L 7 AS 228/17 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 35 AS 5494/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 228/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 24.01.2017 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig neben der Regelleistung auch Kosten für Unterkunft und Heizung ab dem 12.12.2016 bis zum 11.06.2017, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, zu zahlen. Die Beschwerde des Antragsgegners wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

I.

Der am 00.00.1973 geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger. Die Anerkennung als Flüchtling iSd § 3 Abs. 1 AsylG erfolgte mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24.03.2016. Für die Durchführung des Asylverfahrens war der Antragsteller dem Land Sachsen-Anhalt zugewiesen. Seit dem 24.03.2016 ist der Antragsteller im Besitz einer von dem T-Kreis (Sachsen-Anhalt) ausgestellten bis zum 23.03.2019 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Diese trägt den Vermerk "Erwerbstätigkeit gestattet". Der Antragsteller wohnte zunächst in H/T-Kreis und erhielt Arbeitslosengeld II vom Jobcenter T-Kreis.

Am 27.07.2016 beantragte der Antragsteller beim Jobcenter T-Kreis die Zusicherung zur Übernahme der Kosten für eine Unterkunft in F. Mit Bescheid vom 27.07.2016 erteilte das nach § 22 Abs. 4 Satz 1 SGB II in der bis zum 31.07.2016 geltenden Fassung zuständige Jobcenter T-Kreis die beantragte Zusicherung. Am 01.08.2016 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit Bescheid vom 12.08.2016 hob das Jobcenter T-Kreis die Bewilligung des Arbeitslosengeldes II ab 01.08.2016 auf. Am 16.08.2016 unterschrieb der Antragsteller den Mietvertrag über die Wohnung in F, seither wohnt der Antragsteller in F.

Am 10.10.2016 teilte die Stadt F dem Antragsteller mit, dass er verpflichtet sei, seinen Wohnsitz in Sachsen-Anhalt zu nehmen. Unter demselben Datum wurde dem Antragsteller eine Anmeldebestätigung für die Stadt F erteilt.

Der Antragsgegner bewilligte zunächst vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bis einschließlich Oktober 2016 sowie weitere Leistungen (Mietkaution, Erstausstattung der Wohnung).

Im November 2016 beantragte der Antragsteller die Weiterbewilligung der Leistungen. Mit Bescheid vom 07.12.2016 lehnte die Stadt F die Aufhebung der "gesetzlichen Wohnsitzverpflichtung" ab. Mit Bescheid vom 15.12.2016 lehnt der Antragsgegner die Bewilligung der beantragten Leistungen ab. Da der Antragsteller gem. § 12a Abs. 1 AufenthG verpflichtet sei, seinen Wohnsitz in Sachsen-Anhalt zu nehmen, sei der Antragsgegner gem. § 36 Abs. 2 AufenthG für die Bewilligung der Leistungen nicht zuständig. Der Antragsteller wurde aufgefordert, Leistungen "bei dem zuständigen Träger entsprechend des Ihnen zugewiesenen Wohnorts" zu beantragen. Gegen den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 03.02.2017 hat der Antragsteller mittlerweile (13.02.2017) Klage erhoben (SG Duisburg - S 5 AS 679/17).

Am 12.12.2016 hat der Antragssteller beim Sozialgericht Duisburg beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen. Die eidesstattliche Versicherung vom 16.01.2017, wonach er nicht über Einkommen oder Vermögen verfüge, ist am 25.01.2017 beim Sozialgericht eingegangen.

Mit Beschluss vom 24.01.2017 hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 12.12.2016 vorläufig für einen Zeitraum von sechs Monaten "den Regelbedarf nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen". Im Übrigen (hinsichtlich der Unterkunftskosten) hat es den Antrag abgelehnt. Gestützt auf die Entscheidung des Senats vom 12.12.2016 - L 7 AS 2184/16 B ER hat es allein die gesetzliche Verpflichtung aus § 12a AufenthG, in einem anderen Bundesland zu wohnen, nicht als ausreichend für die Verneinung der örtlichen Zuständigkeit des Antragsgegners gem. § 36 Abs. 2 SGB II angesehen. Zudem sei fraglich, ob die durch § 12a Abs. 7 AufenthG angeordnete Rückwirkung der Wohnsitzregelung mit dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot vereinbar sei. Hinsichtlich der Unterkunftskosten sei in Ermangelung einer Räumungsklage des Vermieters noch kein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Gegen den Beschluss haben der Antragsteller am 27.01.2017 und der Antragsgegner am 22.02.2017 Beschwerde eingelegt.

Mit Schreiben vom 17.02.2017 hat der Vermieter des Antragstellers das Mietverhältnis zum 28.02.2017 gekündigt. Ungeachtet dessen bewohnt der Antragsteller die Wohnung noch.

Der Antragsteller macht Eilbedürftigkeit auch hinsichtlich der Unterkunftskosten geltend. Der Antragsgegner ist der Auffassung, der Antragsteller habe aufgrund der rechtswidrigen Verletzung der Wohnsitzauflage keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und erfülle damit die Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) bereits dem Grunde nach nicht. Jedenfalls fehle es gem. § 36 Abs. 2 SGB II an seiner Zuständigkeit für die Leistungserbringung. Soweit das Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung und der erkennende Senat im Beschluss vom 12.12.2016 - L 7 AS 2184/16 B ER abweichend eine Zuständigkeit des in Anspruch genommenen Jobcenters bejahten, verletze dies den eindeutigen Wortlaut von § 36 Abs. 2 SGB II. Dieser verweise auf alle Wohnsitzverpflichtungen nach § 12a AufenthG, mithin auch auf die gesetzliche Verpflichtung des § 12a Abs. 1 AufenthG. Aus der Gesetzesbegründung folge, dass Leistungen nur dort zu beanspruchen seien, wo der Schutzberechtigte seinen Wohnsitz zu nehmen habe. Die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen seien hiernach nur erfüllbar, wenn der Betroffene in dem Bundesland seinen Wohnsitz genommen hat, das sich aus der Anwendung von § 12a Abs. 1 AufenthG ergibt. Schließlich sei der Antragsgegner aufgrund der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) verpflichtet, ausländerrechtliche Lenkungsinstrumente (wie die Wohnsitzauflage) sozialrechtlich zu flankieren.

II.

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist nur mit der Maßgabe begründet, dass die Verpflichtung zur Leistungszahlung terminlich und klarstellend bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zu begrenzen war. Im Übrigen ist die Beschwerde des Antragsgegners unbegründet. Die Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antragsgegner zur vorläufigen Zahlung von Regelleistungen an den Antragsteller verpflichtet. Zu Unrecht hat es die Verpflichtung zur Zahlung von Unterkunftskosten abgelehnt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschluss vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER).

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) und einen Anordnungsgrund iSd § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG glaubhaft gemacht. Er hat durch Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung vom 16.01.2017 glaubhaft gemacht, dass er mangels ausreichenden eigenen Einkommens und Vermögens hilfebedürftig (§ 9 Abs. 1 SGB II) ist. Sein Lebensalter ist innerhalb der Grenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Im Hinblick auf die Gestattung der Erwerbstätigkeit im Aufenthaltstitel bestehen keine Bedenken gegen die Erwerbsfähigkeit iSd § 8 SGB II.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Die abweichende Argumentation des Antragsgegners läuft darauf hinaus, den Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland aufgrund der Verletzung der Verpflichtung aus § 12a AufenthG gänzlich zu verneinen und mit dieser juristisch konstruierten Nichtexistenz einen Leistungsanspruch abzulehnen. Dies verstößt gegen die gesetzliche Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts. Diesen hat nach der auch für § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II maßgeblichen Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I (hierzu nur Spellbrink/Becker in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn. 19) jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts setzt voraus, dass sich eine Person tatsächlich an dem betreffenden Ort aufhält, objektive Umstände darauf schließen lassen, dass sie längere Zeit dort verweilen will und der Aufenthalt nicht von vornherein auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist (vgl. BSG Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R). Der Antragsteller hält sich in Deutschland auf und hat hier eine Wohnung genommen. Es bestehen keinerlei vernünftige Zweifel daran, dass der Aufenthalt des als Flüchtling anerkannten syrischen Antragstellers in Deutschland nicht nur vorübergehend iSd § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I ist. Zwar ist der Antragsteller nach § 12a Abs. 1 AufenthG zur Wohnsitznahme in Sachsen-Anhalt verpflichtet. Nach dieser durch das Integrationsgesetz vom 31.07.2016 (BGBl I, 1939) ab 06.08.2016 eingefügten Vorschrift ist ein Ausländer der - wie der Antragsteller - als Flüchtling iSv § 3 Abs. 1 AsylG anerkannt worden ist, verpflichtet, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt (Wohnsitz) zu nehmen, in das er zur Durchführung seines Asylverfahrens oder im Rahmen seines Aufnahmeverfahrens zugewiesen worden ist. Die Regelung ist für den Antragsteller einschlägig, da seine Anerkennung als Flüchtling nach dem 01.01.2016 erfolgt ist (§ 12a Abs. 7 AufenthG). Dies ändert indes nichts am gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland. Für den Bereich des SGB II läuft es der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwider, wenn bei dessen Beurteilung dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale iS von rechtlichen Erfordernissen aufgestellt werden (BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R unter ausdrücklicher Ablehnung der abweichenden "Einfärbungslehre"; in diesem Sinne ausdrücklich für die Wohnsitzauflage auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 20.01.2017 - L 19 AS 2381/16 B ER und vom 06.03.2017 - L 21 AS 229/17 B ER).

Der Auffassung des Antragsgegners, die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen seien nur in dem Bundesland erfüllbar, in dem der Betroffene gem. § 12a AufenthG seinen Wohnsitz zu nehmen habe, steht die Regelung des § 22 Abs. 1a SGB II entgegen. Nach dieser ebenfalls durch das Integrationsgesetz mit Wirkung ab 06.08.2016 eingefügten Vorschrift bestimmt sich die Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung bei Personen, die einer Wohnsitzregelung nach § 12a Abs. 2 und 3 AufenthG unterliegen, nach dem Ort, an dem die leistungsberechtigte Personen ihren Wohnsitz zu nehmen hat. Durch die Regelung soll nach der Begründung der Koalitionsfraktionen zum Integrationsgesetz vom 31.05.2016 (BT-Drucks 18/8615 S. 33) klargestellt werden, dass die am Ort des zugewiesenen Wohnsitzes zuständigen kommunalen Träger die Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach den Verhältnissen an diesem Ort zu beurteilen haben, selbst dann, wenn sich die leistungsberechtigte Person tatsächlich - gegebenenfalls erlaubt - überwiegend an einem anderen Ort aufhält. Hieraus folgt, dass ein Leistungsanspruch auch an Orten bestehen kann, an denen sich der Betroffene der Verpflichtung des § 12a AufenthG zuwider aufhält.

Der Antragsgegner ist für den geltend gemachten Anspruch gem. §§ 36 Abs. 1, 6b SGB II örtlich zuständig und passivlegitimiert, da der Antragsteller im Bezirk des Antragsgegners seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Aus § 36 Abs. 2 SGB II in der ebenfalls durch das Integrationsgesetz ab 06.08.2016 eingeführten Fassung ergibt sich nichts anderes (so bereits Beschluss des Senats vom 12.12.2016 - L 7 AS 2184/16 B; in diesem Sinne auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 20.01.2017 - L 19 AS 2381/16 B ER und vom 06.03.2017 - L 21 AS 229/17 B ER). Die Vorschrift ordnet an, dass abweichend von § 36 Abs. 1 SGB II für die Leistungserbringung der Träger zuständig ist, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12a Abs. 1 bis 3 AufenthG ihren Wohnsitz zu nehmen hat.

Hieraus lässt sich für den vorliegenden Fall eine Unzuständigkeit des Antragsgegners nicht ableiten. Zwar verweist § 36 Abs. 2 SGB II auch auf § 12a Abs. 1 AufenthG. Diese gesetzliche Pflicht begründet ohne Umsetzung durch die Erteilung einer konkret-individuellen Wohnsitzauflage iSd § 12a Abs. 2 und 3 AufenthG jedoch keine von § 36 Abs. 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit. Der Bescheid der Stadt F vom 10.10.2016 stellt keine Wohnsitzauflage iSd § 12a Abs. 2 und 3 AufenthG dar. Die Stadt F bezieht sich ausdrücklich nur auf § 12a Abs. 1 AufenthG und die dort festgelegt Pflicht des Antragstellers, seinen Wohnsitz in Sachsen-Anhalt zu nehmen.

Diese Rechtsauffassung verstößt - entgegen der Meinung des Antragsgegners - nicht gegen den "eindeutigen Wortlaut" des § 36 Abs. 2 SGB II. Der Wortlaut von § 36 Abs. 2 SGB II fordert mit der Formulierung "ist der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person ihren Wohnsitz zu nehmen hat" im Gegenteil ausdrücklich die Bestimmbarkeit eines zuständigen Trägers, an dem es fehlt, wenn - wie hier - allein eine gesetzliche Wohnsitzauflage iSd § 12a Abs. 1 AufenthG besteht. Die Bezugnahme auf die generelle Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einem bestimmten Bundesland durch die Verweisung von § 36 Abs. 2 SGB II (auch) auf § 12a Abs. 1 AufenthG dient ersichtlich nur der Abgrenzung des betroffenen Personenkreises, der allein in § 12a Abs. 1 AufenthG definiert wird, was von den Folgevorschriften durch die jeweiligen Formulierungen "ein Ausländer, der der Verpflichtung nach Absatz 1 unterliegt" aufgegriffen wird. Allein diese Auslegung führt zu dem stimmigen Ergebnis, für jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen einen zuständigen Leistungsträger bestimmen zu können (hierzu ausführlich Aubel in: jurisPK § 36 SGB II Rn 16 f).

Auch die Begründung des Gesetzesentwurfs (BT-Drucks 18/8615 S. 33/34) stützt die Verneinung der Anwendung von § 36 Abs. 2 SGB II auf die gesetzliche Wohnsitzregelung des § 12a Abs. 1 AufenthG. Hiernach wird mit der Neuregelung eine ausschließliche örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit und des kommunalen Trägers am Ort eines nach § 12a AufenthG "zugewiesenen Wohnorts" begründet. Entsprechend sollen - worauf der Antragsgegner zutreffend hingewiesen hat - leistungsberechtigte Personen einen Antrag nach § 37 SGB II auf Leistungen nach dem SGB II nur "bei dem Jobcenter, in dessen Gebiet" die leistungsberechtigte Person ihren Wohnsitz zu nehmen hat, stellen und nur dort Leistungen erhalten können. Auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers setzt die örtliche Zuständigkeit nach § 36 Abs. 2 SGB II damit einen im Einzelfall zugewiesenen Wohnort voraus, der die Bestimmung eines für dieses Gebiet zuständigen Jobcenters ermöglicht. Allein die gesetzliche Verpflichtung, in einem bestimmten Bundesland zu wohnen, reicht demgegenüber nicht.

Keine anspruchsausschließende Bedeutung hat im vorliegenden Fall § 77 SGB II iVm § 7 Abs. 4a SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung, wonach Leistungen nicht erhält, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält und die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung entsprechend gelten. Die Anwendung dieser Bestimmungen setzt voraus, dass ein Jobcenter örtlich zuständig ist, für das der Arbeitsuchende erreichbar sein muss (so bereits Beschluss des Senats vom 12.12.2016 - L 7 AS 2184/16 B; ebenso LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 20.01.2017 - L 19 AS 2381/16 B und vom 06.03.2017 - L 21 AS 229/17 B ER). Wie dargelegt ist in Sachsen-Anhalt derzeit kein Jobcenter für den Antragsteller örtlich zuständig. In F sind die Voraussetzungen der Erreichbarkeit zwischen den Beteiligten nicht umstritten.

Schließlich greift auch die Argumentation des Antragsgegners hinsichtlich der nach seiner Meinung gem. Art. 20 Abs. 3 GG gebotenen sozialrechtlichen Flankierung ausländerrechtlicher Maßnahmen nicht durch. Der zuständigen Behörde ist es unbenommen, eine konkrete Wohnsitzauflage nach § 12a Abs. 2 und 3 SGB II zu erteilen und damit die Voraussetzungen für das Eingreifen der Zuständigkeitsregelung des § 36 Abs. 2 SGB II herzustellen. Es ist der Sozialrechtsordnung nicht fremd, trotz eines rechtswidrigen oder auf Beendigung gerichteten Aufenthaltsstatus existenzsichernde Leistungen zuzubilligen (zB § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG - Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer). Ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage - an der es, wie dargelegt, vorliegend fehlt - ist es nicht Aufgabe der Leistungsträger nach dem SGB II, ausländerrechtliche Vollzugsdefizite durch die Verweigerung existenzsichernder Leistungen auszugleichen (BSG Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R)

Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung in Bezug auf den Bedarf für Unterkunft und Heizung abgelehnt. Der Antragsteller hat auch insoweit einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (grundlegend Beschluss vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER mit zustimmender Anmerkung Siebold, ASR 2015,109; vgl. auch Beschlüsse vom 16.11.2015 - L 7 AS 1729/15 B ER, vom 04.03.2016 - L 7 AS 2143/15 B ER und vom 13.04.2016 - L 7 AS 507/16 B ER) ist für den Anordnungsgrund nicht erst ein akut drohender Verlust der Wohnung erforderlich. Eine Versagung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung führt unmittelbar zu einer Bedarfsunterdeckung, die den Kernbereich des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums berührt. Daher ist der Antragsgegner unabhängig davon, ob bereits eine Räumungsklage anhängig ist, zur Zahlung von laufenden Leistungen für die Unterkunft und Heizung zu verpflichten.

Die Verpflichtung des Antragsgegners lediglich dem Grunde nach folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 130 SGG. Die Geltungsdauer der Regelungsanordnung war klarstellend bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zu begrenzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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