteile) der Wohnbebauung auf Grund ihrer räumlichen Nähe zueinander, ihrer Infrastruktur und insbesondere ihrer verkehrstechnischen Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bilden. So wurde beispielsweise das gesamte Stadtgebiet der Landeshauptstadt M. - mit ca. 310 km² - in die Vergleichsbetrachtungen als möglicherweise einzubeziehen gesehen. Vor dem Hintergrund und der Hervorhebung der verkehrstechnischen Verbundenheit hat der Senat auf Grund der ländlichen Struktur keine Bedenken davon auszugehen, dass der Antragsteller mit seinem Umzug nach R. den maßgeblichen räumlichen Vergleichsraum verlassen hat. Grundsätzlich gilt nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl I 1706 mit Wirkung ab dem 01.08.2006): Erhöhen sich nach einem nicht erforderlichen Umzug die angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, werden die Leistungen weiterhin nur in Höhe der bis dahin zu tragenden Aufwendungen erbracht. Die Vorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II findet jedoch auf Fallgestaltungen dieser Art, bei denen ein Umzug über die Grenzen des Vergleichsraums iS der Rechtsprechung des BSG hinaus vorgenommen wird, von vornherein keine Anwendung (vgl. BSG, Urteil vom 01.06.2010 - B 4 AS 60/09 R über juris Rdnr. 18). Auch SGB II-Leistungsempfänger können im Rahmen ihres Rechts auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) ihren Wohnsitz in einem Bundesland oder einer Gemeinde frei wählen. Es gehört nicht zu den Funktionen des Grundsicherungsrechts, die aufnehmende Kommune durch § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II vor arbeitsuchenden Hilfebedürftigen zu schützen (BSG Urteil vom 01.06.2010 - B 4 AS 60/09 R über juris Rdnr. 26).

Von daher kann dahinstehen, ob der Umzug erforderlich war und eine Zusicherung nach § 22 Abs. 2 SGB II zu erteilen gewesen wäre oder nicht, was das SG geprüft hat. Es kommt danach allein auf die Angemessenheit der KdU am Zuzugsort an. Der Hilfeempfänger hat zumindest Anspruch auf Aufwendungen in Höhe der Referenzmiete, dh es ist in jedem Fall der Teil der KdU zu zahlen, der nach der Produkttheorie im Rahmen der Angemessenheit liegt (BSG, Urteil vom 19.02.2009 - B 4 AS 30/08 R über juris Rnr. 28). Anhaltspunkte dafür, dass die Kaltmiete in Höhe von 270 EUR in Rottweil über der angemessenen Referenzmiete dort liegt, sind nicht ersichtlich und werden auch nicht vom Antragsgegner vorgetragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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