S 20 SO 36/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 36/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 SO 266/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten höhere Leistungen der Grundsicherung (GSi) nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), monatlich 6,50 EUR für den Zeitraum für Januar bis Dezember 2015.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist dauerhaft voll erwerbsgemindert. Sie ist als Schwerbehinderte anerkannt nach einem Grad der Behinderung von 70 und den Merkzeichen B und G. Sie lebt mit ihrem Vater, der auch ihr Betreuer ist, in einem gemeinsamen Haushalt. Sie arbeitet tagsüber in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) der Lebenshilfe B. Sie bezieht seit Februar 2012 ergänzende Leistungen der GSi nach dem SGB XII unter Berücksichtigung des Werkstatteinkommens. Das regelmäßige steuer- und sozialversicherungspflichtige Werkstatteinkommen beträgt (seit 2014) monatlich 102,00 EUR; dieser Betrag setzt sich zusammen aus dem Arbeitsentgelt I (75,00 EUR) und II (1,00) von zusammen 76,00 EUR und dem Arbeitsförderungsgeld (AFÖG) von 26,00 EUR. Bis heute 2014 berechnete die Beklagte das die Sozialhilfe mindernde Einkommen wie folgt: Werkstatteinkommen 102,00 EUR abzusetzende Beträge: - Arbeitsmittelpauschale - 5,20 EUR - Freibetrag § 82 Abs. 3 Satz 2 - 62,16 EUR - PV-Beitrag für Kinderlose - 1,38 EUR - AFÖG - 26,00 EUR anzurechnendes Einkommen 7,26 EUR

Durch Bescheid vom 17.12.2014 bewilligte die Beklagte der Klägerin GSi für die Zeit vom 01.01. bis 31.12.2015 unter Berücksichtigung des ab 01.01.2015 gestiegenen Regel- und Mehrbedarfes, aus denen sich ein Grundsicherungsbedarf von 374,40 ergab. Das hierauf anzurechnende Einkommen berechnete die Beklagte nunmehr wie folgt: Werkstatteinkommen (ohne anrechnungsfreiem AFÖG) 76,00 EUR abzusetzende Beträge - Arbeitsmittelpauschale - 5,20 EUR - Freibetrag § 82 Abs. 3 Satz 2 - 56,41 EUR - Pflegeversicherung - 1,38 EUR anzurechnendes Einkommen 13,01 EUR

Dagegen erhob die Klägerin am 30.12.2014 Widerspruch: Zwar seien die Regelbedarfsstufen neu festgesetzt worden; dagegen sei ihr nicht bekannt, dass sich die Berechnung des Freibetrages geändert habe. Die Klägerin verwies auf die entsprechende Berechnung des LSG Berlin-Brandenburg im Urteil vom 28.09.2006 (L 23 SO 1094/05).

Die Beklagte erläuterte der Klägerin mit Schreiben vom 08.01. und 14.01.2005 die geänderte Berechnung des Freibetrages nach § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII und wies darauf hin, dass die bisherige Berechnungsweise nicht korrekt gewesen sei. Die Klägerin hielt ihren Widerspruch aufrecht; sie verwies nochmals auf das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg und bat, den Freibetrag wie bis 2014 "urteilskonform" zu vermitteln.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 09.03.2015 zurück. Sie bezog sich für ihre Rechtsauffassung auf das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.07.2014 (L 8 SO 212/11). Danach gehöre das AFÖG nicht zum Arbeitsentgelt der WfbM gem. § 139 Abs. 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und könne daher nicht Grundlage der Berechnung des Freibetrages nach § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII sein.

Dagegen hat die Klägerin am 30.03.2015 Klage erhoben: Aus der Berechnung der Beklagten ergebe sich ein monatlicher Minderbetrag von 6,50 EUR zu ihren Ungunsten. Berechne man den Freibetrag nach § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII wie das LSG Berlin-Brandenburg, indem man zum Bruttoentgelt der WfBM nicht nur das Arbeitsentgelt, sondern auch das AFÖG rechne, so ergebe sich statt des von der Beklagten ermittelten anzurechnenden Einkommens von 13,01 EUR lediglich ein solches von 6,51 EUR.

Die Klägerin beantragt

die Beklagte unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 17.12.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2015 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 01.01. bis 31.12.2015 monatlich weitere 6,50 EUR Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer Auffassung fest und verweist auf das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.07.2014.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Beklagte hat die Höhe der GSi-Leistungen, die der Klägerin für den streitbefangenen Zeitraum nach dem Vierten Kapitel des SGB XII zustehen, richtig ermittelt. Sie hat insbesondere das auf den Sozialhilfebedarf anzurechnende, den Sozialhilfeanspruch mindernde Einkommen nach § 82 SGB XII zutreffend errechnet, speziell den vom Einkommen abzusetzenden Freibetrag gem. § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII.

Die Klägerin gehört aufgrund ihrer Behinderung zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach § 41 Abs. 1 und Abs. 3 SGB XII. Sie konnte und kann im streitbefangenen Zeitraum ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht vollständig aus ihrem Einkommen und Vermögen bestreiten (§§ 19 Abs. 2, 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Bei der Berechnung des Grundsicherungsbedarfs der Klägerin hat die Beklagte zutreffend den ab 01.01.2015 geltenden Regelsatz nach der Regelbedarfsstufe 3 (für eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die keinen eigenen Haushalt führt) in Höhe von monatlich 320,00 EUR zuzüglich eines Mehrbedarfs nach § 42 Nr. 2 i.V.m. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in Höhe von monatlich 54,40 EUR zugrunde gelegt. Hieraus ergibt sich ein monatlicher Sozialhilfebedarf von insgesamt 374,40 EUR. Hierauf ist das Einkommen der Klägerin nach Maßgabe des § 82 SGB XII anzurechnen mit der Folge, dass sich ihr Sozialhilfebedarf entsprechend mindert.

Gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII gehören zum Einkommen grundsätzlich alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert. Nach § 82 Abs. 2 SGB XII sind von diesem Einkommen bestimmte in den Ziffern 1 bis 5 näher bezeichnete Einkommensbestandteile abzusetzen. Im Fall der Klägerin sind dies konkret die Pflichtbeiträge zur Pflegeversicherung (§ 82 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII) in Höhe von 1,38 EUR, die Arbeitsmittelpauschale als eine mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgabe (§ 82 Abs. 2 Nr. 4 SGB XII) in Höhe von 5,20 EUR sowie das in § 82 Abs. 2 Nr. 5 ausdrücklich genannte Arbeitsförderungsgeld (AFÖG) in Höhe von 26,00 EUR. Zusätzlich ist von dem Einkommen ein Freibetrag nach § 82 Abs. 3 SGB XII abzusetzen; da die Klägerin in einer WfbM beschäftigt ist, richtet sich der für sie maßgebliche Freibetrag nicht nach § 82 Abs. 3 Satz 1, sondern ("abweichend von Satz 1") nach § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII. Hiernach ist zur Ermittlung des Freibetrags "bei einer Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen von dem Entgelt ein Achtel der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 zuzüglich 25 vom Hundert des diesen Betrag übersteigenden Entgelts abzusetzen".

Während in Satz 1 des § 82 Abs. 3 SGB XII auf das "Einkommen" als Grundlage der Freibetragsberechnung Bezug genommen wird, stellt das Gesetz in Satz 2 bei einer Beschäftigung in einer WfbM auf das "Entgelt" ab. Bleibt bei der Anwendung des Begriffs "Einkommen" in Satz 1 noch unklar, ob damit das (Brutto-)Einkommen ohne Absetzungen (Abs. 1 Satz 1) oder das (Netto-)Einkommen mit Absetzungen (Abs. 2) gemeint ist (vgl. dazu Geiger in LPK-SGB XII, 9. Auflg., § 82 SGB XII, Rn. 93), so ist die Begrifflichkeit in Satz 2 des § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII eindeutig. Das "Entgelt" bei einer Beschäftigung in einer WfbM ist in § 138 Abs. 2 SGB IX genau definiert. Danach zahlen die Werkstätten aus ihrem Arbeitsergebnis ein "Arbeitsentgelt, das sich aus einem Grundbetrag in Höhe des Ausbildungsgeldes, das die Bundesagentur für Arbeit nach den für sie geltenden Vorschriften behinderten Menschen im Berufsbildungsbereich zuletzt leistet, und einem leistungsangemessenen Steigerungsbetrag zusammensetzt". Aus dieser Begriffsbestimmung des (Arbeits-)Entgelts bei einer Beschäftigung in einer WfbM wird deutlich, dass das AFÖG, das die Werkstätten gem. § 43 Satz 1 SGB IX von den Rehabilitationsträgern erhalten, nicht zum Entgelt in Sinne des § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII gehört (so: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29.07.2014 – L 8 SO 212/11). Auch aus dem weiteren Wortlaut des § 43 SGB IX wird erkennbar, dass der Gesetzgeber zwischen dem Arbeitsentgelt und dem AFÖG unterscheidet und das AFÖG nicht Bestandteil des Entgelts aus einer Beschäftigung in einer WfbM ist.

Das LSG Berlin-Brandenburg äußert sich hierzu in seinem Urteil vom 28.09.2006 (L 23 SO 1094/05) nicht. Es geht zwar auf die Auslegungsfrage ein, ob in § 82 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB XII bei der Verwendung der Begriffe "Einkommen" und "Entgelt" vom Brutto- oder vom Netto-Einkommen bzw. -Entgelt auszugehen ist (und entscheidet sich für die Annahme des jeweiligen Bruttobetrages). Jedoch klammert das Gericht gänzlich die Frage aus, ob das AFÖG überhaupt Bestandteil des "Entgelts" in Sinne von § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII ist. In seiner Berechnung des Freibetrages bezieht es das AFÖG in das Entgelt, von dem aus der Freibetrag zu errechnen ist, mit ein, ohne dies näher zu begründen. Daher vermochte diese Berechnungsweise des LSG Berlin-Brandenburg die Kammer nicht zu überzeugen, anders als die am Wortlaut des Gesetzes (§ 138 Abs. 2 i.V.m § 43 SGB IX) orientierte Auslegung des Entgeltbegriffs und die darauf gründende Berechnung des Freibetrages nach § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII.

Mithin errechnet sich der Freibetrag nach § 82 Abs. 3 Satz 2 SGB XII im Fall der Klägerin ab Januar 2015 in folgenden Schritten: 1) "Entgelt" aus der WfbM-Beschäftigung 76,00 EUR 2) ein Achtel des Eckregelsatzes von 399 EUR 49,88 EUR 3) Differenz von 1) und 2) 26,12 EUR 4) 25% der Differenz von 1) und 2) 6,53 EUR 5) Freibetrag (= Summe von 1) und 4)) 56,41 EUR

Das gem. §§ 19 Abs. 2, 82 SGB XII anzurechnende – den Sozialhilfebedarf mindernde – Einkommen errechnet sich danach wie folgt:

§ 82 Abs. 1 SGB XII (Einkommen = alle Einkünfte; Satz 1) WfbM-Arbeitsentgelt I und II: 76,00 EUR AFÖG: 26,00 EUR Gesamteinkommen: 102,00 EUR

102,00 EUR

§ 82 Abs. 2 SGB XII ("Von dem Einkommen sind abzusetzen") Nr. 1: (-) Nr. 2: PV-Beiträge für Kinderlose - 1,38 EUR Nr. 3: (-) Nr. 4: Arbeitsmittelpauschale - 5,20 EUR Nr. 5: AFÖG - 26,00 EUR

§ 82 Abs. 3 S. 2 SGB XII – (Freibetrag bei Beschäftigung in WfbM) Berechnung: a) "Entgelt" (vgl. § 138 Abs.2 SGB IX): 76,00 EUR b) ½ des Eckregelsatzes (399 EUR): 49,88 EUR c) Differenz von a) und b): 26,12 EUR d) davon 25%: 6,53 EUR e) Freibetrag = b) [49,88 EUR] plus d) [6,53 EUR] 56,41 EUR - 56,41 EUR

Anrechenbares (Sozialhilfe minderndes) Einkommen 13,01 EUR

Der abstrakte Grundsicherungsbedarf in Höhe von 374,40 EUR vermindert um das anzurechnende Einkommen in Höhe von - 13,01 EUR ergibt den monatlich Auszahlungsbetrag ab 01.01.2015 in Höhe von 361,39 EUR

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die an sich nicht statthafte Berufung (vgl. § 144 Abs. 1 SGG) zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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