L 4 AS 343/10

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 55 AS 2839/07
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 343/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 30. September 2010 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob der Kläger für die Dauer einer Ersatzfreiheitsstrafe Arbeits-losengeld II beanspruchen kann und behalten darf.

Die Rechtsvorgängerin des Beklagten hatte dem Kläger mit Bescheid vom 5. April 2007 für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunter-halts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von monatlich 767,37 EUR bewilligt. Vom 4. September 2007 bis 1. November 2007 war der Kläger zur Ver¬büßung einer Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt H. untergebracht. Von dort meldete er sich am 2. Oktober 2007 telefonisch bei der Rechtsvorgängerin des Beklagten, teilte die Umstände seiner Inhaftierung mit und gab an, das Arbeitslosengeld II für November 2007 wolle er am 2. November 2007 in bar beim Amt abholen.

Am 18. Dezember 2007 hat der Kläger beim Sozialgericht Hamburg gegen die Rechts¬vor-gängerin des Beklagten Klage erhoben mit dem Begehren, ihm die Leistungen für Oktober 2007 auch insoweit auszuzahlen, als sie über die Kosten der Unterkunft hinausgehen.

Am 10. Januar 2008 erließ die Rechtsvorgängerin des Beklagten einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid, mit welchem der Bewilligungsbescheid vom 5. April 2007 für die Zeit vom 4. September 2007 bis 31. Oktober 2007 in Höhe von insgesamt 1505,50 EUR aufgehoben und dieser Betrag vom Kläger zurückgefordert wurde. In der Begründung heißt es, wegen der Unterbringung des Klägers in der Justizvollzugsanstalt hätten die Anspruchs¬voraus¬setzungen in der fraglichen Zeit nach § 7 Abs. 4 SGB II nicht mehr vorgelegen. Der Kläger sei seiner Verpflichtung aus § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), alle leistungs¬relevanten Änderungen in den Verhältnissen mitzuteilen, zumindest grob fahrlässig nicht rechtzeitig nachgekommen.

Der Kläger erhob Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 14. März 2008 zurück-gewiesen wurde: Der Aufhebungsbescheid finde seine rechtliche Grundlage in § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufgehoben werden solle, soweit der Betroffene seiner Pflicht zur Mitteilung wesentlicher Veränderungen vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen sei. Eine wesentliche Veränderung sei in der Inhaftierung des Klägers zu sehen. Damit habe er in diesem Zeitraum gemäß § 7 Abs. 4 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen mehr gehabt. Von der Veränderung habe die Behörde erst am 2. Oktober 2007 durch seinen Anruf Kenntnis bekommen.

Am 10. April 2008 hat der Kläger im Sinne einer Anfechtung die genannten Bescheide der Rechtsvorgängerin des Beklagten in seine zuvor erhobene Klage auf Auszahlung der Leistungen für Oktober 2007 einbezogen. Er hat vorgetragen, seinen Mitwirkungspflichten rechtzeitig nachgekommen zu sein. Er habe bereits frühzeitig einer Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft mitgeteilt, dass er voraussichtlich eine Haft antreten müsse. Zu Beginn der Haft habe er keine Möglichkeit gehabt, sich dort zu melden. Im Übrigen habe er während seiner Inhaftierung wöchentlich mehr als 15 Stunden gearbeitet.

Mit Gerichtsbescheid vom 30. September 2010 hat das Sozialgericht die Bescheide der Rechtsvorgängerin des Beklagten vom 10. Januar 2008 und vom 14. März 2008 (Widerspruchsbescheid) aufgehoben sowie die Rechtsvorgängerin verurteilt, an den Kläger einen Betrag i.H.v. 339,79 EUR (wegen Nichteinlösung eines entsprechenden Schecks für Oktober 2007) zu zahlen.

Der Gerichtsbescheid ist dem Beklagten am 4. Oktober 2010 zugestellt worden. Am 28. Oktober 2010 hat er Berufung eingelegt.

Zur Begründung seiner Berufung macht der Beklagte geltend, dem Kläger habe in der fraglichen Zeit ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II nicht zugestanden, weshalb die entsprechende Bewilligung aufzuheben und die Erstattung der bereits erbrachten Leistungen zu verlangen gewesen sei. Seine gesetzlichen Mitteilungspflichten habe der Kläger nicht erfüllt, obwohl man ihn auf diese frühzeitig hingewiesen habe.

Der Beklagte beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 30. September 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt die Entscheidung des Sozialgerichts und führt aus, die fraglichen Leistungen stünden ihm sehr wohl zu, und auch seinen Mitwirkungs- und Mitteilungspflich-ten sei er ordnungsgemäß nachgekommen.

Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vor dem Berichterstatter am 24. Fe-bru¬ar 2013 haben die Beteiligten übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Die Sachakten des Beklagten haben vorgelegen. Auf ihren sowie den Inhalt der Prozessakten wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter im schrift¬lichen Verfahren.

Die nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 30. September 2010 ist in der Sache nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10. Januar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2008 aufgehoben. Dem Beklagten dürfte zwar zuzugeben sein, dass dem Kläger für die Zeit der Ableistung der Ersatzfreiheitsstrafe Leistungen nach dem SGB II rechtlich nicht zustanden (§ 7 Abs. 4 S. 2 SGB II). Das hat das Bundessozialgericht jedenfalls in diesem Sinne entschieden (Urteil vom 24.2.2011, B 14 AS 81/09 R). Im Rahmen der hier allein in Betracht kommenden Eingriffsnorm des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X ist allerdings nicht allein erheblich, ob sich in den die Anspruchsvoraussetzungen bestimmenden tatsächlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung ergeben hat, sondern insbesondere auch, ob dem Betroffenen der Vorwurf gemacht werden kann, die Änderung vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht mitgeteilt zu haben (Nr. 2). Damit ist nicht allein entscheidend, ob § 7 Abs. 4 SGB II dem Anspruch des Klägers nach seiner Inhaftierung entgegenstand, sondern zusätzlich, ob der Kläger einen Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 4 SGB II überhaupt hätte erkennen können (vgl. auch Nr. 4). Dies ist nach Auffassung des Senats zu verneinen, da es sich nur um eine kurze Ersatzfreiheitsstrafe handelte, laufende Kosten des Lebensunterhalts weiterhin anfielen und dem Kläger als juristischem Laien eine eindeutig zutreffende Einschätzung der Rechtslage nicht möglich war (vgl. auch Beschluss des Senats vom 12.2.2013, L 4 AS 373/12 B PKH). Es kommt hinzu, dass die Auswirkungen einer kurzen Ersatzfreiheitsstrafe auf den Leistungsanspruch damals in Rechtsprechung und Literatur umstritten und auch noch Gegenstand von anhängigen Revisionsverfahren waren.

Von einer vorsätzlichen oder zumindest grob fahrlässigen Verletzung der dem Kläger nach § 60 Abs. 1 SGB I obliegenden Mitteilungspflichten kann auch nicht deswegen gesprochen werden, weil man ihn ausdrücklich darauf hingewiesen hätte, dass er den Antritt einer Ersatzfreiheitsstrafe sofort zu melden habe. Den vom Beklagten vorgelegten Gesprächsvermerken vom 24. Juli 2007 und vom 9. August 2007 lässt sich dies jedenfalls nicht eindeutig entnehmen. Am 24. Juli 2007 hatte der Kläger zwar auf den anstehenden Haftantritt verwiesen, und die Situation wurde mit ihm besprochen. Von einer weiteren Mitteilungspflicht ist hier jedoch nicht die Rede. Am 9. August 2007 wurde ebenfalls über die gegenüber dem Kläger verhängte Geldstrafe gesprochen, dass er diese bereits teilweise getilgt habe und nun eine Entscheidung des Amtsgerichts darüber ausstehe, ob er den Rest mit gemeinnütziger Arbeit ableisten könne. Tatsächlich wurde er bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, bei der Entscheidung des Amtsgerichts eine Mitteilung machen zu sollen. Der Wortlaut des Gesprächsvermerks deutet indes darauf hin, dass sich die Mitteilungspflicht auf diese Entscheidung des Amtsgerichts (zu gemeinnütziger Arbeit) be¬ziehen sollte, von einer konkreten Entscheidung über die Ersatzfreiheitsstrafe ist hier nicht die Rede. Bei all dem vermag der Senat ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten des Klägers nicht zu sehen, zumal er sich bereits am 2. Oktober 2007 bei der Rechtsvorgängerin des Beklagten telefonisch meldete und die Inhaftierung erwähnte, er also offenbar in Bezug auf seinen Leistungsanspruch gutgläubig war. Die Aufhebungs- und Rückerstattungsentscheidung der Rechtsvorgängerin des Beklagten kann unter diesen Voraussetzungen keinen Bestand haben, und durch die Entscheidung des Sozialgerichts, für Oktober 2007 einen Restbetrag auszuzahlen zu müssen, ist der Beklagte daher ebenfalls nicht beschwert. Seine Berufung war infolgedessen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Ein Grund, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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