S 26 AS 405/17 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
26
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 26 AS 405/17 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der Unionsbürger, der innerhalb von 15 Monaten im Rahmen von zwei oder
mehreren Beschäftigungsverhältnissen eine Beschäftigungsdauer von
insgesamt über einem Jahr erreicht, kommt in den Genuss eines
fortwirkenden - grundsätzlich unbefristeten - Aufenthaltsrechtsrechts
nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU.
Er ist damit nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende ausgeschlossen, da er
über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer verfügt und nicht nur
über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchender.
1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 7.2.2017 Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende nach näherer Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften des Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches – SGB II – zu gewähren.

2. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

Der am 7.2.2017 beim Sozialgericht Chemnitz eingegangene Antrag der Antragstellerin, die Staatsangehörige der tschechischen Republik ist, auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt,

den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II ab Antragseingang in gesetzlicher Höhe vorläufig zu gewähren,

hat Erfolg, weil die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung vorliegen.

Nach § 86 b Abs. 2 Sätze 2 und 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i.V. mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO – ergeht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis, wenn der Antragsteller den geltend gemachten Anspruch, den Anordnungsanspruch, und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung, den Anordnungsgrund, glaubhaft macht. Wann ein Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch im Einzelfall glaubhaft gemacht ist, richtet sich nach dem Maß, in dem grundrechtlich geschützte Belange betroffen sind. Beim Grundrechtsträger dürfen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes keine schweren und unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen eintreten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05NVwZ 2005, 927 ff.). Zum Schutz elementarer Grundrechtsgüter kann es daher ausreichen, wenn die Prüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, dass das Bestehen des geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruchs überwiegend wahrscheinlich ist. Der Schutz elementarer Rechtsgüter erfordert zumeist auch im Eilverfahren eine über eine lediglich summarische Prüfung hinausgehende Bewertung der Sach- und Rechtslage.

Daran gemessen ist hier sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner kann dem Leistungsanspruch der Antragstellerin nicht den Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegenhalten, wonach ausgenommen von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende diejenigen Ausländerinnen und Ausländer sind, die sich allein auf der Grundlage eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhalten. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bezieht sich dabei insbesondere auf die Angehörigen der Staaten der Europäischen Union, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a Freizügigkeitsgesetz/EU grundsätzlich ein weitreichendes Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche haben.

Vorliegend spricht jedoch viel dafür, dass die Antragstellerin sich auf ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU berufen kann. Nach dieser Vorschrift bleibt das Recht eines Unionsbürgers, sich als Arbeitnehmer im Bundesgebiet aufzuhalten unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Vorliegend war die Antragstellerin in der Zeit vom 8.7.2013 bis 30.06.2014 und nochmals vom 22.09.2014 bis 25.11.2014 als Arbeitnehmerin im Bundesgebiet erwerbstätig. Nach Eintritt der Arbeitslosigkeit am 26.11.2014 gewährte die Bundesagentur für Arbeit der Antragstellerin Arbeitslosengeld I mit einer Anspruchsdauer von 180 Tagen. Mit dieser Gewährung ohne Feststellung einer Sperrzeit steht zum einen fest, dass die Arbeitslosengeld der Antragstellerin unfreiwillig im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU war. Des Weiteren hält es die Kammer für gerechtfertigt, auch die weitere Voraussetzung einer Beschäftigung von mehr als einem Jahr als erfüllt anzusehen.

Aus dem Wortlaut der Vorschrift alleine lässt sich nicht erkennen, ob die Beschäftigungsdauer ununterbrochen bestanden haben muss oder ob und ggf. in welchem Umfang Unterbrechungen unschädlich sind; bzw. anders herum ausgedrückt, inwiefern es zulässig ist, mehrere Beschäftigungszeiten unterhalb eines Jahreszeitraums zusammen zu rechnen. Gegen die Beschränkung nur auf die Fallvariante eines zusammenhängenden Beschäftigungszeitraums von einem Jahr spricht allerdings, dass es hierfür eines eindeutigen konkretisierenden Hinweises im Wortlaut der Vorschrift selbst bedurft hätte, wie etwa durch die Beifügung einer Wendung wie "ununterbrochen" oder etwa "zusammenhängend".

Ist der Wortlaut der Vorschrift damit insoweit offen, bedarf es der Ausfüllung der Bedeutung dieses Merkmals durch Auslegung. Und dabei spricht vieles dafür, dass die Beschäftigungszeit von einem Jahr jedenfalls bei einer solchen Sachlage, wie sie bei der Antragstellerin gegeben war, ein (nachwirkendes) grundsätzlich unbefristetes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin entstanden ist. Bereits mit ihrer Beschäftigung vom 8.7.2013 bis 30.6.2014 verfehlte die Antragstellerin eine zusammenhängende einjährige Beschäftigungsdauer nur um wenige Tage. Die daraufhin eintretende Beschäftigungslosigkeit lag noch unter drei Monaten, so dass die Antragstellerin noch im gleichen Jahr, d.h. in einem Gesamtzeitraum von ca. 15 Monaten eine Beschäftigungsdauer von mehr als einem Jahr erreichte. Damit erfüllte sie zugleich die Anwartschaft für die Bewilligung von Arbeitslosengeld I, das ihr entsprechend bewilligt wurde. Diese Umstände rechtfertigen es, die Antragstellerin nicht anders als die Personengruppe zu behandeln, die eine ununterbrochene Beschäftigungsdauer von mehr als einem Jahr vorweisen kann. Die Verbindung zum inländischen Arbeitsmarkt besteht in nahezu gleicher Intensität wie bei der Personengruppe, die mehr als ein Jahr ununterbrochen in einer Beschäftigung gestanden hat. Und letztlich ist es das Maß der Intensität der Verbindung zum inländischen Arbeitsmarkt, die unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten eine Schlechterstellung der Unionsbürger mit inländischen Arbeitnehmern bzw. Arbeitslosen verbietet. Auch das ist bei Auslegung der hier in Rede stehenden Vorschriften zu beachten.

Des Weiteren rechtfertigen systematische Gesichtspunkte, den Betroffenen nach dem Auslaufen von Arbeitslosengeld I – hier nach knapp einem halben Jahr – nicht von dem vom Gesetzgeber dann regelmäßig vorgesehenen Übergang in das Arbeitslosengeld II auszuschließen. Insbesondere die Entstehung einer Anwartschaftszeit für das Arbeitslosengeld I begrenzt dabei die Aneinanderreihung mehrerer Beschäftigungsverhältnisse auf höchstens zwei Jahre vor Eintritt der Arbeitslosigkeit und erscheint damit als praktikables und angemessenes Kriterium zur Bestimmung der für die Erfüllung der Jahresdauer in Frage kommenden mehreren Beschäftigungsverhältnissen von unter einem Jahr.

Für eine solche Interpretation des (nachwirkenden) Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmer spricht des Weiteren die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als Ausschlussregelung von existenzsichernden Sozialleistungen jedenfalls eng auszulegen ist, da er einerseits auch nicht nach dem Grad der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt und seinem beruflich möglichen Zugang zum Arbeitsmarkt differenziert sowie andererseits einen zeitlich unbefristeten Ausschluss der arbeitsuchenden Unionsbürger von SGB II-Leistungen vorsieht (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R –, BSGE 113, 60-70, SozR 4-4200 § 7 Nr. 34, Rn. 26).

Dem Antrag der Antragstellerin war demnach mit der sich aus § 193 SGG (entspr.) ergebenden Kostenfolge zu entsprechen. Eine Verpflichtung zur vorläufigen Leistung dem Grunde nach, hielt die Kammer bei dem hier allein umstrittenen Vorliegen eines Ausschlussgrundes für ausreichend.
Rechtskraft
Aus
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