L 14 AS 218/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 200 AS 38423/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 218/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Für einen Freigänger, dessen Haftentlassung nicht sicher abzusehen ist, sind Unterkunftskosten zur Erhaltung der Wohnung weder nach den Vorschriften des SGB II noch SGB XII zu übernehmen; Haftdauer ca. 10 Monate
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Januar 2011 – S 200 AS 38423/10 ER – aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen. Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt M P, L Str. , B, beigeordnet; Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen sind nicht zu zahlen.

Gründe:

I.

Mit dem am 22. Dezember 2010 beim Sozialgericht Berlin gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Antragsteller die Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nebst Kosten für Unterkunft und Heizung seit dem 1. Oktober 2010 sowie die Übernahme einer Betriebs- und Heizkostennachforderung für das Jahr 2009 mit Rechnung vom 8. November 2010 in Höhe von 506,82 EUR.

Der 1966 geborene Antragsteller ist Mieter einer 34,54 qm großen Wohnung, für die er seit dem 1. Januar 2011 eine Bruttowarmmiete in Höhe von 325 EUR zu entrichtet hat. Der Antragsgegner gewährte ihm zuletzt mit Bescheid vom 19. April 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. Mai 2010 bis zum 31. Oktober 2010 unter Anerkennung von Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 287,53 EUR. Der Antragsteller stellte sich am 16. August 2010 ausweislich eines Schreibens der Justizvollzugsanstalt des
Offenen Vollzuges Berlin (nachfolgend: JVA) vom 16. November 2010 zum Strafantritt zur Verbüßung von drei Restgesamtfreiheitsstrafen bis zum 2. April 2012. Seit Juli 2010 nahm er eine vom Antragsgegner befristete Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung wahr, die mit Strafantritt endete. Am 6. Oktober 2010 wurde der Antragsteller zum Freigang zugelassen. Die Arbeitsmaßnahme wurde im Zuge dessen zunächst wieder aufgegriffen und am 5. Novem-ber 2010 erneut beendet. Der Antragsteller wird seither im Außenkommando der JVA beschäftigt. Mit Bescheid vom 20. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 2010 lehnte der Antragsgegner die Weitergewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab, gegen den der Antragsteller beim Sozialgericht Berlin zum Aktenzeichen S 200 AS 38423/10 Klage erhoben hat, über die noch nicht entschieden ist.

Das Sozialgericht Berlin hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 21. Januar 2011 vorläufig verpflichtet, ab dem 22. Dezember 2010 bis zum 31. Mai 2011, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum vom 22. Dezember 2010 bis zum 31. Dezember 2011 in Höhe von 107,70 EUR und im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Mai 2011 in Höhe von monatlich 359 EUR und Kosten der Unterkunft im Zeitraum vom 22. Dezember 2010 bis zum 31. Dezember 2010 in Höhe von 83,56 EUR und im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Mai 2011 in Höhe von 318,53 EUR monatlich zu gewähren; im Übrigen hat es den Antrag sinngemäß zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat am 3. Februar 2011 gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt mit der wesentlichen Begründung, der Antragsteller sei von den Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ausgeschlossen. Aufgrund der Inhaftierung habe er nach diesem Gesetz keinen Leistungsanspruch. Denn er übe keine Beschäftigung von mindestens 15 Wochenstunden aus. Die fehlende Erwerbsfähigkeit werde insofern gesetzlich fingiert.

II. Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts ist schon deswegen aufzuheben, weil die einstweilige Anordnung nicht inner-halb der Frist des § 929 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) vollzogen worden ist. Nach dieser Vorschrift ist die Vollziehung des Arrestbefehls (hier der einstweiligen Anordnung) unstatthaft, wenn seit dem Tage, an dem der Befehl verkündet oder der Partei (hier dem Beteiligten), auf deren Gesuch er erging, zugestellt ist, ein Monat verstrichen ist. § 929 Abs. 2 ZPO findet gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf den einstweiligen Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechende Anwendung.

Die danach analog geltende Vollziehungsfrist ist verstrichen. Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Januar 2011 ist dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 29. Januar 2011 zugestellt worden; bis zum 28. Februar 2011 (vgl. § 64 Abs. 2 Satz 2 SGG) sind keine Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Antragsgegner eingeleitet worden. Die einmonatige Vollziehungsfrist ist von Amts wegen zu beachten; sie kann weder abgekürzt noch verlängert
werden. Ist sie, wie hier, verstrichen, ist die Vollziehung der einstweiligen Anordnung nicht mehr zulässig. Deren Regelungsgehalt ist aufgrund dessen ab diesem Zeitpunkt weggefallen mit der Folge, dass die einstweilige Anordnung aufzuheben ist (vgl. schon den Beschluss des Senats vom 22. Juni 2007 – L 14 B 633/07 AS ER – Juris, sowie ferner LSG Rheinland-Pfalz, Be-schluss vom 26. Januar 2011 – L 6 AS 616/10 B ER – und LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13. Dezember 2010 – L 5 KR 173/10 B ER – jeweils Juris und m.w.N.).

Für den Ablauf der Vollziehungsfrist kommt es weder darauf an, dass der Antragsgegner nicht die Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses beantragt hat, noch darauf, dass der Antragsteller unter Fristsetzung bis zum 4. März 2011 mit Schriftsatz vom 28. Februar 2011 angedroht hat, die Vollstreckung aus dem sozialgerichtlichen Beschluss zu betreiben. Denn der Wortlaut des § 929 Abs. 2 ZPO, der die Vollziehung verlangt, ist insofern eindeutig.

Dahinstehen kann hier, ob aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) oder zur vorläufigen Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) ausnahmsweise eine erneute einstweilige
Regelung durch das Gericht geboten sein könnte (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, a.a.O., Rn. 20). Denn die Beschwerde des Antragsgegners ist auch in der Sache begründet.

Der Antragsteller hat auf die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts keinen Anspruch. Er ist weder leistungsberechtigt nach dem Zweiten noch nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Gemäß § 7 Abs. 4 Sätze 2 und 3 Nr. 2 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (BGBl. I, 453) erhält Leistungen nach diesem Buch u.a. nicht, wer sich, wie der Antragsteller, in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhält und nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. So liegt es hier. Der Antragsteller hält sich trotz der Zulassung zur Vollzugslockerung, zum Regelurlaub sowie zum Freigang im Sinne des § 39 Abs. 1 StVollzG in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter
Freiheitsentziehung auf. Er ist zur Verbüßung einer Strafhaft seit dem 16. August 2010 in der JVA untergebracht, welches dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung gleichsteht. Bei dem Aufent-halt in einer solchen, vom Gesetz gleichgestellten "stationären Einrichtung" kommt es nicht darauf an, ob diese ihrer Art nach die Aufnahme einer mindestens dreistündigen täglichen Er-werbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von vornherein ausschließt oder nicht (vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 81/09 – Terminbericht Nr. 8/11, im Internet unter http://www.bundessozialgericht.de). Vielmehr setzt § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II voraus, dass eine Erwerbstätigkeit in vorgenanntem Mindestumfang tatsächlich ausgeübt wird. Dies ist beim Antragsteller nicht der Fall. Er kann auch nicht einem Erwerbstätigen dadurch gleichge-stellt werden, dass er im Außenkommando der JVA beschäftigt wird. Hiermit kommt er
vielmehr ausschließlich seiner Arbeitspflicht als Inhaftierter gemäß § 41 Abs. 1 StVollzG nach, ohne unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes beschäftigt zu sein.

Der Antragsteller hat auch gegen den örtlich gemäß § 98 Abs. 4 und 2 Satz 1 SGB XII zuständigen, beigeladenen Sozialhilfeträger keinen Anspruch auf Übernahme der mit Schriftsatz vom 28. März 2011 sinngemäß jenem gegenüber geltend gemachten Unterkunftskosten. Zwar hat der Beigeladene die Gewährung von Sozialhilfe mit Bescheid vom 18. November 2010, gegen den der Antragsteller Widerspruch erhoben hat, zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller sei erwerbsfähig. Der Antragsteller hat jedoch gleichwohl keinen Anspruch auf die begehrten Leistungen. Ein solcher ergibt sich zunächst nicht aus § 27b Abs. 1 SGB XII in der Fassung des Gesetzes vom 24. März 2011 (a.a.O.), wonach der notwendige Lebensunterhalt in Einrichtungen den darin erbrachten sowie in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt umfasst. Denn weder handelt es sich bei der JVA um eine Einrichtung im Sinne des § 13 Abs. 2 SGB XII noch wird ein einrichtungsbezogener, ungedeckter Bedarf vom Antragsteller geltend gemacht oder ist ein solcher ersichtlich.

Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten gemäß §§ 67, 68 Abs. 1 SGB XII. Tatbestandliche Voraussetzung hierfür ist gemäß § 67 Satz 1 SGB XII, dass bei der leistungsberechtigten Person besondere
Lebensverhältnisse vorliegen, die mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind. Gemäß § 68 SGB XII i.V.m. § 1 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung beson-derer sozialer Schwierigkeiten (nachfolgend DVO) bestehen besondere Lebensverhältnisse u.a. bei fehlender oder nicht ausreichender Wohnung, bei ungesicherter wirtschaftlicher Lebensgrundlage, bei gewaltgeprägten Lebensumständen, bei Entlassung aus einer geschlossenen Einrichtung oder bei vergleichbaren nachteiligen Umständen. Solches ist gegenwärtig bei dem Antragsteller, der frühestens im Sommer dieses Jahres aus der Haft entlassen werden wird, nicht der Fall (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. März 2010 – L 8 SO 10/09 B – Juris Rn. 35 ff. zum Fall der Haftunterbrechung).

Zwar kann nach der Rechtsprechung ausnahmsweise Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII präventiv gewährt werden, wenn sie schon während der Haftzeit erforderlich wird. Insofern sind gemäß § 4 Abs. 1 und 2 DVO Maßnahmen zur Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung nach dem Dritten Kapitel SGB XII möglich, wie vom Beigeladenen auch nicht mehr grundsätzlich bestritten wird. Eine solche vorbeugende Leistung (vgl. auch § 15 Abs. 1 SGB XII) kommt jedoch regelmäßig nur bei kurzen Haftstrafen in Betracht, wenn die Übernahme der Miete zum Erhalt der bislang bewohnten Unterkunft erforderlich ist. Zwar ist die Rechtsprechung hinsichtlich der insofern längstens hinzunehmenden Haftstrafe nicht einheitlich (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – L 23 SO 109/09 B PKH – Juris Rn. 21 ff. m.w.N.; Bieback in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Auflage 2010, § 68 Rn. 22). Unter Berücksichtigung dessen jedoch, dass hier nach Maßgabe des dem Schriftsatz des Antragstellers vom 28. Februar 2011 beigefügten Schreibens seines Vermieters vom 21. Februar 2011 nun-mehr Mietrückstände seit dem 1. November 2010 einschließlich der Betriebskostennachforderung zuzüglich zu den laufenden Unterkunftskosten im Raum stehen, ohne dass ein Termin für die Haftentlassung gegenwärtig hinreichend konkret bestimmt wäre, nach dem Schreiben der JVA vom 28. März 2011 vielmehr lediglich damit gerechnet wird, dass im August 2011 eine Reststrafaussetzung zur Bewährung stattfindet, ist vorliegend nicht von einer zeitlich beschränkten, kurzen Haftdauer auszugehen, sondern von einem längerfristigen Haftaufenthalt, der die vorbeugende Sicherung der Wohnung durch den Beigeladenen nicht erforderlich macht.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung auch nur teilweise oder in Raten aufzubringen (§§ 73a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 114 f. ZPO).
Die Erfolgsausschichten der Rechtsverfolgung oder -verteidigung sind nicht zu prüfen (§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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