L 19 AS 662/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 43 AS 3461/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 662/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 461/13 B
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
NZB als unzulässig verworfen
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28.02.2013 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufrechnung mit einer gegen sie bestehenden Forderung auf Rückzahlung von Leistungen nach dem SGB II i.H.v. 30.445,62 EUR gegen Ansprüche zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II i.H.v. 30% des Regelbedarfs.

Die Klägerin bezog ab 2003 Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. In dem Erstantrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Jahre 2004 gab sie u.a. an, sie stehe nicht in einer Ausbildung, sondern sei lediglich als Gasthörerin an der Universität zu L im Fach Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften eingeschrieben. Die Rechtsvorgängerin des Beklagten (im Folgenden: Beklagter) bewilligte der Klägerin daraufhin Arbeitslosengeld II (Alg II). Im September 2005 nahm die Klägerin ein Studium der Medizin an der Universität E auf. Ihr BAföG-Antrag wurde abgelehnt. In dem Fortzahlungsantrag auf Alg II teilte sie mit, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse sei gegenüber den Angaben im Erstantrag nicht eingetreten. Dies wiederholte sie in den Folgeanträgen.

Nachdem der Rechtsvorgängerin des Beklagten (nachfolgend einheitlich: Beklagter) Mitte 2008 bekannt geworden war, dass die Klägerin ein nach dem BAföG dem Grunde nach förderfähiges Studium absolviert hatte, stellte er die Leistungsgewährung ein und nahm mit Bescheid vom 27.10.2008 sämtliche Bewilligungsbescheide auf der Grundlage von §§ 40 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB II, 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X, 330 Abs. 2 SGB II zurück und forderte gemäß §§ 50 SGB X, 40 Abs. 2 Nr. 5 SGB II, 335 Abs. 1 SGB III die zu Unrecht gewährten Leistungen einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 30.445,62 EUR zurück.

Nach Aufgabe des Studiums im März 2010 beantragte die Klägerin erneut Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die der Beklagte bewilligte (Erstbescheid vom 09.04.2010). Mit Bescheid vom 07.07.2012 bewilligte der Beklagte für die Zeit ab 01.09.2012 Regelleistungen i.H.v. 374 EUR monatlich sowie Kosten der Unterkunft.

In der Zeit vom 01.12.2010 bis 31.02.2011 stand die Klägerin in einem Beschäftigungsverhältnis, das hieraus erzielte Einkommen wurde auf den Leistungsanspruch angerechnet. Ab 01.03.2012 nahm die Klägerin für vier Monate eine geringfügige Beschäftigung auf, das hieraus erzielte Einkommen i.H.v. 80 EUR rechnete der Beklagte nicht auf den Leistungsanspruch an.

Die gegen den Bescheid vom 27.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2008 erhobene Klage wies das SG Düsseldorf ab (Gerichtsbescheid vom 13.12.2010 - S 24 AS 56/09). Die hiergegen eingelegte Berufung wies das LSG Nordrhein-Westfalen zurück (Urteil vom 28.02.2012 - L 2 AS 157/11). Mit Beschluss vom 27.06.2012 - B 4 AS 99/12 B verwarf das BSG die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision als unzulässig.

Mit Schreiben vom 25.07.2012 hörte der Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Aufrechnung der Forderung aus dem Bescheid vom 27.10.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2008 gegen den Anspruch der Klägerin auf Alg II i.H.v. 112, 20 EUR monatlich (30% der Regelleistung i.H.v. 374 EUR) an. Die Klägerin legte gegen das Anhörungsschreiben Widerspruch ein. Sie sei nicht informiert gewesen, dass Forderungen der Arbeitsgemeinschaft auf den Beklagten übergegangen seien. Mit Bescheid vom 02.08.2012 verwarf der Beklagte den Widerspruch als unzulässig.

Mit Bescheid vom 14.08.2012 erklärte der Beklagte gem. § 43 SGB II ab 01.09.2012 die Aufrechnung i.H.v. 112,20 EUR monatlich gegen laufende Leistungen mit der Forderung aus dem Erstattungsbescheid vom 27.10.2008. Nach Abwägung der Interessen der Klägerin mit den Interessen der Allgemeinheit sei die Aufrechnung geboten, um die Forderung auf Rückerstattung überzahlter Leistungen zu realisieren.

Seit dem 01.09.2012 behält der Beklagte 112,20 EUR ein und überweist diesen Betrag an die Zentralkasse der Bundesagentur für Arbeit. In der Leistungsakte ist ein Wiedervorlagevermerk für August 2015 wegen "Aufrechnung beenden" notiert.

Mit Widerspruch vom 29.08.2012 trug die Klägerin die Auffassung vor, die Festsetzung der Aufrechnung sei ermessensfehlerhaft, der ihr verbleibende Betrag von 261,80 EUR monatlich liege auf dem Niveau der vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsrechtlich unzureichend erachteten Leistungen für Asylbewerber.

Mit Bescheid vom 07.09.2012 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.08.2012 zurück. Das Interesse der Allgemeinheit an einer zeitnahen Rückführung der überzahlten Leistungen überwiege das Interesse der Klägerin an einer ungekürzten Auszahlung. Der Klägerin sei die Forderung des Beklagten lange bekannt gewesen, so dass sie hätte Ansparungen vornehmen können. Dies gelte umso mehr, als die Klägerin zeitweilig Nebeneinkommen erzielt habe, das auf den Leistungsanspruch teilweise nicht angerechnet worden sei. Die Höhe der Aufrechnung sei mit 30% des Regelbedarfs vom Gesetzgeber bindend vorgeschrieben.

Die am 10.10.2012 unter Bezugnahme auf die Begründung des Widerspruchs erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 28.02.2013, auf dessen Begründung Bezug genommen wird, abgewiesen. Gegen das ihr am 14.03.2013 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12.04.2013 Berufung eingelegt und sich auf das erstinstanzliche Vorbringen bezogen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts vom 28.02.2013 abzuändern und den Bescheid vom 14.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.09.2012 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, die gesetzlich vorgesehene Höhe der Aufrechnung von monatlich 30 % des Regelbedarfs sei bei der Rückforderung von Leistungen, die aufgrund falscher Angaben der Betroffenen zu Unrecht erbracht worden sind, nicht zu beanstanden. In diesen Fällen genüge insbesondere unter Berücksichtigung des auf drei Jahre begrenzten Aufrechnungszeitraums die Erhaltung des physischen Existenzminimums des Betroffenen. Es sei der Klägerin zumutbar, auf in der Regelleistung enthaltene Leistungen zur Teilhabe vorübergehend zu verzichten. In besonderen Bedarfssituationen bestehe die Bereitschaft, Leistungen als Darlehen zu bewilligen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die beigezogenen Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Streitgegenstand des Verfahrens ist die mit Bescheid vom 14.08.2012 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 07.09.2012 i.H.v. 112,20 EUR monatlich ab dem 01.09.2012 erklärte Aufrechnung der Forderung aus dem Bescheid vom 27.10.2008 gegen die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist nicht rechtswidrig i.S.d. 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Der Beklagte ist befugt, die Aufrechnung unabhängig von der Bewilligung von Leistungen für einen bestimmten Bewilligungszeitraum durch Verwaltungsakt zu regeln (1). Der Bescheid des Beklagten vom 14.08.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.09.2012 entspricht den gesetzlichen Anforderungen (2). Verfassungsrechtliche Bedenken, insbesondere gegen die Höhe der vorgenommenen Aufrechnung, bestehen nicht (3).

1. Nach § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II (in der ab dem 01.04.2011 geltende Fassung der Neubekanntmachung vom 13.05.2011, BGBl I 850) können die Träger von Leistungen nach dem SGB II gegen Ansprüche von Leistungsberechtigten auf Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Erstattungsansprüchen (u.a.) nach § 50 SGB X aufrechnen.

Die Befugnis des Beklagten, die Aufrechnung durch Verwaltungsakt unabhängig von der Bewilligung von Leistungen für einen bestimmten Bewilligungszeitraum zu erklären, folgt unmittelbar aus § 43 Abs. 4 Satz 1 SGB II, wonach die Aufrechnung gegenüber der leistungsberechtigten Person schriftlich durch Verwaltungsakt zu erklären ist und spätestens drei Jahre nach dem Monat, der auf die Bestandskraft der in Abs. 1 genannten Entscheidung folgt, endet. Angesichts des Umstands, dass Leistungen nach dem SGB II ohnehin durch Verwaltungsakt bewilligt werden, erhält diese Bestimmung ihre eigentliche Bedeutung dadurch, dass die Vorschriften über die Bescheiderteilung - insbesondere die Verpflichtung zur Anhörung nach § 24 SGB X - und der Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte anzuwenden sind (Conradis in LPK-SGB II 5. Aufl. § 43 Rn. 22). Die Durchführung der Aufrechnung durch Einbehaltung der dem Grunde nach bewilligten Ansprüche stellt während des Aufrechnungszeitraums (drei Jahre nach dem Monat, der auf die Bestandskraft des Erstattungsbescheides folgt, § 43 Abs. 4 S. 2 SGB II) dann keine eigenständige Regelung mehr dar (vergl. Bayerisches LSG Beschluss vom 21.06.2013 - L 7 AS 329/13 B ER).

2. Die Voraussetzungen für die durch den Beklagten - nach Durchführung der gem. § 24 SGB X erforderlichen Anhörung - mit dem angefochtenen Bescheid erklärten Aufrechnung liegen vor.

Mit Eintritt der Bestandskraft des Bescheides vom 27.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2008 nach Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde im Verfahren B 4 AS 99/12 B war die in entsprechender Anwendung von § 387 BGB (hierzu Greiser in Eicher, SGB II, 3. Aufl. § 43 Rn. 12 m.w.N.) erforderliche Aufrechnungslage gegeben. Nach § 387 BGB kann die Aufrechnung erklärt werden, wenn zwei Personen einander gleichartige Leistungen schulden und die aufzurechnende Forderung durchsetzbar, die Forderung der anderen Person mindestens erfüllbar ist. Der Forderung der Klägerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II (Hauptforderung) stand die fällige und - seit Unanfechtbarkeit des Bescheides vom 27.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2008 auch durchsetzbare - Gegenforderung des Beklagten gegenüber. Beide Forderungen waren gleichartig, nämlich auf Geldleistungen gerichtet und standen im Verhältnis der Gegenseitigkeit, insofern. Klägerin und Beklagter zugleich Gläubiger und Schuldner des jeweils anderen waren. Der Beklagte ist nach § 76 Abs. 3 S. 1 SGB II Rechtsnachfolger der ursprünglichen Anspruchsinhaberin, der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung Mönchengladbach.

Die Höhe der vorgenommenen Aufrechnung (30 % des für die Klägerin maßgeblichen Regelbedarfs) ist nach § 43 Abs. 2 SGB II (seit 01.04.2011 bindend) vorgegeben, da keiner der enumerativ genannten Fälle vorliegt, in denen die Höhe der Aufrechnung auf 10 % des für den Leistungsberechtigten maßgebenden Regelbedarfs begrenzt ist. Die Dauer der vorgesehenen Aufrechnung wird im Widerspruchsbescheid vom 07.09.2012 zutreffend (§ 43 Abs. 4 S. 2 SGB II) auf drei Jahre beschränkt.

Der Beklagte hat Ermessen mit rechtmäßigen Erwägungen ausgeübt. Gesichtspunkte, die gerade im Falle der Klägerin im Sinne einer Ermessensreduzierung dazu zwingen könnten, von der Durchführung einer Aufrechnung abzusehen, werden von ihr nicht genannt und sind auch sonst nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der wiederholten Behauptung der Klägerin, überzahltes Alg II sei von ihr zu Unrecht zurückgefordert worden. Dies ist unter voller Ausschöpfung des Rechtswegs abschließend geklärt worden.

3. Der Senat hält die gesetzlich angeordnete Höhe der Aufrechnung mit 30% des maßgeblichen Regelbedarfs nicht für verfassungswidrig.

a) Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Der Schutzbereich dieses Grundrechts umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen (also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit) als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums garantiert jedoch keinen absoluten Betrag, den der Staat als Finanzmittel zu Verfügung stellen muss. Vielmehr verfügt der Gesetzgeber bei der Bestimmung von Art und Höhe der derart gebotenen Leistungen über einen Gestaltungsspielraum (BVerfG Urteile vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 mwN; 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Insofern sind gesetzliche (zum Gesetzesvorbehalt BSG Urteil vom 22.03.2012 - B 4 AS 26/10 R) Reduzierungen der Leistungsansprüche zulässig, soweit diese ihrerseits auf verfassungsrechtlich zulässigen Gründen beruhen (aa) und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (bb).

aa) Die Reduzierung des Leistungsanspruchs bei Aufrechnung beruht auf verfassungsrechtlich zulässigen Gründen. Verhaltensbedingte Leistungskürzungen, wie z.B. in den §§ 31 ff. SGB II, 26, 41 Abs. 4 SGB XII vorgesehen, sind im Fürsorgerecht zulässig (LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 09.03.2013 - L 8 AY 59/12 B ER m.w.N.). § 43 SGB II regelt in Anlehnung an die bis zum 31.12.2004 geltende Bestimmung in § 25a BSHG, die ab dem 01.01.2005 für den Bereich des Sozialhilferechts durch § 26 Abs. 2 SGB XII abgelöst worden ist, eine gegenüber der für alle Sozialleistungsbereiche geltenden Regelungen in § 51 SGB I verschärfte Aufrechnung (Burkiczak in juris-PK SGB II, 3. Aufl. 2012, § 43 Rn ... 4 f., 9; Kallert in Gagel, SGB II/SGB III, § 43 Rn. 1 f.). Die verschärfte Aufrechnungsmöglichkeit war zunächst in Gestalt von § 25a BSHG eingeführt worden, weil die in § 51 Abs. 2 SGB I vorgesehene Grenze der zulässigen Aufrechnung (Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit) dazu führte, dass die Bezieher von laufenden Sozialhilfeleistungen von jeglicher Rückführung der ggf. schuldhaft verursachten Überzahlungen zumindest während der Dauer des laufenden Sozialhilfebezuges verschont blieben. Zudem wurde die bestehende Regelung als ungerecht gegenüber der großen Mehrheit der Hilfeempfänger, die ehrliche Angaben macht, angesehen (BT-Drs. 12/4401, 81 f.). Vor diesen Hintergrund bestand und besteht in Rechtsprechung und Literatur weitestgehend Einigkeit hinsichtlich der grundsätzlichen Notwendigkeit von Aufrechnungsmöglichkeiten bei zurechenbar verursachten Forderungen, die über die Grenzen des § 51 SGB I hinausgehen, zumal individuelle Härten im Wege des Entschließungsermessens ausgeglichen werden können (vgl. z.B. Spranger, Rechtsprobleme der Aufrechnung nach §§ 25a BSHG, SGb 99, 692 f.; Greiser in Eicher, SGB II, 3. Aufl. § 43 Rn. 23).

bb) Die Dauer und die Höhe der nach § 43 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 4 SGB II im Fall von Erstattungsansprüchen, die auf einer Aufhebung oder Rücknahme von Bewilligungen gem. §§ 45, 48 SGB X beruhen, entsprechen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Höhe der Aufrechnung verletzt mit 30% des jeweils maßgebenden Regelbedarfs das Übermaßverbot nicht. Dieses besagt, dass die Schwere einer Grundrechtsbeschränkung bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe stehen darf. In dem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz und dem Interesse des Einzelnen an der Wahrung seiner von der Verfassung verbürgten Rechte ist es dabei zunächst Aufgabe des Gesetzgebers, in abstrakter Weise einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu erreichen (stRspr; vgl. nur BVerfG Urteil vom 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99).

Mit der bindenden Festlegung einer Aufrechnungshöhe von 30% der maßgeblichen Regelleistung in den Fällen verschuldeter Forderungsentstehung weicht § 43 SGB II in der ab dem 01.04.2011 geltenden Fassung sowohl von der vorhergehenden Fassung des § 43 SGB II ab, nach der eine Aufrechnung von bis zu 30% der maßgebenden Regelleistung im Ermessen des Leistungsträgers stand, als auch von § 26 SGB XII und der gemeinsamen Vorgängervorschrift beider Regelungen in § 25a BSHG, wonach jeweils eine Aufrechnung bis auf das zum Leben "Unerlässliche" (unter Ausklammerung nicht zum Erhalt der physischen Existenz benötigter Anteile der Gesamtleistung zwischen 70% und 80% der Regelleistung; hierzu Conradis in LPK BSHG, 6. Aufl § 25a Rn. 11; Streichsbier in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Aufl., § 26 SGB XII Rn. 18 f., Conradis LPK-SGB XII, 9. Aufl., § 26 Rn. 9 f., jeweils m.w.N.) im Ermessen des Leistungsträgers stand bzw. steht (vgl. zur Rechtslage vor Einführung von § 25a BSHG Bayerischer VGH Urteil vom 05.11.1991 - 12 B 91.219 m.w.N.; zur Rechtslage nach § 25a BSHG Spranger a.a.O., Conradis in LPK BSHG, 6. Aufl., § 25a Rn. 11; zur Rechtslage nach § 26 SGB XII derselbe in LPK-SGB XII, 9. Aufl., § 26 Rn. 9 f., derselbe in Berlit/Conradis/Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl., S. 1109 f.; zu § 43 SGB II Greiser in Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 43 Rn. 23 m.w.N., Conradis in LPK-SGB II, 5. Aufl., § 43 Rn. 23). Die unter Geltung des § 25a BSHG zulässige Aufrechnung bezog sich auf eine Regelleistung, die im Gegensatz zur Regelleistung nach dem SGB II keine Ansparanteile enthielt. Bei der Umstellung vom BSHG auf das SGB II und das SGB XII ist die Systematik der Bedarfe neu geordnet worden. Das BSHG ging von einer Unterteilung von laufenden Leistungen einerseits und einmaligen Leistungen für Bekleidung, Wäsche, Schuhe, Hausrat oder besondere Anlässe andererseits aus. Diese Bedarfe sind seit dem 01.01.2005 in die Regelsätze auf den Monat umgerechnet eingestellt worden, so dass der Hilfebedürftige für einmalige Bedarfe Rücklagen zu bilden hat (vgl. Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Aufl. § 28 SGB XII Rn. 16; BT-Drucks. 15/1514, S. 59). Durch die Zubilligung einer höheren Regelleistung wird der nach § 43 SGB II vorgesehene Kürzungsumfang in seinem Auswirkungen gegenüber der Rechtslage nach dem BSHG noch abgemildert.

Der Gesetzgeber hat die auf 30% des Regelbedarfs erweiterte Aufrechnungsmöglichkeit (u.a.) mit dem Grund der Forderung (fehlendes schutzwürdiges Vertrauen, insbesondere bei Aufhebungsentscheidungen nach vorwerfbarem Verhalten) sowie einer Absehbarkeit der Realisierung der Rückforderung begründet (BT-Drs. 17/3404, S. 116). Diese Gründe sind geeignet, die Höhe der Aufrechnung zu rechtfertigen, zumal im Falle der Klägerin auch bei voller Ausschöpfung des maximalen Aufrechnungszeitraumes von drei Jahren von den Verbindlichkeiten von über 30.000 EUR nur ein vergleichsweise geringer Anteil von weniger als 4.000 EUR getilgt sein wird. Der vom Gesetzgeber gewählte Kompromiss zwischen einer Herstellung materieller Gerechtigkeit durch Schadensausgleich und einer Wahrung der Interessen von Aufrechnungen Betroffener ist angesichts des Grundes der Gegenforderung nicht unangemessen zu Lasten der Klägerin. Zudem können die Folgen der Aufrechnung - wie vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung dem Grunde nach zugesichert - durch die Gewährung ergänzender Leistungen gemildert werden.

b) Die Klägerin kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass Asylbewerbern aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 (1 BvL 10710, 1 BvL 2/11) höhere Leistungen als die ihr verbleibenden gewährt werden müssen.

Es fehlt schon an einer Vergleichbarkeit der betroffenen Sachverhalte. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch die aus migrationspolitischen Gründen reduzierten Leistungen nach dem AsylbLG verletzt. Diese Reduzierung war nicht verfassungsgemäß, weil die Verknüpfung einer nur vorübergehenden Aufenthaltsdauer mit der Zugehörigkeit zum Leistungssystem des AsylbLG nicht gerechtfertigt war. Ob und in welchem Umfang der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen bei Personen mit nur vorübergehendem Aufenthaltsrecht gesetzlich abweichend bestimmt werden kann, hängt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts alleine davon ab, ob wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden könnten. Der Aufrechnungsmöglichkeit des § 43 SGB II liegen demgegenüber keine migrationspolitischen oder anderen allgemeinen Steuerungsziele zugrunde, sondern. - wie ausgeführt - die Absicht des Gesetzgebers, diejenigen verschärft zur mindestens teilweisen Rückführung zu Unrecht erhaltener Mittel heranzuziehen, die hieran ein Verschulden trifft. Auch in zeitlicher Dimension besteht keine Vergleichbarkeit mit der ungerechtfertigten Benachteiligung der Bezieher von Leistungen nach dem AsylbLG. Deren nur vorübergehender Verbleib in der Bundesrepublik ist nach Einschätzung des BVerfG anhand ihres aufenthaltsrechtlichen Status in keiner Weise zu prognostizieren, während die nach § 43 SGB II zulässige Aufrechnung auf den Zeitraum von längstens drei Jahren nach Eintritt der Bestandskraft der Gegenforderung beschränkt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Anlass zur Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
Saved