L 4 AY 4/20 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 AY 22/19 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AY 4/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Anwendung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 AsylbLG in der seit 21. August 2019 geltenden Fassung und ihrer Vorläuferregelungen ist am Maßstab der Anforderungen aus BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 - 1 BvL 7/16 - ausgeschlossen, soweit sich im Einzelfall durch die Anwendung der Normen deren repressive Zielsetzung verwirklichte.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. Dezember 2019 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28. Juni 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2019 angeordnet.

Zur Aufhebung der Vollziehung hat der Antragsgegner der Antragstellerin vorläufig 120,53 EUR nachzuzahlen. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Stadt, ohne Pflicht zur Ratenzahlung gewährt.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin wendet sich mit ihrem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) a.F. bzw. § 1a Abs. 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 AsylbLG in der seit 21. August 2019 geltenden Fassung.

Sie wurde 1998 geboren und ist guineische Staatsangehörige. Erstmalig am 26. Oktober 2018 reiste sie in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Unter dem Datum vom 16. Januar 2019 verfügte die Außenstelle Bayreuth des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Überstellung der Antragstellerin an Spanien. Am 21. Mai 2019 wurde die Antragstellerin nach Spanien überstellt. Am 4. Juni 2019 reiste sie erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am gleichen Tag die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Sie lebte zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung Regierungspräsidium Gießen – Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen – Standort Rotenburg an der Fulda, später am Standort Gießen.

Die Antragstellerin verfügt ausweislich ihrer Angaben im Verwaltungsverfahren weder über Einkommen noch über Vermögen.

Mit Bescheid vom 4. Juni 2019 gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin Leistungen nach § 3 AsylbLG.

Mit Schreiben des Antragsgegners vom 6. Juni 2019 (Bl. 71 ff. der Verwaltungsakte) wurde die Antragstellerin zu einer beabsichtigten Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG angehört.

Unter dem Datum des 28. Juni 2009 erließ der Antragsgegner einen Bescheid mit den folgenden Verfügungssätzen: "1. unter Aufhebung meines Bescheides vom 04.06.2019 werden Ihnen in Anwendung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz ab sofort nur noch die in ihrem konkreten Einzelfall nach den Umständen unabweisbar gebotenen Leistungen gemäß §§ 3, 4 und 6 AsylbLG gewährt. 2. dies gilt zunächst für die Dauer von 6 Monaten." Zur Begründung wurde ausgeführt, dass im Falle der Antragstellerin umfangreiche Indizien vorlägen, die auf eine sozialleistungsmotivierte Einreise hindeuteten. Der Asylantrag sei abgelehnt worden und aufgrund des laufenden Klageverfahrens habe ein weiterer Antrag nicht gestellt werden können. Die Erst- wie auch die Wiedereinreise seien mit keinen bzw. sehr geringen finanziellen Mitteln erfolgt, so dass der Antragstellerin bewusst gewesen sei, dass sie auf staatliche Hilfen angewiesen sein würde. Es könne davon ausgegangen werden, dass der Antragstellerin bekannt sei, dass ihr derzeitiger Aufenthalt rechtswidrig sei, da sie als ausreisepflichtige Person am 4. Juni 2019 nach Spanien überstellt worden sei und somit sowohl die Ausreiseverpflichtung wie auch die Zuständigkeit Spaniens bekannt gewesen sei. Unter anderem aufgrund der nicht vorhandenen Sprachkenntnisse bestehe keine Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit. Trotz Ausreisepflicht habe die Antragstellerin die Ausreise noch nicht wieder vollzogen.

Am 29. Juli 2019 legte die Antragstellerin Widerspruch ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2019, dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zugegangen am 25. Oktober 2019, fasste der Antragsgegner den Verfügungssatz zu 1. wie folgt neu: "Der Kürzungsbetrag für die festgestellte Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG wird für den Zeitraum vom 28.06.2019 bis zum 31.08.2019 auf 135,00 EUR festgesetzt. Darin enthalten ist im Wert von 23,00 EUR das als Sachleistung ausgehändigte ÖPNV-Ticket sowie einen Barbetrag i.H.v. 112,00 EUR. Der Kürzungsbetrag für die festgestellte Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG i.V.m. § 1a Abs. 1 AsylbLG wird ab dem 01.09.2019 auf 136,00 EUR festgesetzt. Darin enthalten ist im Wert von 23,00 EUR das als Sachleistung ausgehändigte ÖPNV-Ticket sowie einen Barbetrag i.H.v. 113,00 EUR." Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass Barbetrag und ÖPNV-Ticket für das soziokulturelle Existenzminimum nicht unerlässlich seien, da der Antragstellerin freies W-LAN zur Kommunikation zur Verfügung stehe. Das Eintreten weiterer Aufwendungen für den soziokulturellen Bereich sei nicht zu erwarten. Für den Bereich Freizeit, Unterhaltung und Kultur würden am Standort der Erstaufnahmeeinrichtung kulturelle Angebote geboten. Es gebe dort regelmäßig die Möglichkeit, sich im Rahmen von verschiedenen Aktionen, Kursen und Angeboten der Sozialarbeiter mit anderen Personen auszutauschen oder Sportangebote anzunehmen. Angebote für Bildung, z.B. Sprachkurse, seien für sämtliche Bewohner vorbehaltlos zugänglich. Auch die Beherbergungs- und Gaststättenangebote der Erstaufnahmeeinrichtung seien vorbehaltlos zugänglich. Im Übrigen seien am Standort verschiedene Teestuben für die Bewohner vorhanden. Hinsichtlich der ausführlichen Begründung bezüglich der Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) wird auf die Kopie des Widerspruchsbescheides in der Gerichtsakte, Seite 5-10 (Bl. 17ff. d.A.) verwiesen. Die Einreise sei zum Zwecke des Leistungsbezugs erfolgt. Die Antragstellerin habe bereits am gleichen Tage ihrer Wiedereinreise einen Antrag auf Gewährung von Leistungen gestellt. Sie habe bei beiden Anträgen angegeben, über keine eigenen Mittel zu verfügen. Auch eine von Dritten zugesicherte Hilfe sei nicht dargelegt worden. Neben den fehlenden finanziellen Mitteln erlaubten die geringen Sprachkenntnisse sowie die fehlende Schulausbildung den Schluss, dass eine rechtsmissbräuchliche Einreiseabsicht von der Antragstellerin verfolgt worden sei. Die Aufnahme einer entgeltlichen Tätigkeit komme nicht in Betracht.

Hiergegen erhob die Antragstellerin am 18. November 2019 Klage vor dem Sozialgericht Fulda (S 7 AY 8/19).

Nach den Angaben ihres Bevollmächtigten sei die Antragstellerin unmittelbar vor Klageerhebung nach Gießen umverteilt worden.

Am 26. November 2019 beantragte die Antragstellerin vor dem Sozialgericht Gießen die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang des Antrages bei Gericht zu gewähren.

Die Antragstellerin hat vorgetragen, dass die Anspruchseinschränkung im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvR 7/16 - nicht verfassungskonform sein könne. Hiervon gehe auch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in einem richterlichen Hinweis im Verfahren L 8 AY 14/19 B ER aus. Zwar könne das Gericht aufgrund von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des § 1a AsylbLG die Norm nicht selbst verwerfen. Es sei allerdings mit Blick auf die aufgeworfenen Fragen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen der Folgenabwägung zu treffen und insoweit könne dies nur dazu führen, dass die Leistungskürzung bis zum Ausgang der Hauptsache ausgesetzt werde. Im Rahmen der Folgenabwägung sei die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift zu berücksichtigen (Hinweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. Dezember 2019 – L 8 AY 36/19 B ER).

Der Antragsgegner hat vorgetragen, der Antragstellerin seien die vor dem Hintergrund der Gewährung des aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG folgenden menschenwürdigen Existenzminimums unabweisbaren Leistungen gewährt worden. § 1a AsylbLG sei nicht verfassungswidrig (Hinweis auf BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 – B 7 AY 1/16 R –). Nur das Bundesverfassungsgericht sei dafür zuständig, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden. Eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung sei nicht geboten. Auch ein Anordnungsgrund liege nicht vor.

Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 30. Dezember 2019, der Antragstellerin zugestellt am 2. Januar 2020, abgelehnt. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – befasse sich nur mit den Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) und nur mit Sanktionen nach § 31a Abs. 1 SGB II. Daher sei eine Übertragung auf andere Konstellationen – wenn überhaupt – nur sehr bedingt möglich. Inwieweit die zum SGB II entwickelten Grundsätze auch für das Asylbewerberleistungsgesetz Geltung beanspruchen könnten, könne nicht im Eilverfahren entschieden werden, sondern müsse einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung lägen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr vor. Der Antragsgegner habe die Leistungseinschränkung auf sechs Monate befristet. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Gerichts sei dieser Zeitraum bereits abgelaufen.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht ist am 7. Januar 2020 beim Sozialgericht Gießen eingegangen.

Die Antragstellerin nimmt Bezug auf ihr erstinstanzliches Vorbringen und verweist auf den Beschluss des EuGH in der Rechtssache Haqbin (Beschluss vom 12. November 2019 – Rs. C-233/18). Auch hiernach seien Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebensstandards unantastbar. Der EuGH gehe von einer uneingeschränkten Untergrenze bei den Sozialleistungen aus, die einen menschenwürdigen Lebensstandard gewährleisten sollen. Materielle Leistungen, die der Wahrung der Menschenwürde dienten, seien somit keiner Abwägung zugänglich. Auch nach Rn. 119 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – müsse einheitlich die physische und die soziokulturelle Existenz gesichert werden. Leistungen seien rückwirkend für den Zeitraum ab Eingang des Eilantrages beim Sozialgericht, d.h. ab dem 26. November 2019 geltend gemacht worden und auch zu gewähren.

Hinsichtlich möglicher präventiver Zielrichtungen des § 1a Abs. 2 AsylbLG bezieht sich die Antragstellerin auf den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 4. Februar 2020 – S 20 AY 86/19 B ER.

Aus der Antwort der parlamentarischen Staatssekretärin Griese vom 18. Dezember 2019 auf die schriftliche Anfrage der Abgeordneten Jelpke aus dem Dezember 2019 Arbeitsnummer 141, wonach der Bundesregierung keine Erkenntnisse zur Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Regelung des § 1a AsylbLG vorlägen, gehe ein vollständiger Erkenntnisausfall hervor. Dies genüge nicht den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – Rn. 132 ff. Die Antragstellerin erhalte wesentliche Regelleistungen aufgrund der Sanktion nicht. Es sei nicht begründungsbedürftig, dass das Existenzminimum tatsächlich benötigt werde. Der Regelbedarf sei als Gesamtpauschalbetrag auszugestalten.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

1. den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. Dezember 2019 aufzuheben, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 18. November 2019 (Sozialgericht Fulda S 7 AY 8/19) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28. Juni 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2019 anzuordnen und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang des Antrages bei Gericht zu gewähren und

2. die Vollzugsfolgen zu beseitigen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf sein bisheriges Vorbringen. Der Beschluss des EuGH in der Rechtssache Haqbin (Beschluss vom 12. November 2019 – Rs. C-233/18) führe zu keiner anderen Beurteilung. Über die gewährten Leistungen hinausgehende Bedarfe habe die Antragstellerin nicht substantiiert dargelegt. Hinsichtlich der Übertragbarkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den SGB II-Sanktionen verweist er auf Lange, jurisPR-SozR 3/2020 Anm. 1: Anspruchseinschränkungen mit dem Ziel, eine bestehende Ausreisepflicht durchzusetzen, seien weniger mit den Tatbeständen nach §§ 31 ff. SGB II vergleichbar. Ebenso wie die Leistungsausschlüsse im SGB II und SGB XII für bestimmte Ausländerinnen und Ausländer verweise auch die eine Durchsetzung der Ausreisepflicht bezweckende Anspruchseinschränkung des § 1a AsylbLG die Betroffenen darauf auszureisen.

Mit der Beschwerdeeinlegung hat die Antragstellerin einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Antragsgegners (ein Band) verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig. Der Wert der Beschwer übersteigt die Grenze des § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Der Antrag nach § 86b Abs. 1 SGG zielt grundsätzlich auf eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung rückwirkend auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 19 m.w.N.). Da ausweislich des Widerspruchsbescheides eine taggenaue Kürzung verfügt wurde, ist von einem Wert der Beschwer i.H.v. 3/30 x 135 EUR 2 x 135 EUR + 3 x 136 EUR + 27/30 x 136 EUR = 813,90 EUR auszugehen. Die Anspruchseinschränkung im streitgegenständlichen Bescheid bestand nach dem Verfügungssatz und der Begründung des Widerspruchsbescheids in der vollständigen Kürzung des notwendigen persönlichen Bedarfs. Einschränkungen im Bereich des notwendigen Bedarfs erfolgten nicht.

Die Beschwerde ist auch im Wesentlichen begründet. Statthaft ist jedenfalls der Antrag nach § 86b Abs. 1 SGG, da der Bescheid des Antragsgegners vom 28. Juni 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2019 die als Dauerverwaltungsakt verfügte Bewilligung vom 4. Juni 2019 (Bl. 8 ff. der Verwaltungsakte) teilweise aufhebt und die Einschränkung des Leistungsanspruchs feststellt, entfaltet die Klage nach § 11 Abs. 4 Nr. 1 und Nr. 2 AsylbLG keine aufschiebende Wirkung. Der Senat kann offen lassen, ob in der vorliegenden Situation, in der nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anspruch unmittelbar aus der Bewilligung vom 4. Juni 2019 geltend gemacht werden kann, bereits jetzt ein Rechtsschutzbedürfnis für einen entsprechenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung besteht. Da der Bewilligungszeitraum bereits abgelaufen ist, wird dieses Rechtsschutzziel durch den Vollzugsfolgenbeseitigungsantrag abgedeckt (dazu am Ende der Entscheidungsgründe).

Der Antrag nach § 86b Abs. 1 SGG ist begründet.

Die Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 SGG ist aufgrund einer Interessenabwägung zu treffen. Abzuwägen sind das private Interesse der Antragstellenden, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont zu bleiben und das öffentliche Interesse an der Vollziehung der behördlichen Entscheidung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, also namentlich der Rechtmäßigkeit beziehungsweise der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, soweit sie sich im Rahmen der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung beurteilen lässt, eine wesentliche Bedeutung zu (vgl. zu dem im Einzelnen umstrittenen Maßstab für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung: Hessisches LSG, Beschluss vom 26. März 2007 – L 9 AS 387/07 ER – sowie Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12 ff.). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat ohne Weiteres zu erfolgen, wenn der Bescheid offensichtlich rechtswidrig (und die Klage zulässig) ist, während sie ausscheidet, wenn dieser offensichtlich rechtmäßig (oder die Klage offensichtlich unzulässig) ist. Auch ist die der gesetzlichen Anordnung des regelmäßigen Sofortvollzugs zu entnehmende Wertung zu berücksichtigen. Eine Abweichung von diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen oder wenn ausnahmsweise besondere private Interessen überwiegen (Hessisches LSG, Beschluss vom 2. Januar 2017 – L 9 AS 739/16 B ER –, juris Rn. 14 m.w.N.). Insbesondere wenn die Erfolgsaussichten offen sind, hat eine umfassende Folgenabwägung stattzufinden, in deren Rahmen insbesondere die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen sind, sofern sie durch die Entscheidung berührt werden.

Der Bescheid begegnet zwar keinen formellen Bedenken an seiner Rechtmäßigkeit. In der Fassung des Widerspruchsbescheides ist der Verfügungssatz hinreichend bestimmt (zu den Anforderungen siehe Senatsbeschluss vom 31. Mai 2019 – L 4 AY 7/19 B ER –, juris Rn. 30 f.). Die Antragstellerin wurde nach summarischer Prüfung auch ordnungsgemäß angehört; weder mit der Antragsschrift noch mit dem Beschwerdevorbringen wurden Mängel hinsichtlich der Durchführung der Anhörung vorgetragen.

Es bestehen jedoch ernstliche Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit des Bescheides, da die Voraussetzungen des § 45 SGB X nicht vorliegen. Die mit dem streitgegenständlichen Bescheid teilweise aufgehobene ursprüngliche Leistungsbewilligung erweist sich nach summarischer Prüfung nicht als rechtswidrig. § 1a Abs. 1 AsylbLG a.F. und § 1a Abs. 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 AsylbLG in der seit 21. August 2019 geltenden Fassung bedürfen nach summarischer Prüfung zumindest einer verfassungskonformen Auslegung. Im vorliegenden Fall greift indes keine der Erwägungen, den Tatbestand verfassungskonform zu begrenzen.

Nach § 1a Abs. 1 AsylbLG in der bis 20. August 2019 geltenden Fassung erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5 und Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 6, soweit es sich um Familienangehörige der in § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5 genannten Personen handelt, die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist.

Gemäß § 1a Abs. 2 AsylbLG in der seit 21. August 2019 geltenden Fassung, auf die der Widerspruchsbescheid die Anspruchseinschränkung ergänzend stützt, erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5 und Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 6, soweit es sich um Familienangehörige der in § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5 genannten Personen handelt, die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, erhalten nur Leistungen entsprechend Absatz 1. Gemäß § 1a Abs. 1 Sätze 2 und 3 AsylbLG werden ihnen bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt; nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können ihnen auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Absatz 1 Satz 1 gewährt werden.

Nach summarischer Prüfung unterfällt die Antragstellerin dem persönlichen Anwendungsbereich der Vorschrift. Hiergegen spricht nicht die vorgetragene etwaige weitere Asylantragstellung ungeachtet ihrer formellen Wirksamkeit. Ein Zweitantrag begründet nach § 71a Abs. 3 Asylgesetz (AsylG) die Fiktion einer Duldung, die nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG zur Anwendbarkeit der hiesigen Vorschrift führt. Da bezüglich der Ablehnung des Erstantrages nach unwidersprochen gebliebenen Angaben des Antragsgegners noch ein verwaltungsgerichtliches Verfahren läuft, kann der Antrag auch nicht als Folgeantrag angesehen und daraus eine aufenthaltsrechtliche Stellung abgeleitet werden. Nach alledem unterfällt die Antragstellerin entweder § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG oder wegen ihrer unerlaubten Wiedereinreise nach dem Erlöschen der Gestattung § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG.

Der Absenkungstatbestand des Begebens in den Geltungsbereich des AsylbLG, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, bedarf zumindest einer verfassungskonformen Auslegung, wobei im konkreten Einzelfall keiner der für den Senat bislang denkbaren Ansätze für eine verfassungskonforme Auslegung greift, so dass hier die Norm im Ergebnis unangewendet bleiben muss.

§ 1a AsylbLG unterliegt seit einiger Zeit verfassungsrechtlicher Kritik, soweit in der Rechtsfolge der vollständige Wegfall des notwendigen persönlichen Bedarfs zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums vorgesehen ist (insbes. Brings/Oehl, ZAR 2016, 22; Janda SGb 2018, 344; Kanalan, ZfSH/SGB 2018, 241; Oppermann, ZESAR 2017, 55 (60 f.); dies. in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 207 ff.; Voigt, info also 2016, 99). Auch wurde schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – in der Sanktionierung der Einreise, um Leistungen zu erlangen, eine am Maßstab von BVerfGE 132, 134 verfassungsrechtlich unzulässige Migrationssteuerung gesehen (Voigt, info also 2016, 99 (102); erwägend SG Münster, Beschluss vom 1. März 2013 - S 12 AY 13/13 ER -, juris Rn. 12 f.) und an der Verfassungskonformität gezweifelt, weil dieser Tatbestand den Betroffenen keine Möglichkeit gibt, ihr Verhalten so zu ändern, dass sie wieder bedarfsdeckende Leistungen erhalten (allgemein Janda, ZAR 2013, 175 (180 f.); dies erwägend Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2013 – L 4 AY 17/13 B ER –, juris Rn. 28).

Auf der Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – sind zwar gesetzlich vorgesehene Unterdeckungen des zur Existenzsicherung Benötigten aus bedarfsunabhängigen Erwägungen nicht von vornherein ausgeschlossen. Jedoch ist bereits der Kreis legitimer Zwecke der Auferlegung von Mitwirkungs- oder Unterlassungspflichten und ihrer Sanktionierung eng zu ziehen (zum Folgenden BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, juris Rn. 121, 123 ff., 130 f.). Das Grundgesetz kennt keine allgemeinen Grundpflichten der Bürgerinnen und Bürger. Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu. Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfG a.a.O. Rn. 123). Die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele, insbesondere migrationspolitischer Ziele, nicht zu relativieren (vgl. BVerfGE a.a.O. Rn 120; E 132, 134 (173 Rn. 95)). Der soziale Rechtsstaat ist aber darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen wirkliche Bedürftigkeit vorliegt (vgl. BVerfGE a.a.O. Rn. 124). Eine Anspruchseinschränkung kann die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nur dann wahren, wenn sie nicht darauf ausgerichtet ist, repressiv Fehlverhalten zu ahnden, sondern darauf, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden (BVerfG a.a.O. Rn. 131).

Der Senat verkennt dabei nicht, dass ein Unterschied zwischen den Sanktionen der §§ 31 ff. SGB II, über die das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte, und dem vom Gesetzgeber im Übrigen seit 2015 parallel zum SGB II ausgestalteten Sanktionen der §§ 1a, 14 AsylbLG (zum Sanktionscharakter und den Parallelen zum SGB II: Cantzler, AsylbLG, 2019 § 1a Rn. 1; Oppermann in: jurisPK-SGB XII, § 1a AsylbLG Rn. 137, 222) darin besteht, dass die vom Bundesverfassungsgericht zu prüfenden Sanktionsnormen einen engen Bezug zum Nachranggrundsatz des Existenzsicherungsrechts aufwiesen. Die Mitwirkungshandlungen zielten dort mehr oder weniger auf die Überwindung der Hilfebedürftigkeit. Hier zielen die Handlungs- oder Unterlassungspflichten hingegen neben der Verhinderung oder Beendigung des Rechtsmissbrauchs auch auf die Einhaltung des Asyl- oder Migrationsrechts bzw. die Schaffung migrationsrechtskonformer Zustände. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – kann daher keinen abschließenden Maßstab zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit derartiger Sanktionen darstellen. Auf verfassungsrechtsdogmatischer Ebene stellt sich hier wie dort indes eine identische Frage: Unter welchen Voraussetzungen können Handlungs- oder Unterlassungspflichten aus bedarfsunabhängigen Erwägungen durch eine Leistungsabsenkung bzw. Anspruchseinschränkung sanktioniert werden? Denn anders als bei den Regelleistungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geht es in beiden Fällen nicht um die verfassungsrechtlichen Grenzen der bedarfsdeckenden Ausgestaltung des Anspruchs, sondern um die Zulässigkeit der Unterschreitung dieses Niveaus, dort durch prozentuale Absenkungen, hier u.a. durch den vollständigen Ausschluss des notwendigen persönlichen Bedarfs bzw. des sog. soziokulturellen Existenzminimums. Jedenfalls das Verbot einer rein repressiven Ahndung von Fehlverhalten dürfte vor diesem Hintergrund übertragbar sein (vgl. zur hiesigen Variante § 1a AsylbLG am Maßstab des PKH-Verfahrens LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. Dezember 2019 – L 8 AY 36/19 B ER, Seite 4 unten).

Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass auch der soziale Rechtsstaat darauf angewiesen ist, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen wirkliche Bedürftigkeit vorliegt (BVerfG a.a.O. Rn. 124; BVerfGE 142, 353 (371 Rn. 39)), trägt grundsätzlich auch das Ziel der Rechtsmissbrauchsvermeidung (vgl. auch Senatsbeschluss vom 26. Februar 2020 – L 4 AY 14/19 B ER –, juris). Dieses legitime Regelungsziel wird allerdings dadurch begrenzt, dass das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge auch für jene verlangt, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; die daraus folgende Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren (BVerfG a.a.O., Rn. 120; vgl. auch BVerfGE 132, 134 (173 Rn. 95)). Im Bereich der Migration muss sich der Gesetzgeber zudem bewusst sein, dass das Recht aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG jeder Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zukommt, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes "aufhält" (BVerfGE 132, 134 (159 Rn. 63)) oder in Deutschland "lebt" (BVerfGE 40,121 (133)). Solange der deutsche Staat Personen auf seinem Territorium aufnimmt, beherbergt oder auch nur duldet, sind sie auch leistungsberechtigt (Kirchhof, NZS 2015, 1 (4)); die Statusunabhängigkeit des Menschenwürdeschutzes manifestiert sich daher auch in der Unabhängigkeit vom Aufenthaltsstatus (Schreiber, SR 2018, 181 (182 f.)). Wegen dieser vom Grundrecht gerade intendierten Schutzrichtung darf der Gesetzgeber also weder Leistungen allein wegen der Rechtswidrigkeit des Aufenthalts unter den verfassungsrechtlich anzuerkennenden Bedarf kürzen oder vorenthalten noch aus vermeintlich generalpräventiven oder repressiven Gründen, um Migration einzuschränken.

Auch wenn zwischen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Mitwirkungspflichten und an die Leistungseinschränkung als Sanktion zu unterscheiden ist (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 123 ff. einerseits und Rn. 129 ff. andererseits), so begrenzen die vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten, strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen an die Leistungseinschränkung (BVerfG a.a.O., Rn. 129 ff.) mittelbar den Kreis der sanktionierbaren Handlungs- oder Unterlassungspflichten. Leistungsminderungen sind nur verhältnismäßig, wenn die Leistungsminderung unter Berücksichtigung ihrer Eignung zur Erreichung dieses Zwecks und als mildestes, gleich geeignetes Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Belastung der Betroffenen steht. Das setzt voraus, dass es den Betroffenen tatsächlich möglich ist, die Minderung staatlicher Leistungen durch eigenes zumutbares Verhalten abzuwenden und die existenzsichernde Leistung wiederzuerlangen. Die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG sind daher nur gewahrt, wenn die zur Deckung des gesamten existenznotwendigen Bedarfs erforderlichen Leistungen für Bedürftige jedenfalls bereitstehen und es in ihrer eigenen Verantwortung liegt, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten (BVerfG a.a.O. Rn. 133). Diese Anforderungen stehen ebenfalls rein repressiven Leistungsabsenkungen entgegen, bei der der leistungsberechtigten Person keine Handlungsoption im Sinne zweckgemäßen Verhaltens eröffnet wird, um die Sanktion abzuwenden.

Bei wortlautgetreuer Auslegung handelt es sich bei § 1a Abs. 1 AsylbLG a.F. bzw. § 1a Abs. 2 AsylbLG um einen repressiven Sanktionstatbestand. Die Leistungsabsenkung knüpft an die prägende Einreisemotivation an (vgl. Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 51). Es handelt sich nicht um die Sanktionierung des Unterlassens einer Mitwirkungshandlung, die noch nachgeholt werden könnte, sondern um die Sanktionierung eines vollständig in der Vergangenheit liegenden Tuns, nämlich die Sanktionierung der Einreise, um Leistungen zu beziehen. Hierdurch wird der leistungsberechtigten Person keine Handlungsoption eröffnet, um die Sanktion durch ein späteres Handeln zu beenden (vgl. zu den daraus folgenden verfassungsrechtlichen Bedenken bereits Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2013 – L 4 AY 17/13 B ER –, juris Rn. 28). Eine Möglichkeit der Rechtfertigung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besteht auch nicht vor dem Hintergrund, dass die Norm zumindest mittelbar auf die Ausreise der betreffenden Person und damit auf die Beendigung eines Rechtsmissbrauchs abzielt (vgl. Cantzler, AsylbLG, 2019, § 1a Rn. 2 und Rn. 17 m.w.N.). Die Ausreise führt dazu, dass hierdurch die ursprünglich berechtigte Person den räumlichen Gewährleistungsbereich von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und den Anwendungsbereich des AsylbLG verlässt; mithin ginge durch diese vermeintliche Mitwirkungshandlung der Anspruch gerade unter. Anders als bei einzelnen anderen Tatbestandsvarianten des § 1a AsylbLG verbliebe kein Zeitraum nach erfolgter Mitwirkung, für den der ungekürzte Anspruch bei verfassungskonformer Auslegung wiederaufleben könnte (s.o., BVerfG a.a.O. Rn. 133). Auch dies bestätigt den repressiven Charakter der Vorschrift.

Nach den Gesetzgebungsmaterialien zur Ursprungsfassung des § 1a Nr. 1 AsylbLG zielt die Regelung auch generalpräventiv darauf, "soweit wie möglich Leistungsanreize zu vermeiden. Dies gilt auch für Personen, die einreisen, um Leistungen zu erlangen" (BR-Drs. 691/1/97, S. 6 f.). "Eine Einschränkung der Leistungsgewährung an diesen Personenkreis ist selbst in den Fällen, in denen der Antragsteller offen bekundet, daß seine Motive für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nur in der Gewährung von Sozialleistungen zu sehen sind, nach derzeitiger Gesetzeslage nicht möglich. Eine an § 120 Abs. 3 BSHG (Um-Zu-Regelung) orientierte Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz ist daher unbedingt erforderlich" (BT-Drs. 13/10155, S. 5). Dieser Zielsetzung steht möglicherweise noch nicht entgegen, dass die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren ist (vgl. BVerfGE a.a.O. Rn 120); diese Beschränkung auf Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG immanente Ziele verbietet zwar den Rückgriff auf andere Werte zur Migrationssteuerung über das Leistungsniveau. Wenn sich im Einzelfall die Einreise zum Leistungsbezug nach dem konkreten Verhalten aber auch aus der Perspektive der Wertungen der Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG als rechtsmissbräuchlich darstellt, so dürfte dadurch die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums nicht migrationspolitisch relativiert werden, weil nicht generell-abstrakt das Leistungsniveau aus migrationspolitischen Gründen abgesenkt wird (so wohl BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 – B 7 AY 1/16 R –, BSGE 123, 157, zitiert nach juris Rn. 32; vgl. auch Lange jurisPR-SozR 3/2020 Anm. 1). Ein solches generalpräventives Element führt aber nicht in jedem Fall darüber hinweg, dass der betroffenen Person überhaupt keine Möglichkeit zweckgerichteten Verhaltens nach dem Zeitpunkt der Einreise verbleibt, um wieder ungekürzte Leistungen beziehen zu können (konsequent zu § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. BSG a.a.O. Rn. 37: "Ausreichend unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ( ) war auch ( ) die Prüfung, ob sich der Leistungsberechtigte durchgehend seiner Möglichkeiten zur Abkehr von der Leistungsminderung bewusst und die Abkehr möglich war.") Die auch generalpräventive Zielsetzung vermag daher zur Rechtfertigung einer an einer strikt an der Motivation zum Zeitpunkt der Einreise ansetzenden Absenkung nichts beizutragen.

Zudem wäre es eine unzulässige migrationspolitische Zielsetzung, bei einer – wie hier – unproblematisch möglichen Abschiebung oder Überstellung den Behörden das Mittel an die Hand zu geben, die menschenwürdige Existenzsicherung zu unterlassen, um so ohne Verwaltungsvollstreckung die Ausreise zu erzwingen (ähnl. Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, § 1a AsylbLG Rn. 209).

Ob ein präventives, allein den Rechtsmissbrauch unterbindendes Element oder eine den Leistungsabsenkungen nach §§ 31 ff. SGB II vergleichbare Zielrichtung für den Fall gesehen werden kann, dass eine Person durch supranationales Recht gesicherte asylverfahrensrechtliche und existenzsicherungsrechtliche Rechtspositionen in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufgibt, um in der Bundesrepublik Deutschland Leistungen nach dem AsylbLG zu beantragen und die Anspruchseinschränkung in einem solchen Fall allein dazu dient, die supranationale Zuständigkeitsordnung wiederherzustellen, weil die Bedarfsdeckung durch einen anderen Mitgliedstaat im Falle des dortigen Aufenthalts gesichert ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Ein solcher Sachverhalt liegt hier nicht vor. Es ist nicht erkennbar, dass die Antragstellerin einen Leistungsbezug in Spanien aufgegeben hat und es kann ohne umfangreiche weitere Ermittlungen mit hinreichender Gewissheit auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin unter den gegenwärtigen Bedingungen dort sofort existenzsichernde Leistungen erhalten würde.

Der hier entscheidende Senat hatte vor der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung zu den Sanktionen des SGB II nach den aus BVerfGE 132, 134 folgenden Maßstäben eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend vorgenommen, dass die Anspruchseinschränkung in zeitlicher Hinsicht durch eine Aufenthaltsverfestigung nach den Gegebenheiten des Einzelfalls, jedenfalls aber auf die Frist des § 2 AsylbLG begrenzt wird (ausf. Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2013 – L 4 AY 17/13 B ER –, juris Rn. 24 ff., insbes. Rn. 31 f.). Vergleichbare Verhältnismäßigkeitserwägungen finden sich – wie oben dargestellt – auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – in Rn. 133. Angesichts der nunmehr vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Vorgaben an die legitimen Zielsetzungen von Handlungs- oder Unterlassungspflichten sowie der daran anknüpfenden Anspruchseinschränkung ist diese Begrenzung aber nicht mehr hinreichend. Eine von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht gedeckte Zielsetzung einer Handlungs- oder Unterlassungspflicht, kann von vornherein nicht zu einer verfassungskonformen Leistungsabsenkung führen. So liegt es aber hier, wenn die Zielsetzung das Unterlassen einer sozialleistungsmotivierten Einreise alleiniger Anknüpfungspunkt der Leistungsabsenkung ist und bleibt, ohne dass das Verhalten während des Leistungsbezuges in irgendeiner Weise relevant wäre.

Eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend, den Tatbestand durch ein ungeschriebenes Merkmal eines aktuell pflichtwidrigen oder aktuell rechtsmissbräuchlichen Verhaltens zu ergänzen (vgl. zu § 1a Abs. 7 AsylbLG: SG Landshut, Beschluss vom 23. Januar 2020 - S 11 AY 79/19 ER und vom 28. Januar 2020 - S 11 AY 3/20 ER – juris sowie SG München, Beschluss vom 10. Februar 2020 – S 42 AY 82/19 ER –, juris), würde letztlich zur Nichtanwendung der Vorschrift führen. Denn der wohl einzig denkbare Fall einer solchen auch verfassungsrechtlich anzuerkennenden Pflichtwidrigkeit oder Rechtsmissbräuchlichkeit wäre die Aufrechterhaltung des Leistungsbezugs durch die Verhinderung der Aufenthaltsbeendigung, die bereits in §1a Abs. 3 AsylbLG eigenständig geregelt ist.

Dies führt letztlich dazu, dass § 1a Abs. 1 AsylbLG a.F. und § 1a Abs. 2 AsylbLG – wie im vorliegenden Fall – unangewendet bleiben müssen, wenn sich durch die Anwendung die repressive Zielsetzung der Normen verwirklichte.

Mit diesem Ergebnis verletzt der Senat nicht das Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 100 GG und die richterliche Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG). Der Senat schließt nämlich eine verfassungskonforme Auslegung des § 1a Abs. 2 AsylbLG nicht von vornherein aus (s.o.). Im Rahmen eines fachgerichtlichen Eilverfahrens ist zudem eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nur ausnahmsweise zulässig (zuletzt BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2020 – 1 BvL 1/20 –, juris; vgl. auch BVerfGE 46, 43 (51); 63, 131 (141); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. Juli 1996 - 1 BvL 39/95 -).

Die Entscheidung über die Vollzugsfolgenbeseitigung folgt aus § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Der Antrag ist zulässigerweise erst in der Beschwerdeinstanz gestellt worden. Er ist auch teilweise begründet. Der Antragsgegner war zur Auszahlung von Leistungen erst ab dem Zeitpunkt der Beantragung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu verpflichten, weil erst ab diesem Zeitpunkt das notwendige Interesse an der Aufhebung der Vollziehung dokumentiert ist (vgl. insoweit LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Dezember 2016 - L 15 SO 301/16 B ER -, Rn. 49). Mithin übt der Senat sein Ermessen dahingehend aus, die Beseitigung der Vollzugsfolgen ab dem 26. November 2019 bis zum Ende des Leistungszeitraumes durch die Nachzahlung der Geldleistungen anzuordnen.

Die Kostenentscheidung resultiert aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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