L 7 AS 446/14 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 13 AS 1139/14 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 446/14 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Grundsätzlich kein vorbeugender Rechtsschutz gegen künftige Sanktionen
1. Ein Eingliederungsverwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 S. 6 SGB II ist sofort vollziehbar nach § 39 Nr. 1 SGB II. Einstweiliger Rechtsschutz gegen Pflichten aus dem Eingliederungsverwaltungsakt ist durch Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG zu suchen.
2. Der Eingliederungsverwaltungsakt enthält keine Sanktionen nach §§ 31 ff SGB II. Sofern der Betroffene Pflichten aus dem Eingliederungsverwaltungsakt auf Eis legen will, um künftige Sanktionen zu verhindern, begehrt er vorbeugenden Rechtsschutz.
3. Für vorbeugenden Rechtsschutz ist ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse erforderlich, das insbesondere beinhaltet, dass der Betroffene nicht auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann. Gegen Sanktionen ist regelmäßig nachträglicher Rechtsschutz möglich und ausreichend. Einstweiliger Rechtsschutz hat grundsätzlich nicht die Aufgabe, Rechtsfragen zu beantworten, die mit einer gegenwärtigen Notlage nichts zu tun haben.
I. Auf die Beschwerde werden Ziffer I. und II. des Beschlusses des Sozialgerichts München vom 15. Mai 2014 aufgehoben und der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt.

II. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

III. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin C. B. beigeordnet. Ratenzahlungen sind nicht zu erbringen.



Gründe:


I.

Streitig ist im Eilverfahren, ob die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen einen Eingliederungsverwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 S. 6 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) anzuordnen ist.

Die 1967 geborene Antragstellerin ist seit 2006 als Floristin selbstständig erwerbstätig und alleinerziehende Mutter ihres im Jahr 2010 geborenen Sohnes. Beide wohnen zusammen mit den Eltern der Antragstellerin in einem Haus und beziehen seit Ende 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II. Dabei wurde nur ein Teil des Bedarfs durch anrechenbares Einkommen aus selbständiger Tätigkeit abgedeckt. Gegen die vorläufige Bewilligung vom 22.04.2014 wurde Widerspruch eingelegt, weil wegen einer Mutter-Kind-Kur ab Juni 2014 nur mehr ein monatliches Einkommen aus selbständiger Tätigkeit von 150,- Euro angesetzt werden könne.

Am 24.03.2014 unterzeichneten die Beteiligten eine Eingliederungsvereinbarung, die von der Antragstellerin mit Schreiben vom 26.03.2014 widerrufen wurde. Daraufhin erließ der Antragsgegner den mit der Vereinbarung inhaltsgleichen strittigen Eingliederungsverwaltungsakt vom 09.04.2014 (Seite 791 der Verwaltungsakte).

Als Ziele wurden darin festgelegt: "Beibehaltung der derzeitigen selbständigen Beschäftigung bis zum 18.04.2014. Verringerung/Beendigung der SGB II-Leistungen. Sollte sich bis zum 18.04.2014 keine Tragfähigkeit ergeben, so stellen Sie sich der allgemeinen Arbeitsvermittlung vollumfänglich zur Verfügung." Unterstützung durch das Jobcenter: "Er nimmt ihr Bewerberprofil in www.arbeitsagentur.de. auf. Beratung bei Bedarf." Bemühungen der Antragstellerin: "Beibehaltung der derzeitigen Beschäftigung als Floristin (selbstständige Tätigkeit). Wahrnehmung der Termine. Pünktliches Erscheinen zu den Terminen beim Jobcenter. Anzeige von Veränderungen. Die Antragstellerin legt bis spätestens 18.04.2014 eine Gewinn- und Verlustrechnung für das vorherige Jahr 2013 vor, sowie eine Vorschau für 2014." Diese Festlegungen würden für die Zeit vom 09.04.2014 bis 08.10.2014 gelten.

Gegen diesen Bescheid erhob die Bevollmächtigte der Antragstellerin am 15.04.2014 Widerspruch. In der Vergangenheit sei nach Berechnungen des Antragsgegners erhebliches Einkommen aus selbständiger Tätigkeit angefallen. Für die Zeit von Oktober 2010 bis März 2011 geht der Antragsgegner von einem durchschnittlichen monatlichen Gewinn von 1214,20 EUR aus (Bescheid vom 03.02.2014). Unabhängig davon könne die Antragstellerin bis 18.04.2014 die angeforderten Berechnungen nicht vorlegen. Über den Widerspruch wurde bislang nicht entschieden.

Mit Schreiben vom 17.04.2014 wurde der Antragstellerin ein Vermittlungsvorschlag für eine Tätigkeit als angestellte Floristin in Vollzeit unterbreitet.

Am 02.05.2014 stellte die Antragstellerin beim Sozialgericht München einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 09.04.2014.

Mit Beschluss vom 15.05.2014 ordnete das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an (Ziffer I des Beschlusses). Zugleich wurde der Antragsgegner verpflichtet, die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen (Ziffer II. des Beschlusses). Der Widerspruch habe gemäß § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Trotz Ablaufs der Frist zur Vorlage von Unterlagen bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis, weil sich die Antragstellerin fortlaufend der Arbeitsvermittlung zur Verfügung zu stellen habe. Der Antrag sei begründet, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestünden. Die auferlegten Pflichten würden nicht Bemühungen zur Eingliederung in Arbeit betreffen, sondern regeln, in welcher Weise die Antragstellerin ihr Einkommen zu dokumentieren habe. Dies seien jedoch keine geeigneten Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit, sondern dienten der Überprüfung der Leistungsberechtigung. Darüber hinaus fehle es an einer notwendigen und bislang nicht nachgeholten Anhörung.

Der Antragsgegner hat am 28.05.2014 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Die Antragstellerin beziehe seit Jahren Leistungen und erziele keine nachhaltigen Gewinne aus ihrer Erwerbstätigkeit. Der Antrag enthalte im Wesentlichen die Verpflichtung, innerhalb einer bestimmten Frist Nachweise zur selbstständigen Tätigkeit vorzulegen. Da diese Frist vor dem Eilantrag bereits verstrichen sei, sei ein Rechtsschutzbedürfnis nicht erkennbar. Die Antragstellerin liefere seit Jahren Angaben zu ihrer selbständigen Tätigkeit nur verzögert und unvollständig. Die Einschränkung der selbständigen Tätigkeit ergebe sich nicht aus dem strittigen Verwaltungsakt, sondern bereits aus § 10 Abs. 2 Nr. 5 SGB II und damit unmittelbar aus dem Gesetz. Das Kind habe das dritte Lebensjahr vollendet. Das Unterlassen von Bewerbungen auf Vermittlungsvorschläge sei unmittelbar aufgrund von § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II sanktionsbewehrt. Die Anhörung sei inzwischen nachgeholt worden.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 15.05.2014 aufzuheben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen. Zugleich hat die Antragstellerin Prozesskostenhilfe beantragt.

Der Leistungsbezug beruhe allein darauf, dass die Antragstellerin ihr Kind als Alleinerziehende zu betreuen und zu versorgen habe. Außerdem habe eine Baustelle unmittelbar vor dem Blumengeschäft erhebliche Umsatzeinbußen verursacht. Der Antragsgegner rechne in einem anderen Verfahren erhebliches Einkommen an. Eine Vollzeittätigkeit sei ohnehin nicht realistisch, weil die Betreuung des Kindes nicht gesichert sei. Ein Sanktionsverfahren sei bislang nicht eingeleitet worden, jedoch würden immer wieder Vermittlungsangebote zugesandt.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akten des Antragsgegners, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Beschwerdegerichts verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Beschwerde ist auch begründet, weil die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 09.04.2014 nicht anzuordnen war.

Das Sozialgericht hat richtig festgestellt, dass der Widerspruch gegen den Eingliederungsverwaltungsakt gemäß § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung hat und deshalb ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist.

Auch den Maßstab der gerichtlichen Prüfung hat das Sozialgericht zutreffend dargelegt. Die Entscheidung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG erfolgt auf Grundlage einer Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont zu bleiben und das öffentliche Interesse an der Vollziehung der behördlichen Entscheidung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu.

Dabei ist die Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II zu berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung der Individual- und öffentlichen Interessen (vgl. Greiser in Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, § 39, Rn. 1) dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. Eine Abweichung von diesem Regel-Ausnahmeverhältnis kommt nur in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen oder wenn ausnahmsweise besondere private Interessen überwiegen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 12c, Conradis in LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, Anhang Verfahren Rn. 131; Bay LSG vom 16.07.09, L 7 AS 368/09 B ER).

Es kann dahin gestellt bleiben, ob der Eingliederungsverwaltungsakt vom 09.04.2014 rechtmäßig war. Zweifel sind schon deswegen angezeigt, weil die Verpflichtung, für eine selbständige Tätigkeit binnen nur einer Woche eine Gewinn- und Verlustrechnung für das Jahr 2013 und eine Vorschau für das Jahr 2014 vorzulegen, an der Realität vorbeigeht.

Die Antragstellerin kann kein gewichtiges Interesse geltend machen, vom Vollzug des Verwaltungsaktes verschont zu werden. Sie geht wohl davon aus, dass mit dem strittigen Verwaltungsakt ihre selbständige Tätigkeit, die sie über Jahre hinaus mit viel Engagement verfolgte, beendet wird, zumindest das Ende dieser Tätigkeit eingeläutet wird. Dies ist aber nicht Inhalt des Verwaltungsaktes.

In den Zielen wird die Beibehaltung der selbständigen Tätigkeit bis zum 18.04.2014 angeführt. Zugleich wird unter den Bemühungen der Antragstellerin eine Beibehaltung der derzeitigen Beschäftigung ohne Zeitlimit gefordert. Da bis zum 18.04.2014 - mit viel zu kurzer Frist - Unterlagen zur nachfolgenden Beurteilung der wirtschaftlichen Tragfähigkeit der Tätigkeit angefordert wurden, kann das vorgenannte Datum nicht das Ende der Tätigkeit bedeuten. Sollte der Antragsgegner dies anstreben, müsste er dies eindeutig regeln und dafür eine Rechtsgrundlage finden. § 10 Abs. 2 Nr. 5 SGB II regelt die Zumutbarkeit einer anderen Arbeit, nicht die davon losgelöste Beendigung einer selbständigen Tätigkeit.

Dass sich die Antragstellerin der Arbeitsvermittlung "vollumfänglich" zur Verfügung stellen soll, hat keinen über die in § 10 SGB II geregelte Zumutbarkeit von Arbeit hinausgehenden Regelungsgehalt. Insbesondere lässt sich mit dieser Formulierung nicht die Zumutbarkeit einer Vollzeittätigkeit ohne Beachtung der in § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II festgelegten Belange der Kindererziehung regeln. Für die Verhängung von Sanktionen ist diese Pflicht im Übrigen zu unbestimmt.

Die Frist für die Abgabe der Unterlagen war schon verstrichen, bevor der Eilantrag beim Sozialgericht gestellt wurde. Eine Sanktion wurde deswegen nicht verhängt; davon ist dem Antragsgegner wegen der realitätsfernen Frist auch abzuraten.

Sofern die Antragstellerin mit dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung künftige Sanktionen verhindern will, macht sie vorbeugenden Rechtsschutz geltend. Sanktionen sind in dem strittigen Bescheid nicht enthalten. Für vorbeugenden Rechtsschutz ist ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse erforderlich, das insbesondere beinhaltet, dass der Betroffene nicht auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann. Es ist regelmäßig nachträglicher Rechtsschutz gegen die Sanktion möglich und ausreichend. Einstweiliger Rechtsschutz hat grundsätzlich nicht die Aufgabe, Rechtsfragen zu beantworten, die mit einer gegenwärtigen Notlage nichts zu tun haben (BayLSG, Beschluss vom 20.12.2012, L 7 AS 862/12 B ER).

Das Beschwerdegericht weist auf Folgendes hin:

Es ist naheliegend, dass die Antragstellerin ihre bereits 2006 begonnene selbständige Tätigkeit unbedingt weiterführen will. Der Gesetzgeber geht aber gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 5 SGB II davon aus, dass dieser Wunsch nur dann zu berücksichtigen ist, wenn "begründete Anhaltspunkte vorliegen, dass durch die bisherige Tätigkeit künftig die Hilfebedürftigkeit beendet werden kann." Derartige Anhaltspunkte sind hier Mangelware. Das wohl höhere Einkommen von Oktober 2010 bis März 2011 liegt lange zurück. Die Antragstellerin macht zugleich geltend, dass es nur in geringerem Umfang anrechenbar sei. Ungünstig ist auch, dass die Antragstellerin dieses Einkommen nur mit sehr langer Verzögerung mitgeteilt hat. In den letzten Jahren musste fortlaufend vorläufig monatlich zwischen 800,- und 1.100,- Euro an Leistungen bewilligt werden. Die kurzzeitige Mutter-Kind-Kur kann diesen Dauerzustand nicht erklären. Es ist auch schwer nachvollziehbar, wieso eine selbständige Tätigkeit mit im Wesentlichen ganztägiger Ladenöffnungszeit möglich ist, einer unselbständigen Tätigkeit aber die notwendige Kinderbetreuung entgegenstehe.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Der Antragstellerin ist für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe gemäß § 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) zu gewähren und Rechtsanwältin B. beizuordnen. Die Antragstellerin ist bedürftig und die notwendige Erfolgsaussicht ist gemäß § 119 Abs. 1 S. 2 ZPO nicht weiter zu prüfen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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