S 37 AS 6694/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 6694/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Nach § 75 EStG aufgerechnetes Kindergeld kann nur dann in ungekürzter Höhe als Einkommen nach § 11 SGB II angerechnet werden, wenn die Aufrechnung nach Beratung durch den SGB II-Träger zeitnah eingestellt wird.

2. Hat die Familienkasse eine Einstellung der Aufrechnung trotz Hinweis auf den Leistungsbezug der Person, für die das aufgerechnete Kindergeld gewährt wird, abgelehnt, geht ein möglicher Erstattungsanspruch des SGB II-Trägers nach § 104 SGB X einer Anrechnung des fiktiven, ungekürzten Kindergeldes vor.

3. Der Vorrang des Erstattungsverfahrens nach § 104 SGB X gilt in jedem Fall für Kindergeld, das die Familienkasse vor Kenntnis der Hilfebedürftigkeit aufgerechnet hat; insoweit ist ein Anspruch auf Rückerstattung aufgerechneten Kindergeldes noch ungeklärt (FG Münster vom 20.3.2019 – 7 K 3130/18 Kg).
1) Die Bescheide vom 4.7.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9.7.2019, dieser in der Fassung des Bescheides vom 12.7.2019 werden dahingehend abgeändert, dass auf den Bedarf der Klägerin zu 1) nur das tatsächlich ausgezahlte Kindergeld angerechnet wird; 2) Die Bescheide vom 4.7.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.7.2019 werden dahingehend abgeändert, dass auf den Bedarf der Klägerin zu 1) nur das tatsächlich ausgezahlte Kindergeld angerechnet wird. 3) Der Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten mit einer Mehrvertretungsgebühr für zwei Kläger. 4) Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist noch, ob Kindergeld, das wegen einer Aufrechnung nach § 75 EStG nur hälftig ausgezahlt wurde, im Rahmen der Einkommensanrechnung nach § 11 SGB II in voller Höhe zu berücksichtigen ist.

Die Kläger beziehen laufend Alg II als Teil einer 4-, seit Februar 2019 einer 3-köpfigen Bedarfsgemeinschaft.

Im Bewilligungszeitraum November 2018 bis April 2019 hatte der Beklagte auf die Leistung der Klägerin zu 1) 131 EUR BAföG und 194 EUR Kindergeld angerechnet, auf die Leistung des Klägers zu 2) 194 EUR Kindergeld.

Im Folge-Bewilligungsabschnitt Mai bis Oktober 2019 rechnete der Beklagte auf den Bedarf des Klägers zu 2) ab Juni 2019 zusätzlich zum Kindergeld von 194 EUR fiktiv 450 EUR Erwerbseinkommen (bereinigt 280 EUR) an.

Da die Kindergeldkasse mit Bescheid vom 7.3.2019 die Kindergeldberechnung für den Kläger zu 2) aufgehoben hatte und die Überzahlung in Höhe von 582 EUR im Wege einer Aufrechnung mit der Hälfte des für die Klägerin zu 1) gezahlten Kindergeldes einzog, hatte die Klägerin Widerspruch gegen die Anrechnung des vollen Kindergeldes auf ihren Hilfebedarf erhoben (Bescheid vom 13.5.2019 bzgl. Juni bis Oktober 2019).

Der Kläger zu 2) war nur wenige Tage im April 2019 gegen ein Entgelt von 50,50 EUR beschäftigt und hatte deshalb Widerspruch gegen die Anrechnung von Kindergeld und Erwerbseinkommen erhoben (Bescheid vom 13.5.2019 bzgl. Juni bis Oktober 2019).

Im laufenden Widerspruchsverfahren wurde ab Juli 2019 für beide Kläger ungeachtet des vorgelegten Bescheides der Familienkasse Kindergeld in Höhe von 204 EUR angerechnet (Bescheid vom 1.6.2019).

Nach nochmaliger Prüfung stellte der Beklagte die Anrechnung des Kindergeldes auf den Bedarf des Klägers zu 2) für März, April und Mai 2019 sowie ab Juni 2019 ein, behielt aber die Anrechnung von 450 EUR von Juni bis Oktober 2019 bei (Bescheide vom 4.7.2019)

Auf den Bedarf der Klägerin zu 1) wurden in den Bescheiden vom 4.7.2019 durchgehend 194 EUR, ab Juli 204 EUR angerechnet.

Im Widerspruchsbescheid vom 9.7.2019 bestätigt der Beklagte die Anrechnung des Erwerbseinkommens damit, dass ein Ende der Beschäftigung nicht nachgewiesen worden sei.

Nach Klageerhebung am 11.7.2019 änderte der Beklagte die angefochtenen Bescheide für den Zeitraum Juni bis Oktober 2019 dahingehend ab, dass auf den Bedarf des Klägers zu 2) weder Kindergeld noch Erwerbseinkommen angerechnet wird, für die Klägerin blieb es bei der vollen Anrechnung des Kindergeldes.

Im laufenden Widerspruchsverfahren gegen die Bescheide vom 4.7.2019 bzgl. der Monate März bis Mai 2019 begründet der Beklagte die Anrechnung des vollen Kindergeldes auf den Bedarf der Klägerin zu 1) damit, dass Schulden nicht bedarfserhöhend bzw. einkommensmindernd zu berücksichtigen seien (Widerspruchsbescheid vom 22.7.2019).

Auch hiergegen hat die Klägerin zu 1) am 25.7.2019 Klage erhoben, die zum laufenden Klageverfahren verbunden wurde.

Die Klägerin macht geltend, dass eine Abwehr der Aufrechnung trotz Einspruchs von der Kindergeldkasse zurückgewiesen worden sei, obwohl dort der Alg II-Bezug bekannt sei. Die Aufrechnung nach § 75 EStG sei kein Verwaltungsakt und daher auch nicht abzuwehren gewesen.

Die Anrechnung des vollen Kindergeldes laufe daher auf eine im SGB II unzulässige, endgültige Anrechnung fiktiver Einkünfte hinaus.

Der Bevollmächtigte der Kläger beantragt,

1) die Bescheide vom 4.7.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9.7.2019, diesen in der Fassung des Bescheides vom 12.7.2019 dahingehend abzuändern, dass nur das tatsächlich ausgezahlte Kindergeld angerechnet wird;

2) die Bescheide vom 4.7.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.7.2019 dahingehend abzuändern, dass nur das tatsächlich ausgezahlte Kindergeld angerechnet wird.

Die Beklagtenvertreterin beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zum übrigen Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die beigezogene Leistungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Gegenstand der Klagen sind zum einen der Bescheid vom 12.7.2019, mit dem der Klage gegen die Anrechnung des Erwerbseinkommens stattgegeben wird, die Anrechnung des vollen Kindergeldes ab Juni 2019 aber beibehalten wird. Zum anderen sind die Bescheide vom 4.7.2019 bezüglich der Monate März, April und Mai 2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.7.2019 streitig, soweit auch in diesen Monaten das seit März 2019 nur noch in Höhe von 97 EUR ausgezahlte Kindergeld mit 194 EUR angerechnet wird.

Die zulässigen Klagen sind auch begründet.

Das BSG hat in einer Reihe von Entscheidungen den Grundsatz, dass nur "bereite" Mittel, d. h. aktuell für den Bedarfszeitraum zur Verfügung stehende Mittel als Einkommen angerechnet werden können, dahingehend präzisiert, dass zwischen einer Einkommensverwendung (z. B. bei Tilgung eines Dispositionskredits – B 14 AS 10/14 R oder Zahlung von Unterhaltsschulden) und einer Einkommensentziehung (z. B. bei der Aufrechnung eines Betriebskostenguthabens gegen Mietrückstände - B 4 AS 132/11 R) zu unterscheiden ist. Auch im letztgenannten Fall liege zwar ein Zufluss i.S. eines wertmäßigen Zuwachses vor, für eine Anrechnung als Einkommen nach § 11 SGB II komme es aber darauf an, ob die Entziehung beseitigt werden könne. Dabei dürften an die Realisierungsmöglichkeiten zur Auszahlung des entzogenen Einkommens keine überhöhten Anforderungen gestellt werden; ggf. habe der SGB II-Träger den Leistungsberechtigten bei der Verfolgung berechtigter Ansprüche zu unterstützen.

Soweit die Instanzgerichte diese Grundsätze aufgegriffen haben, wird die Selbsthilfeobliegenheit mit einer Beratung- und Unterstützung durch die Jobcenter zur Realisierung der Selbsthilfe verknüpft (statt vieler LSG Sachsen vom 21.9.2017 - L 3 AS 480/12; LSG NRW vom 8.11.2018 - L 19 AS 240/18).

Im Fall einer Aufrechnung nach § 75 EStG kommt der Frage, ob der SGB II-Träger seiner Beratungsaufgabe als Nebenplicht aus dem Sozialleistungsverhältnis nachgekommen ist, zentrale Bedeutung zu. Denn abweichend vom SGB II wird die Aufrechnung von den Finanzgerichten nicht als Verwaltungsakt gewertet. Es erfolgt daher auch keine Anhörung vor Durchführung der Aufrechnung und der bezugsberechtige Elternteil wird auch nicht darüber informiert, dass die Aufrechnung unzulässig ist, soweit "dadurch" Hilfebedürftigkeit eintritt, was die Frage aufwirft, ob auch Hilfebedürftigkeit, die unabhängig von der Aufrechnung besteht, gegen die Aufrechnung geltend gemacht werden kann.

Hinzu kommt, dass nach dem Wortlaut von § 75 EStG unklar ist, wer der "Leistungsberechtigte" ist, der sich mit Nachweis der Hilfebedürftigkeit gegen die Aufrechnung wehren kann: Der bezugsberechtigte Elternteil, das Kind, für das zu Unrecht Kindergeld gezahlt wurde oder, wie hier, das Kind, für das noch Kindergeld gewährt wird?

Außerdem ist noch nicht abschließend geklärt, ob der eine Aufrechnung nach § 75 EStG ausschließende Nachweis der Hilfebedürftigkeit im Falle einer beratungsbedingt verzögerten Reaktion auch rückwirkend mit der Folge einer Erstattung der einbehaltenen Kindergeldbeträge erbracht werden kann (s. dazu FG Münster vom 20.3.2019 – 7 K 3130/18 Kg).

Und schließlich ist unklar, wie der Realakt der Aufrechnung zeitnah gestoppt werden kann: Genügt die Vorlage des aktuellen SGB II-Bescheides, genügt der Einspruch, wenn die Aufrechnung mit einem Bescheid zur Aufhebung der Kindergeldfestsetzung verbunden ist oder muss die Aufrechnung als vollstreckungsähnliche Maßnahme mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung entsprechend § 69 Abs. 4 FGO abgewehrt werden?

Dass der schlichte Hinweis auf Rechtsschutzmöglichkeiten nicht genügt, um ein faktisch entzogenes Mittel normativ zu einem bereiten Mittel zu erklären (so aber LSG NRW vom 2.3.2015 - L 19 AS 1475/14 NZB), zeigt gerade der vorliegende Fall. Denn obwohl die Kläger, mit anwaltlicher Hilfe am 27.3.2019 Einspruch gegen den Bescheid vom 7.3.2019 erhoben, hat die Familienkasse den Einspruch, mit dem die Hilfebedürftigkeit bekanntgegeben wurde, als unbegründet zurückgewiesen, u. a. mit Verweis darauf, dass der Bezug von Alg II für die Rückerstattung ohne Bedeutung sei.

Somit stellt sich hier die Frage, ob eine einstweilige Anordnung nach § 114 AO oder § 69 AO analog beim Finanzgericht als zumutbare Selbsthilfe verlangt werden konnte und wenn ja, ob wegen Ausbleibens dieser Selbsthilfe das volle Kindergeld fiktiv angerechnet werden durfte.

Nach Auffassung der Kammer würde dies die Selbsthilfeanforderungen an den Leistungsberechtigten überspannen.

Vielmehr ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob die trotz Kenntnis der Hilfebedürftigkeit unzulässig weitergeführte Aufrechnung nach Tilgung der Überzahlung eine Rückerstattung der einbehaltenen Beträge begründet.

Hält man dies für möglich, kann der Beklagte den Nachranggrundsatz über die Anmeldung eines Erstattungsanspruchs nach § 104 SGB X sichern. Dieser Weg ginge einer riskanten und hier unverschuldet verspäteten Selbsthilfe vor dem Finanzgericht auch unter Heranziehung des Rechtsgedankens aus § 65 SGB I vor.

Nach alldem können die 97 EUR, die die Familienkasse einbehalten hat, nicht als bereites Mittel kraft zeitnaher Verfügbarmachung angerechnet werden

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Haupt- Sache unter Berücksichtigung der Rücknahme der ursprünglich auch für den Vater der Kläger erhobenen Klage. Da für diesen keine Leistungen beantragt worden waren, wäre eine Kostenquotelung auf 2/3 nicht gerechtfertigt. Stattdessen war die Mehrvertretungsgebühr auf 2 Kläger zu begrenzen.

Das Gericht hat die Berufung zugelassen, weil die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Kindergeld trotz Aufrechnung nach § 75 EStG in voller Höhe angerechnet werden kann, noch nicht geklärt und von allgemeiner Bedeutung ist (Zulassung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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