S 7 AS 2249/17 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 2249/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II ist - in verfassungskonformer Auslegung - entsprechend anzuwenden, wenn sich im Haushalt minderjährige Kinder befinden und durch die Kumulation gleichzeitiger Sanktionen von verschiedenen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft eine Minderung des Arbeitslosengeldes II von mehr als 30 Prozent eintritt. In diesem Fall hat der Grundsicherungsträger zwingend ergänzende Leistungen zu erbringen. Ansonsten droht eine verfassungswidrige Bedarfsunterdeckung der minderjährigen Kinder durch Umschichtung von Mitteln innerhalb der Bedarfsgemeinschaft.

Umso mehr gilt dies, wenn die Bedarfsgemeinschaft zeitgleich durch eine monatliche Aufrechnung gegen den laufenden Leistungsanspruch belastet ist.

Der Träger muss gleichzeitig mit der Erteilung des Minderungsbescheides ergänzende Leistungen erbringen. Unterlässt er dies, ist der Minderungsbescheid rechtswidrig.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 22.08.2017 wird angeordnet. Der Antragsgegner wird in Aufhebung des Vollzuges des genannten Bescheides dazu verpflichtet, die aufgrund dieses Bescheides einbehaltenen Leistungen an den Antragsteller auszuzahlen. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines sogenannten Sanktionsbescheides.

Der ... geborene Antragsteller bezieht im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft mit seiner. geborenen Ehefrau und den im Jahr. und ... geborenen gemeinsamen Kindern, Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Antragsgegner. Die letzten Bewilligungsbescheide vom 02.06.2017 und 23.08.2017 umfassen den Bewilligungszeitraum vom 01.07.2017 bis 30.06.2018. Die der Bedarfsgemeinschaft zustehenden Leistungen wurden dabei im Wege der Aufrechnung zur Tilgung einer Erstattungsforderung des Antragsgegners um monatlich 50,00 EUR gekürzt.

Nach vorheriger Anhörung mit Schreiben vom 11.07.2017 stellte der Antragsgegner mit Bescheid vom 22.08.2017 eine Minderung des Arbeitslosengeldes II des Antragstellers um monatlich 30 % des maßgebenden Regelbedarfs (110,40 EUR) für den Zeitraum vom 01.09.2017 bis 30.11.2017 fest, da der Antragsteller durch sein Verhalten das Zustandekommen eines Beschäftigungsverhältnisses verhindert habe. Im Anhörungsschreiben sei der Antragsteller darüber informiert worden, dass ihm auf Antrag Gutscheine oder geldwerte Leistungen gewährt werden könnten. Da er bisher keine Gutscheine oder geldwerte Leistungen beantragt habe, würden zunächst keine gewährt. Mit zwei weiteren Bescheiden vom selben Tage stellte der Antragsgegner für den im Jahr ... geborenen Sohn des Antragstellers jeweils eine Minderung des Arbeitslosengeldes II um monatlich 10 % des maßgebenden Regelbedarfs (31,10 EUR) fest, da dieser zu Meldeterminen am 10.07.2017 bzw. 20.07.2017 ohne wichtigen Grund nicht erschienen sei.

Der Antragsteller erhob mit Schreiben vom 11.09.2017 (Eingang beim Antragsgegner: 14.09.2017) Widerspruch mit der Begründung, der Sanktionsbescheid vom 22.08.2017 sei rechtswidrig.

Am 14.09.2017 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Reutlingen den hier streitgegenständlichen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gestellt.

Der Antragsgegner wendet sich gegen den Antrag. Die Kumulationen von Sanktionen seien nach den gesetzlichen Bestimmungen personenbezogen, aber nicht personenübergreifend. Die Regelung in § 31a Abs. 3 SGB II könne nur auf die Person bezogen sein, deren Leistungen wegen Sanktion/Pflichtverletzung gemindert werde und dann um mehr als 30 %.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird verwiesen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der Entscheidungsfindung der Kammer gewesen ist.

II.

Der Antrag ist begründet.

Nach § 86b Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag 1. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen, 2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, 3. in den Fällen des § 86 a Abs. 3 die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wiederherstellen. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen (Satz 2).

Vorliegend handelt es sich um ein Begehren nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG mit dem Ziel, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Sanktionsbescheid vom 22.08.2017 anzuordnen. Bei dem auf § 31 SGB II gestützten Bescheid handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 39 Nr. 1 SGB II, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet. Die letztgenannte Regelung stellt einen der anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fälle dar, bei denen die aufschiebende Wirkung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt.

Bei der Entscheidung über das Begehren des Antragstellers ist die Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II zu berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung der Individual- und öffentlichen Interessen (vgl. Greiser in Eicher, SGB II, 3. Auflage, § 39, Rdnr. 4) dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. Eine Abweichung von diesem Regel-Ausnahmeverhältnis kommt nur in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen oder wenn ausnahmsweise besondere private Interessen überwiegen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 86b Rdnr. 12c,). Ist der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und ist der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird ausgesetzt, weil dann ein überwiegendes öffentliches Interesse oder Interesse eines Dritten an der Vollziehung nicht erkennbar ist. Ist die Klage aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens und die Entscheidung des Gesetzgebers in § 39 Nr. 1 SGB II mit berücksichtigt werden (vgl. zum Ganzen: Keller, a.a.O., Rdnr 12e ff).

Der Bescheid vom 22.08.2017 ist rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten.

Der Antragsgegner hat es in dem Bescheid vom 22.08.2017 versäumt, über die Gewährung ergänzender Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu entscheiden. Das Fehlen dieser Entscheidung macht den Bescheid rechtswidrig.

Gemäß § 31a Abs. 3 SGB II kann der Träger bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 % des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen (Satz 1). Der Träger hat Leistungen nach Satz1 zu erbringen, wenn Leistungsberechtigte mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben (Satz 2).

Die Voraussetzungen des § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II liegen im Hinblick auf eine analoge Anwendung dieser Vorschrift vor. Für die Entscheidung über die Erbringung ergänzender Leistungen bedarf es keines Antrages, soweit – wie hier – minderjährige Kinder im Haushalt leben (vgl. Sonnhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II § 31a Rdnr. 51 m.w.N.). Denn der Bedarf steht nach der Einschätzung des Gesetzgebers bereits wegen der Zugehörigkeit der minderjährigen Kinder zum Haushalt der Bedarfsgemeinschaft fest. Eine zeitlich versetzte Entscheidung würde die Gefahr erhöhen, dass minderjährige Kinder unter den Folgen einer Leistungskürzung infolge einer Pflichtverletzung leiden, die sie nicht verschuldet haben. Eine wegen der Sanktion erfolgende Umschichtung von finanziellen Mitteln zu Lasten der minderjährigen Kinder zu vermeiden, ist auch der Sinn der gesetzlichen Regelung (vgl. Sonnhoff, a.a.O. und Valgolio in Hauck/Noftz, SGB 5/16 § 31a Rdnr. 55 mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 17/3104, S. 112). Eine im Sanktionsbescheid fehlende Entscheidung über die Gewährung ergänzender Leistungen trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II macht den Bescheid rechtswidrig (Sonnhoff, a.a.O.).

Zutreffend weist der Antragsgegner darauf hin, dass allein bezogen auf die Person des Antragstellers die Hürde von 30 % nicht überschritten wird. Dennoch ist im vorliegenden Fall § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II anzuwenden, weil die Bedarfsgemeinschaft des Antragstellers insgesamt mit einer Sanktion von 50 % belegt ist, nämlich durch die Belastung des im Jahr ... geborenen Sohnes mit zwei zehnprozentigen Sanktionen wegen Meldeversäumnissen. Der oben dargestellte Sinn der Vorschrift (nämlich minderjährige Kinder von Umschichtungen zu ihren Lasten wegen eingetretener Sanktionen zu bewahren) sowie das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, welches durch den Regelbedarf festgelegt wird (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 - (juris)), gebieten zur Verhinderung einer verfassungswidrigen Bedarfsunterdeckung der minderjährigen Kinder eine analoge Anwendung der Vorschrift. Es kann keinen Unterschied machen, ob ein einzelnes Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft, zu deren Haushalt minderjährige Kinder gehören, eine Sanktion von mehr als 30 % zu tragen hat oder ob sich durch die gleichzeitige Belastung mehrerer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft insgesamt eine Überschreitung der 30 %-Grenze ergibt. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass minderjährige Kinder durch die Sanktionierung übermäßig belastet werden.

Im Übrigen ist die Gewährung ergänzender Leistungen nach § 31a Abs. 3 S. 2 SGB II auch deswegen geboten, weil die Hürde von mehr als 30 % auch dadurch überschritten wird, dass der Antragsgegner nach § 42 SGB II im maßgeblichen Minderungszeitraum mit einem Erstattungsanspruch gegen die laufenden Leistungen der Bedarfsgemeinschaft in Höhe von monatlich 50,00 EUR aufrechnet (vgl. Valgolio, a.a.O., Rdnr. 52a).

Vor diesem Hintergrund musste das Gericht die aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid vom 22.08.2017 eingelegten Rechtsbehelfs anordnen.

Nach § 86 b Abs. 1 Satz 2 SGG kann das Gericht bei Verwaltungsakten, die im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden sind, die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Diese Vorschrift stellt es in das Ermessen des Gerichts, Vollzugsfolgen rückgängig zu machen. Die Kammer macht - auch wegen des dahingehenden Antrags des Antragstellers - von ihrem Ermessen angesichts des existenzsichernden Charakters von Grundsicherungsleistungen auch dahingehend Gebrauch, die Vollziehung aufzuheben, sprich den Antragsgegner zu verpflichten, die seit 01.09.2017 einbehaltenen Beträge an den Antragsteller auszuzahlen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Die Entscheidung ist endgültig. Die Beschwerde ist gemäß § 172 Absatz 3 Satz 1 SGG ausgeschlossen, denn in der Hauptsache wäre die Berufung nicht zulässig. Diese ist nur statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes (§ 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1) bei einem auf eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung gerichteten Verwaltungsakt 750 EUR übersteigt. Dies ist hier nicht der Fall, denn es geht um einen monatlichen Betrag von 110,40 EUR für die Dauer von drei Monaten.
Rechtskraft
Aus
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