L 5 AS 50/08

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 58 AS 2836/07
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 5 AS 50/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die teilweise Aufhebung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) wegen versehentlich nicht als Einkommen berücksichtigten Kindergeldes und die Rückforderung der bereits erbrachten Leistungen.

Der 2003 geborene Kläger bildet mit seinen Eltern und den 1993 und 2000 geborenen Geschwistern eine Bedarfsgemeinschaft. Sein Vater beantragte am 2. Mai 2005 Leistungen nach dem SGB II, die ab dem 17. Mai 2005 auch bewilligt wurden. Bei Antragstellung gab der Vater des Klägers u.a. an, für die Kinder insgesamt 462,- EUR Kindergeld zu erhalten.

In der Folgezeit erließ der Beklagte zahlreiche Bewilligungsbescheide, mit denen dem Kläger und seiner Familie Leistungen bis zum 30. September 2007 bewilligt wurden. Dabei wurde jeweils das für den Kläger bezogene Kindergeld, anders als dasjenige seiner Geschwister, nicht als Einkommen berücksichtigt. Die Bewilligungsbescheide umfassen jeweils mehrere, teils mehr als zehn, teils auch mehr als zwanzig Seiten.

Mit Schreiben vom 24. Juli 2007 hörte der Beklagte den Vater des Klägers zu einer möglichen teilweisen Rückforderung der an den Kläger erbrachten Leistungen an. Mit einem von der Öffentlichen Rechtsauskunfts und Vergleichsstelle (ÖRA) aufgesetzten Schreiben vom 1. August 2007 machte der Kläger geltend, die Leistungsbescheide seien nicht in allen Einzelheiten nachvollziehbar und verständlich gewesen, so dass der Fehler nicht habe entdeckt werden können; die erbrachten Leistungen seien inzwischen verbraucht.

Mit einem an den Vater des Klägers gerichteten Bescheid vom 12. September 2007 hob der Beklagte die für den Zeitraum vom 17. Mai 2005 bis 31. August 2008 ergangenen Bewilligungsbescheide teilweise auf, soweit darin das für den Kläger bezogene Kindergeld nicht angerechnet worden sei. Zugleich wurde die Rückforderung von 3.755,- EUR verfügt.

Hiergegen erhob der Vater des Klägers mit Schreiben vom 19. September 2007 Widerspruch.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2007 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung sei nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gerechtfertigt. Der Vater des Klägers hätte erkennen müssen, dass das Kindergeld irrtümlich nicht angerechnet worden sei; bei den weiteren beiden Kindern sei es korrekt ausgewiesen worden.

Am 18. Dezember 2007 hat der Kläger Klage erhoben. In der mündlichen Verhandlung vom 18. April 2008 hat sein Vater erklärt, er überlasse diese Angelegenheiten seiner Frau, der Mutter des Klägers. Diese hat erklärt, sie überprüfe jeweils nur die Bewilligungssumme und diese sei ihr stets als nicht besonders hoch erschienen. Anfangs habe sie die Bescheide auch gelesen, aber es sei ihr nichts aufgefallen.

Mit Urteil vom 18. April 2008 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsbescheide nach § 45 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 SGB II und § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) lägen nicht vor, da es an einer groben Fahrlässigkeit der Eltern des Klägers – auf die infolge der Minderjährigkeit des Klägers abzustellen sei – fehle. So könne dem Vater des Klägers nicht vorgeworfen werden, dass er sich um die Leistungsangelegenheiten im Sinne einer Aufgabenteilung unter den Eheleuten nicht selbst kümmere. Auch die Mutter des Klägers habe aber nicht grob fahrlässig übersehen, dass das Kindergeld nicht angerechnet worden sei. Dieser Fehler sei zunächst nicht augenfällig gewesen, weil er der Bewilligungssumme erkennbar angehaftet habe. Denn das Kindergeld sei von Anfang an nicht in die Berechnungen eingeflossen, so dass die Leistungen von Anfang an in falscher Höhe ausgewiesen worden seien. Doch auch aus den Berechnungen der Leistungshöhe habe die Mutter des Klägers den Fehler nicht aufgrund einfachster Überlegungen erkennen müssen. Die zahlreichen Tabellen in den Bescheiden hätten unterschiedliche Angaben zum Einkommen aus Kindergeld ausgewiesen; eine Obliegenheit zur eingehenden Überprüfung würde eine dem Grundgedanken des § 45 SGB X widersprechende Überwälzung des Risikos eines Amtsverschuldens auf den Leistungsempfänger bedeuten. Im Übrigen wäre es aufgrund der eigenen korrekten Angaben durchaus naheliegend gewesen, selbst bei Entdecken des Fehlers anzunehmen, dass das Kindergeld an irgendeiner anderen Stelle des Bescheides berücksichtigt worden sei, oder gar, dass nach einer entsprechenden Regelung das Kindergeld nicht bei allen Kindern anzurechnen sei.

Mit der am 11. Juni 2008 eingelegten Berufung greift der Beklagte das Urteil des Sozialgerichts an. Der Fehler sei ohne weiteres erkennbar gewesen, zumal die Anrechnung des Kindergeldes bei den weiteren Kindern korrekt ausgewiesen worden sei. In der den Kläger betreffenden Spalte sei deutlich "0,00" angegeben worden.

Der Berufungskläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 18. April 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen

Der Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil des Sozialgerichts für richtig.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.

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Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg.

I. Sie ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

II. Die Berufung ist aber unbegründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts vom 18. April 2008 ist rechtmäßig; der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 12. September 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Eine Rücknahme der Leistungsbewilligung kann nur nach Maßgabe des § 45 SGB X ergehen. Denn es lagen mit den Bewilligungsbescheiden begünstigende Bescheide vor, die infolge der Nichtanrechnung des für den Kläger bezogenen Kindergeldes nach § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II rechtswidrig waren.

Der Kläger bzw. seine gesetzlichen Vertreter haben aber auf den Bestand der Bewilligung vertraut; ihr Vertrauen ist nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X auch schutzwürdig, da sie die erbrachten Leistungen ganz offenbar verbraucht haben. Insoweit ist die Aufhebung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X unzulässig.

Ein Ausschluss des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X kommt aus den vom Sozialgericht angeführten Gründen nicht in Betracht. Denn dass die Eltern des Klägers, auf die hier als seine gesetzlichen Vertreter abzustellen ist, die Rechtswidrigkeit der Bewilligung infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannten, kann nicht angenommen werden. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach dem Gesetz nur vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde. Das Gesetz trägt damit dem Umstand Rechnung, dass in dieser Fallgruppe die Angaben des Betroffenen zutreffend waren und die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides mithin auf Amtsverschulden beruht. Eine Verlagerung des Risikos unrichtiger Bescheidung auf den Begünstigten erscheint nur dann als verhältnismäßig, wenn er einfachste und naheliegende Überlegungen außer Acht lässt, also an seinem individuellen Verständnishorizont gemessen augenfällige Fehler übersieht (zu allem Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 45 Rn. 54 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung von BSG und BVerwG). Dabei trifft den Begünstigten, der zutreffende Angaben macht, keine Verpflichtung, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Allerdings sind die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, sich gegenseitig vor Schaden zu bewahren. Diesem Grundsatz entspricht es, dass der Begünstigte gehalten ist, den Bescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (BSG, Urt. v. 2.2.2001 – B 11 AL 21/00 R).

Nach diesem Maßstab dürfte zunächst dem Vater des Klägers kein Vorwurf zu machen sein, weil er die Leistungsangelegenheiten seiner Frau überließ. Das dürfte in einer Ehe und bei gemeinsamem Sorgerecht für den Kläger eine angemessene Form der Arbeitsteilung sein; es ist auch nicht erkennbar, dass der Vater des Klägers deutlich bessere Verständnismöglichkeiten besitzt, die ein Überlassen dieser Angelegenheiten an seine Frau offenkundig unvernünftig oder leichtsinnig erscheinen lassen. Beide Eheleute stammen aus K., der Vater des Klägers ist gelernter Satter bzw. Schweißer und war später als Packer, Hausmeister und Forstarbeiter tätig; die Mutter des Klägers ist gelernte Köchin und hat später als Reinigungskraft gearbeitet. Ein offenbarer Vorteil des Vaters des Klägers hinsichtlich formaler Bildung oder Umgang mit Behörden ist daraus nicht ableitbar.

Auch der Mutter des Klägers kann grobe Fahrlässigkeit nicht vorgeworfen werden. Richtig hat das Sozialgericht hervorgehoben, dass sich aus dem Verfügungsteil der Bescheide die Rechtswidrigkeit der Bewilligung nicht erkennen ließ. Das könnte etwa der Fall sein, wenn der bewilligte Betrag deutlich von dem des Vormonats abweicht, ohne dass sich im Sachverhalt Änderungen ergeben hätten. Das gäbe dem Betroffenen Anlass, bei der Behörde nachzufragen, und würde ihm den Vorwurf grober Fahrlässigkeit eintragen, wenn er dies unterließe. Hier jedoch war der Fehler von vornherein in den Bewilligungsbescheiden enthalten war und änderte sich die Bewilligungssumme nicht etwa nachträglich. Auch aus dem Begründungsteil der Bescheide, der insbesondere aus den jeweiligen Berechnungsbögen besteht, war der Fehler bei dem geforderten, aber auch ausreichenden bloßen Durchlesen und Kenntnisnehmen indes nicht im Sinne grober Fahrlässigkeit erkennbar. Der Begründungsteil der Bescheide war vielmehr derartig umfangreich und mit einer so großen Vielzahl von Zahlenangaben versehen, dass eine Augenfälligkeit des Fehlers für die Eltern des Klägers schon deshalb ausscheidet. Auch wenn das Kindergeld für den Kläger mit "0,00 EUR" ausdrücklich und fehlerhaft ausgeworfen wurde, springt dies doch dem Leser, der nicht gezielt diese Einzelangabe suchen und überprüfen will, unter den vielen weiteren Angaben und Zahlen nicht gleichsam ins Auge. Selbst bei näherer Durchsicht der Bescheide – die nicht rechtlich gefordert ist –, wie sie die Mutter des Klägers ihren Angaben zufolge vorgenommen hat, sprang der Fehler nicht ins Auge. Der Aufbau der Bescheide ist aufgrund der Komplexität der gesetzlichen Maßgaben ohnehin nur schwerlich nachvollziehbar. Hinzu kommt, dass die Berechnungen für den Kläger nicht in einer Reihe mit den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft, sondern aus Platzgründen in einer gesonderten Reihe vorgenommen wurden, so dass nicht mit einem Seitenblick die Unterschiede der die Kinder betreffenden Berechnungen hätten erkannt werden können. Überdies begann der erste, immerhin zehnseitige Bewilligungsbescheid vom 20. Mai 2005 mit einer Leistungsbewilligung für den halben Monat Mai 2005; als Kindergeldeinkommen wurden hier nur 154,- EUR ausgewiesen und auf zwei Kinder zu je 77,- EUR verteilt. Mit dem tatsächlichen Kindergeldzufluss in Höhe von 462,- EUR hatte das ohne weitere Rechenschritte – die aber nicht im Einzelnen im Bescheid dargelegt waren – nichts zu tun. Das mag in der Mutter des Klägers durchaus den Eindruck hervorgerufen haben, die Anrechnung des Kindergeldes folge eigenen, ihr nicht zugänglichen Regeln. Wenn dann für die (ganzen) Folgemonate 308,- EUR angerechnet und mit jeweils 154,- EUR verteilt wurden, wird das auch deshalb nicht mehr als Fehler im Sinne des Außerachtlassens einfachster und naheliegender Überlegungen augenfällig gewesen sein.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen. Es geht hier allein um die Einzelfallfrage des Vorliegens grober Fahrlässigkeit.
Rechtskraft
Aus
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