L 19 AY 38/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 4 AY 61/18
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 AY 38/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsberechtigten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG liegt nicht erst dann vor, wenn das Verhalten als unentschuldbar anzusehen ist (entgegen BSG Urteil vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R).
2. Genügend ist ein gesetzeswidriges, vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten, soweit dieses die Dauer des Aufenthalts beeinflusst. Es ist (hier) vorwerfbar, dass sich die Leistungsberechtigte der Überstellung bzw. der Abschiebung durch ihren Aufenthalt im Kirchenasyl entzogen hat.
3. Hinsichtlich der Rechtsmissbräuchlichkeit kommt es weder auf die Zurückhaltung der staatlichen Behörden, die Überstellung bzw. Abschiebung der sich im Kirchenasyl aufhaltenden Leistungsberechtigten zwangsweise zu vollziehen, noch darauf an, ob das Verhalten der Kirchen, den von Abschiebung bedrohten Ausländern Kirchenasyl zur Verfügung zu stellen, mit den Werten der Gesellschaft vereinbar ist.
4. Notwendig ist ein kausaler Zusammenhang zwischen dem vorwerfbaren Verhalten des Leistungsberechtigten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes. Ausreichend hierfür ist eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise; ein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn ist nicht erforderlich (BSG Urteil vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R).
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.11.2018 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin für den Zeitraum 25.05.2018 bis 31.12.2018 Anspruch auf Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) hat.

Die 1995 geborene Klägerin ist äthiopische Staatsangehörige. Sie verließ ihre Heimat und reiste nach eigenen Angaben über den Sudan und Libyen am 02.05.2016 nach Italien ein. Dort hielt sie sich ca. 2 Monate auf und reiste mit dem Zug nach Deutschland weiter. Die Klägerin wurde nach ihrer Einreise am 24.07.2016 am Bahnhof L-Stadt aufgegriffen. Sie stellte zunächst ein Schutzersuchen und am 15.09.2016 einen Asylantrag. Die Klägerin erhielt infolgedessen eine Aufenthaltsgestattung.

Nach ihrer Einreise wurde die Klägerin im Klinikum F. in der Zeit vom 08.08.2016 bis zum 17.08.2016 stationär behandelt (Bericht vom 17.08.2016). Zur Anamnese wurde ausgeführt, dass bei der Klägerin ein deutlich erhöhter Blutzucker aufgefallen sei. Sie habe nicht über Beschwerden berichtet, ein Diabetes mellitus sei bei ihr nicht bekannt. Als Diagnosen wurden festgestellt: Diabetes mellitus, vermutlich Typ 1, mit diabetischer Retinopathie und einer beginnenden diabetischen Nephropathie. Bei der beschwerdefreien Klägerin seien bei der Aufnahme weiterhin deutlich erhöhte Blutzuckerwerte festgestellt worden. Es sei mit der Einstellung auf ein intensiviertes lnsulinschema begonnen worden. Zudem habe die Klägerin Diabetes-Schulungen erhalten. An Folgen des sicherlich bereits länger vorliegenden und nicht behandelten Diabetes mellitus hätten sich Hinweise für eine diabetische Nephropathie und eine diabetische Retinopathie finden lassen.

Vom 25.08.2016 bis zum 01.09.2016 hielt sich die Klägerin erneut zur stationären Behandlung im Klinikum F. auf. Nach dem Bericht vom 31.08.2016 sei die Klägerin mit einem schlecht eingestellten Diabetes mellitus wieder aufgenommen worden. Es seien eine Insulineinstellung und eine Diabetesschulung bei Diabetes mellitus Typ 2 erfolgt. Als Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus seien eine diabetische Retinopathie und eine diabetische Nephropathie festgestellt worden. Die Klägerin komme mit dem Blutzuckermessen und dem Spritzen von Insulin gut zurecht. Weiter seien unklare wechselnde schmerzhafte noduläre (knötchenförmige) Hautveränderungen am rechten Knie, Abdomen und Gesäß festgestellt worden. Diese seien bereits beim Voraufenthalt aufgefallen. Empfohlen werde eine ambulante Vorstellung bei einem niedergelassenen Hautarzt.

Am 15.09.2016 führten Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit der Klägerin in C-Stadt ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und hörten sie zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrages an (Erst- und Zweitbefragung). Nachdem ein Vergleich der Fingerabdrücke der Klägerin in der EURODAC-Datenbank eine Übereinstimmung mit in Italien genommenen Fingerabdrücken ergab, richtete das BAMF im sog. Dublin-Verfahren am 21.09.2016 ein Übernahmeersuchen an Italien.

Mit Bescheid vom 04.01.2017 lehnte das BAMF den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab. Es wurde festgestellt, dass keine Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen, und die Abschiebung der Klägerin nach Italien angeordnet. Zur Begründung führte das BAMF (u.a.) aus, dass an Italien ein Übernahmeersuchen gestellt worden sei. Auf dieses sei innerhalb der festgesetzten Frist von 2 Monaten nach Erhalt des Gesuchs keine Reaktion erfolgt. Das Übernahmeersuchen gelte damit als angenommen und akzeptiert. Der Asylantrag sei somit nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) unzulässig. Nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), sei Italien auf Grund der illegalen Einreise der Klägerin nach Deutschland für die Behandlung des Asylantrages zuständig.

Gegen den Bescheid erhob der Bevollmächtigte der Klägerin am 13.01.2017 Klage zum Verwaltungsgericht (VG) D-Stadt (AN 14 K 17.50059) und stellte zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung (AN 14 S 17.50058).

Am 26.02.2017 begab sich die Klägerin in das sog. Kirchenasyl bei der evang.-luth. Kirchengemeinde in D-Stadt (Friedenskirche). Dies teilte der Pfarrer der Kirchengemeinde am gleichen Tag der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) Mittelfranken per Telefax mit.

Unter dem 10.03.2017 wies das BAMF den Bevollmächtigten darauf hin, dass in einer Vereinbarung zwischen Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche mit dem BAMF zunächst im Rahmen einer Pilotphase festgelegt worden sei, dass in jedem vorgelegten Einzelfall abzuwägen sei, ob die betreffende Person im Vergleich zu anderen Flüchtlingen ganz besonders schwerwiegenden, nicht hinnehmbaren humanitären Härten ausgesetzt sei. Das Kirchenasyl solle hier als "ultima ratio" die Betreffenden vor einer Gefahr für Leib und Leben und vor Situationen, die die Menschenwürde verletzen, bewahren. In diesen schwerwiegenden Fällen habe sich das BAMF bereit erklärt, entweder vor oder nach Entstehung eines Kirchenasyls, anhand eines vorgelegten und aussagekräftigen Dossiers, den Fall nochmals zu überprüfen. Durch diese Vereinbarung solle eine ungesteuerte Eingabe von Einzelfällen jedweder Kirchengemeinden an das BAMF vermieden werden. Der Bevollmächtigte werde gebeten, sich an den von der betreffenden Kirchenleitung beauftragten Ansprechpartner zu wenden.

Die Klägerin nahm am 06.03.2017 den Eilantrag beim VG zurück, weil sie sich im Kirchenasyl befinde. Das VG stellte daraufhin mit Beschluss vom 07.03.2017 das Eilverfahren ein.

Am 01.06.2017 beauftragte das BAMF die ZAB Mittelfranken mit der Überstellung der Klägerin nach Italien. Es wurde dabei vorgegeben, dass im Zeitraum 29.06.2017 bis 22.08.2017 keine Überstellung möglich sei. Die Überstellungsfrist ende am 07.09.2017.

Unter dem 11.09.2017 teilte das BAMF der ZAB mit, dass die Überstellungsfrist am 07.09.2017 abgelaufen sei. Unter dem 14.09.2017 erklärte das BAMF, dass der Bescheid vom 04.01.2017 insgesamt aufgehoben werde. Nachdem die Überstellungsfrist abgelaufen sei, ergehe nun eine Entscheidung im nationalen Verfahren. Das VG stellte infolgedessen mit Beschluss vom 29.09.2017 auch das Klageverfahren ein. Es verpflichtete die Klägerin zur Tragung der Kosten des Verfahrens. Zur Begründung führte es aus, dass die Klage vor Eintritt des erledigenden Ereignisses mit großer Wahrscheinlichkeit keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Der Bescheid des BAMF vom 04.01.2017 hätte sich bis zum Ablauf der Überstellungsfrist als rechtmäßig erwiesen. Deutschland sei bis dahin nicht für den Asylantrag der Klägerin zuständig gewesen, sondern Italien. Systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in Italien, derentwegen eine Überstellung der Klägerin hätte unmöglich sein können, seien nicht gegeben gewesen. Nach der aktuellen Auskunftslage könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin im Falle ihrer Rücküberstellung nach Italien eine menschenunwürdige oder erniedrigende Behandlung gedroht hätte. Auch die angeordnete Abschiebung nach Italien wäre nicht zu beanstanden gewesen. Für die Kostentragungspflicht der Klägerin spreche auch, dass die Klägerin sich am 26.02.2017 ins Kirchenasyl begeben habe, um sich der Abschiebung nach Italien zu entziehen.

Am 23.09.2017 setzte die evang.-luth. Kirchengemeinde in D-Stadt (Friedenskirche) das BAMF davon in Kenntnis, dass die Klägerin am 22.09.2017 das Kirchenasyl verlassen und sich am gleichen Tag bei der ZAB gemeldet habe. Die C. wies der Klägerin mit Bescheid vom 09.10.2017 ab 12.10.2017 die Gemeinschaftsunterkunft (Asyl) GU A-Stadt, WB 2 A.-Straße, als Wohnsitz zu.

Nach erneuter Anhörung der Klägerin erließ das BAMF am 21.11.2017 einen Bescheid, mit dem es die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus sowie die Anerkennung von Asyl ablehnte. Gegen den Bescheid erhob die Klägerin Klage zum VG A-Stadt (). Über die Klage ist bislang nicht entschieden.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 13.10.2017 Leistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeiträume 12.10.2017 bis 31.10.2017 und 01.11.2017 bis 31.12.2017. In der Folge wurden Leistungen von der Beklagten ohne Bescheid erbracht.

Mit Schreiben vom 25.05.2018 stellte die Klägerin Antrag auf Erbringung von Leistungen in besonderen Fällen nach § 2 AsylbLG (sog. Analog-Leistungen). Sie bat um die Erteilung eines Bescheids.

Mit Bescheid vom 08.06.2018 lehnte die Beklagte eine Leistungsgewährung nach § 2 AsylbLG ab. Zwar sei die nach § 2 AsylbLG geforderte Aufenthaltsdauer in Deutschland von 15 Monaten erfüllt. Allerdings habe die Klägerin ihre Aufenthaltsdauer in Deutschland rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Nach der Dublin III-VO sei Italien für die Behandlung des Asylantrags der Klägerin zuständig gewesen. Sie habe sich ins Kirchenasyl begeben. Dort habe sie sich so lange aufgehalten, bis die Rücküberstellungsfrist nach Italien abgelaufen und das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen gewesen sei. Die Klägerin habe sich dem Zugriff der staatlichen Vollzugsbehörden entzogen. Durch die Schaffung eines solchen faktischen Abschiebungshindernisses habe sie die Dauer des Aufenthaltes durch ihr Verhalten gezielt beeinflusst, obwohl der Aufenthalt von der Rechtsordnung nicht mehr gedeckt worden sei.

Den Widerspruch vom 20.06.2018 begründete der Bevollmächtigte unter Bezugnahme auf einen Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stade vom 17.03.2016 (S 19 AY 1/16 ER) und ein Urteil des Oberlandesgerichtes (OLG) München vom 03.05.2018 (4 OLG 13 Ss 54/18). Insbesondere handele ein Ausländer nicht rechtsmissbräuchlich, wenn der Staat selbst zeitweise darauf verzichte, die Ausreisepflicht durchzusetzen. Die Klägerin habe sich ins Kirchenasyl begeben und dies dem Ausländeramt auch sofort mitgeteilt. Sie sei nur deswegen nicht abgeschoben worden, weil die Ausländerbehörde das Kirchenasyl tatsächlich beachtet und den Aufenthalt während der Dauer des Kirchenasyls geduldet habe. Da die Behörde tatsächlich das Institut des Kirchenasyls anerkenne und nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einschreite, könne in der Nutzung dieses Instituts kein Rechtsmissbrauch gesehen werden. Auch ein sittenwidriges Verhalten liege darin nicht vor. Dass die Kirchen Ausländern, denen die Abschiebung drohe, Kirchenasyl anbieten, sei mit den Werten der Gesellschaft vereinbar.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.07.2018 wies die C. den Widerspruch vom 20.06.2018 zurück. Die Klägerin habe sich bis zum Ablauf der Rücküberstellungsfrist in das Kirchenasyl begeben, so dass ein Asylverfahren in Deutschland durchzuführen war. Dies begründe die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Sinne des § 2 AsylbLG. Das Urteil des OLG München befasse sich mit der strafrechtlichen Beurteilung des Gangs ins Kirchenasyl. Entgegen der Auffassung des SG Stade gehe das SG Lüneburg zu Recht davon aus, dass das Kirchenasyl den Missbrauchstatbestand nicht ausschließe (Urteil vom 22.02.2018, S 26 AY 26/17).

Hiergegen hat der Bevollmächtigte für die Klägerin am 22.08.2018 Klage zum SG Bayreuth erhoben und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren. Zur Begründung hat er sich auf das Widerspruchsvorbringen bezogen. Das Kirchenasyl werde mittelbar von der Rechtsordnung toleriert. So habe die Innenministerkonferenz am 06.08.2018 zu dem bei der Gewährung von Kirchenasyl erforderlichen Dossier der Kirchengemeinden neue Maßgaben bestimmt.

Nach Klageerhebung hat die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 22.10.2018 Geldleistungen nach § 3 AsylbLG für den Zeitraum vom 01.01.2018 bis 31.12.2018 in Höhe von monatlich 320,14 EUR sowie Sachleistungen in Form der Gewährung von Unterkunft und Wohnungsausstattung bewilligt. Die Geldleistungen setzten sich aus einem Betrag von 135,00 EUR für den notwendigen persönlichen Bedarf der Klägerin und von 185,14 EUR für den notwendigen Bedarf (7,29 EUR für Gesundheitspflege, 143,82 EUR für Ernährung, 34,03 EUR für Kleidung) zusammen. Im Bescheid hat sie auch darauf verwiesen, dass nach §§ 5 ff. des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetztes (RBEG) in den Regelsätzen insbesondere auch Bekleidung und Schuhe, Strom, Zuzahlung bei Krankheit nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), Reparatur und Instandhaltung der Wohnung (Renovierungskosten), enthalten seien. Für diese Bedürfnisse könnten keine weiteren Sozialleistungen gewährt werden.

Mit Beschluss vom 22.10.2018 hat das SG der Klägerin Prozesskostenhilfe (PKH) für das Klageverfahren bewilligt.

Nach Anhörung hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 07.11.2018 die Klage gegen den Bescheid vom 08.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.07.2018 abgewiesen. Die Klägerin habe rechtsmissbräuchlich gehandelt, da das Kirchenasyl keine legale Möglichkeit der Aufenthaltsgestaltung darstelle. Das Kirchenasyl werde von der deutschen Rechtsordnung nicht anerkannt, der Kirchenraum sei nicht exemt.

Hiergegen hat die Klägerin am 10.12.2018 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) einlegen lassen. Am 30.10.2017 habe sie sich volle 15 Monate im Bundesgebiet aufgehalten, so dass Analog-Leistungen ab dem 01.11.2017 zu gewähren seien. Sie habe ihren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst, insbesondere nicht durch ihre Inanspruchnahme von Kirchenasyl. Auch das SG Kassel vertrete die Auffassung, dass in der Nutzung des Kirchenasyls kein Rechtsmissbrauch gesehen werden könne, weil die zuständige Ausländerbehörde das Institut des Kirchenasyls tatsächlich respektiere und auch nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einschreite (Beschluss vom 11.09.2017, S 11 AY 4/17 ER). Der Bayer. Verwaltungsgerichtshof (VGH) habe auch entschieden, dass der Umstand, dass sich der Ausländer im sog. offenen Kirchenasyl befinde, nicht zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO führe, da der Ausländer nicht "flüchtig" im Sinne dieser Vorschrift gewesen sei, noch habe in diesem Fall ein faktisches oder rechtliches Vollzugshindernis vorgelegen (Beschluss vom 16.05.2018, 20 ZB 18.50011).

Die Beklagte führt aus, offen erklärtes Ziel von Kirchenasyl liege darin, Abschiebungen zu verhindern. Insbesondere sei es der Klägerin darum gegangen, die Regelungen der Dublin-III-VO zu umgehen und ihre Abschiebung nach Italien zu verhindern. Dies habe sie letztendlich auch erreicht und die Durchführung eines Asylverfahrens im Mitgliedsstaat ihrer Wahl erzwungen. Auch das SG Regensburg stütze die Auffassung der Beklagten (Urteil vom 30.05.2018, S 7 AY 4/17). Das SG Lüneburg sehe in dem Urteil vom 22.02.2018 die Rechtsmissbräuchlichkeit iSd § 2 Abs. 1 AsylbLG bereits durch die Einreise nach Deutschland aus einem anderen - eigentlich für das Asylverfahren zuständigen - Land als erfüllt an.

Mit Beschluss vom 19.02.2019 hat der Senat der Klägerin PKH für das Berufungsverfahren bewilligt.

Der Senat hat Auskünfte und Unterlagen von der ZAB Oberfranken, der ZAB Mittelfranken und dem BAMF eingeholt. Die ZAB Oberfranken hat unter dem 15.08.2019 mitgeteilt, dass konkrete Maßnahmen zur Überstellung nicht hätten ergriffen werden können, da sich die Klägerin dem Zugriff der Behörden durch ihren Aufenthalt im Kirchenasyl entzogen habe. Im Jahr 2017 seien auch in Oberfranken Rücküberstellungen nach Italien durchgeführt worden. Die Klägerin habe sich in der Kirchengemeinde der Friedenskirche in D-Stadt im Kirchenasyl befunden. Bei einer telefonischen Nachfrage der ZAB Mittelfranken am 02.06.2017 bei der zuständigen Diakonin habe diese mitgeteilt, dass die Klägerin bis zum Ablauf der Überstellungsfrist im September im Kirchenasyl verbleiben werde.

Die ZAB Mittelfranken hat mit Schreiben vom 25.11.2019 ausgeführt, allgemeine Vereinbarungen zwischen der Kirchengemeinde D-Stadt und der ZAB Mittelfranken bestünden nicht. Die Behörden agierten zurückhaltend, eine zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht erfolge während des Kirchenasyls generell nicht. Auf Vereinbarungen zwischen dem BAMF und den Kirchen in Deutschland hätten die Ausländerbehörden keinen Einfluss.

Das BAMF hat unter dem 10.12.2019 zum Schreiben des BAMF vom 10.03.2017 an den Bevollmächtigte angegeben, dass ein Härtefalldossier über den zuständigen Ansprechpartner nicht beim BAMF eingereicht worden sei. Insofern habe keine Härtefallprüfung vorgenommen werden können.

Im Erörterungstermin vom 19.12.2019 hat der Bevollmächtigte der Klägerin erklärt, die Berufung werde dahingehend beschränkt, dass der Klägerin für den Zeitraum 25.05.2018 bis 31.12.2018 höhere Leistungen nach dem AsylbLG bewilligt werden. Nach seiner Kenntnis sei im Fall der Klägerin ein Dossier angefertigt und an das BAMF geschickt worden. Die Klägerin hat ausgeführt, der Grund, warum sie ins Kirchenasyl gegangen sei, sei gewesen, dass sie nicht nach Italien zurückmüsse. Während ihres Aufenthalts in Italien habe sie auf der Straße gelebt und keine Unterstützung oder Hilfe bekommen. Ärzte oder Krankenhäuser habe sie nicht aufgesucht. Eine solche Möglichkeit habe nicht bestanden. Im Juli 2016 habe sie sich entschlossen, nach Deutschland zu fahren, weil es ihr nicht gut gegangen sei. In C-Stadt sei sie dann - etwa 18 Tage nach ihrer Ankunft - am 28.07.2016 wegen Diabetes behandelt worden.

Der Bevollmächtigte hat unter dem 16.01.2020 eine Auskunft der Diakonin R. vom 19.12.2019 zugeleitet. Die Diakonin sei damals hauptverantwortlich für das Kirchenasyl in der Friedenskirche gewesen. Mit hundertprozentiger Sicherheit sei damals ein Dossier verfasst und an das BAMF verschickt worden. Gründe für das Kirchenasyl seien einerseits die Diabeteserkrankung der Klägerin und die schlechte medizinische Versorgung in Italien gewesen. Die Klägerin hätte (dort) keinerlei medizinische Versorgung erhalten, nur allein die Diagnose sei festgestellt worden.

Weiter hat der Bevollmächtigte Bezug genommen auf die Kopie eines Schreibens der Friedenskirche (ohne Datum) auf das Schreiben des BAMF vom 10.03.2017, in dem die schwerwiegende Situation der Klägerin geschildert und um Überprüfung eines Selbsteintritts Deutschlands im Rahmen der Dublin-III-VO gebeten worden sei. Die Klägerin leide unter starker Diabetes. In Italien habe sie keinen Anspruch auf medizinische Versorgung gehabt, da für geflüchtete Menschen kein medizinisches Hilfesystem vorhanden gewesen sei. Aufgrund der schweren Diabeteserkrankung brauche die Klägerin täglich Insulin und müsse ihren Blutzucker regelmäßig messen. In Italien sei dies nicht möglich gewesen. Die Erkrankung hätte schwere, offene Wunden zur Folge gehabt, die sich stark entzündet und ihr Leben bedroht hätten. In diesem lebensbedrohlichen Zustand habe sich die Klägerin auf den Weg nach Deutschland gemacht, wo sie sofort im Krankenhaus habe behandelt werden müssen. Nach einem Krankenhausaufenthalt von 15 Tagen hätten die Wunden gut behandelt werden können und seien mittlerweile gut ausgeheilt. Aktuell müsse sie jeden Tag Insulin spritzen und den Blutzucker überprüfen. Die medizinische Versorgung sei für sie lebensnotwendig.

Am 31.01.2020 hat die Beklagte noch zur Höhe der Leistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs (§ 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG idF bis 31.08.2019) Stellung genommen.

Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.11.2018 und den Bescheid der Beklagten vom 08.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2018 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 22.10.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für den Zeitraum vom 25.05.2018 bis 31.12.2018 die von ihr beantragten Leistungen nach § 2 AsylbLG zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.11.2018 zurückzuweisen.

Mit Bescheid vom 08.02.2019 hat die Beklagte der Klägerin für den Zeitraum 01.01.2019 bis 31.12.2019 wie bisher Geldleistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von monatlich 320,14 EUR sowie Sachleistungen in Form der Gewährung von Unterkunft und Wohnungsausstattung bewilligt. Diesen Bescheid hat die Beklagte mit Bescheid vom 03.09.2019 abgeändert und für den Zeitraum 01.09.2019 bis 31.12.2019 Geldleistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von monatlich 310,00 EUR sowie Sachleistungen in Form der Gewährung von Unterkunft und Wohnungsausstattung bewilligt. Im Erörterungstermin vom 19.12.2019 hat sich die Beklagte bereit erklärt, nach rechtskräftigem Abschluss dieses Berufungsverfahrens über die Ansprüche der Klägerin nach dem AsylbLG für den Zeitraum 01.11.2017 bis 24.05.2018 sowie über den Antrag vom 19.12.2019 auf Überprüfung des Bescheides vom 08.02.2019 in der Fassung des Bescheides vom 03.09.2019 im Wege des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu entscheiden.

Mit Schreiben vom 21.04.2020 bzw. 23.04.2020 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und des BAMF sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden, §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG). Sie ist auch nach §§ 143, 144 SGG statthaft. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung, da sie zum maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Einlegung laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betraf (vgl. § 144 Abs. 1 2 SGG). Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren ihren ursprünglich zukunftsoffenen Klageantrag auf den Zeitraum 25.05.2018 bis 31.12.2018 beschränkt hat, erfolgte diese Beschränkung nicht willkürlich (siehe dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 144 Rn. 19). Vielmehr wurde die Beschränkung auf Anregung des Gerichts aus verfahrensökonomischen Zwecken und somit aus vernünftigem Grund vorgenommen.

Die Berufung ist jedoch unbegründet.

Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 08.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.07.2018, mit dem die Beklagte die Bewilligung höherer Leistungen nach § 2 AsylbLG ab Antragstellung am 25.05.2018 für die Zukunft abgelehnt hat. Mit weiterem Bescheid vom 22.10.2018 hat die Beklagte der Klägerin für den Zeitraum 01.01.2018 bis 31.12.2018 Geldleistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von monatlich 320,14 EUR sowie Sachleistungen in Form der Gewährung von Unterkunft und Wohnungsausstattung bewilligt. Damit hat sie zugleich auch die Bewilligung darüberhinausgehender Leistungen nach § 2 AsylbLG abgelehnt. Demnach hat der Bescheid vom 22.10.2018 den angefochtenen Bescheid vom 08.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2018 für den streitigen Zeitraum 25.05.2018 bis 31.12.2018 ersetzt (§ 96 SGG). Der Klägerin standen im streitigen Zeitraum keine Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. den entsprechend anzuwenden Vorschriften des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu.

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG idF bis 20.08.2019 ist abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Zuständig für die Leistungsgewährung ist die Beklagte nach §§ 12 Abs. 2 Nr. 2, 18 Asyldurchführungsverordnung, § 10a Abs. 1 AsylbLG.

Die Klägerin ist Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG). Nach Einreise am 24.07.2016 hat sie sich zum Antragsdatum 25.05.2018, dem Beginn des hier streitigen Zeitraums, mehr als 15 Monate durchgehend im Bundesgebiet aufgehalten. Die Wartezeit wird nicht durch den Zeitraum des Kirchenasyls unterbrochen oder nach dem dortigen Aufenthalt neu in Gang gesetzt (vgl. Oppermann/Filges in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG Rz 65). Die Klägerin war in der streitigen Zeit auch bedürftig (§ 7 AsylbLG, § 2 AsylbLG iVm § 19 SGB XII).

Allerdings hat die Klägerin die Dauer des Aufenthalts selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Dies ergibt sich daraus, dass die vollziehbar zur Ausreise verpflichtete Klägerin nicht ihrer Ausreisepflicht nachgekommen ist und sich der Rücküberstellung nach Italien durch den Gang in das Kirchenasyl entzogen hat. Der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit findet im AsylbLG keine Erläuterung, deutet aber auf ein vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten hin. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Leistungsberechtigte soll von Analog-Leistungen ausgeschlossen sein, wenn diese Vergünstigung andernfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre (Urteil vom 17.6.2008, B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 32 ff.). Ein solches unredliches Verhalten kann beispielsweise bei Verstößen gegen aufenthaltsrechtliche, asylverfahrensrechtliche oder sonstige Vorschriften gesehen werden, soweit diese Auswirkungen auf die Dauer des Aufenthalts haben.

Jedoch genügt nach der Entscheidung des BSG (a.a.O.) angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wögen für den Ausländer sowie über die Regelung des § 2 Abs. 3 AsylbLG für dessen minderjährige Kinder so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher führe nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar sei (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen; nur dann sei es gerechtfertigt, auch die minderjährigen Kinder mit den Folgen dieses Verhaltens zu belasten. Die Vernichtung des Passes oder die Angabe einer falschen Identität seien typische Fallgestaltungen eines Rechtsmissbrauchs (Hinweis auf BT-Drs. 15/420 121).

Allerdings ist den Anforderungen, die das BSG an ein rechtsmissbräuchliches Verhalten stellt, nicht in dieser Weite zu folgen. Es ist nicht mehr zu fordern, dass der Pflichtverletzung ein erhebliches Gewicht zukommen und ein gleichsam unentschuldbares Verhalten vorliegen müsse. Dies ergibt sich aus den gesetzgeberischen Änderungen, die das AsylbLG zeitlich nach der Entscheidung des BSG erfahren hat. Diese betrafen infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) insbesondere die Höhe der nach § 3 AsylbLG zustehenden Grundleistungen. Infolgedessen hat sich die Differenz zwischen der Leistungshöhe der Grundleistungen und der der Analog-Leistungen deutlich verringert. Auch die Regelung des § 2 Abs. 3 AsylbLG wurde dahingehend geändert, dass die Zurechnung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der Eltern weitestgehend vermieden wird. Nach § 2 Abs. 3 AsylbLG idF bis 28.02.2015 wurden Mitglieder einer Familie leistungsrechtlich insoweit gleichbehandelt, als Minderjährige keine höheren Leistungen erhalten sollten als ihre Eltern. Die Minderjährigen konnten die höheren Analog-Leistungen nur dann beanspruchen, wenn mindestens ein Elternteil ebenfalls Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG bezog. Die Ersetzung des Wortes "nur" durch die Worte "auch dann" in der ab dem 01.03.2015 geltenden Fassung des § 2 Abs. 3 AsylbLG hatte zum Ziel, dass minderjährige Kinder schon dann Analog-Leistungen erhalten, wenn ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft diese Leistungen bekommt, ohne dass das Kind selbst die Wartezeit von 15 Monaten Aufenthalt erfüllen muss. Mit der Änderung wurde des Weiteren der Zweck verfolgt, dass minderjährige Kinder, die mit Leistungsberechtigten in Haushaltsgemeinschaft leben, die von der Ausschlussregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG betroffen sind und daher lediglich Grundleistungen beziehen, auch dann Anspruch auf privilegierte Leistungen haben, wenn sie die Anspruchsvoraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG in eigener Person erfüllen (BT-Drs. 18/2592 20).

Demnach liegt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsberechtigten nicht erst dann vor, wenn es als unentschuldbar anzusehen ist. Genügend ist ein gesetzeswidriges, vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten, soweit dieses die Dauer des Aufenthalts beeinflusst.

In diesem Sinne hat die Klägerin ihre Aufenthaltsdauer selbst beeinflusst, in dem sie ihren ausländerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Infolge ihres Asylantrags war ihr gem. § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet. Mit Bescheid vom 04.01.2017 lehnte das BAMF den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, und ordnete die Abschiebung der Klägerin nach Italien gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG an. Die gegen den Bescheid beim VG D-Stadt erhobene Klage entfaltete keine aufschiebende Wirkung (vgl. § 75 AsylG). Der zugleich gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ließ die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung unberührt (§ 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG).

Mit Bekanntgabe des Bescheids vom 04.01.2017, mit dem das BAMF u.a. die Abschiebung der Klägerin nach Italien auf Grundlage des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG angeordnet hat, ist die Aufenthaltsgestattung der Klägerin erloschen (§ 67 Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Die Klägerin war nicht im Besitz eines anderweitigen Aufenthaltstitels. Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet stellte sich somit mit Bekanntgabe des Bescheids vom 04.01.2017 als rechtswidrig dar. Mit Ablauf der Überstellungsfrist nach Italien am 07.09.2017, sechs Monate nach der Rücknahme des Eilantrags beim VG D-Stadt, ging die Zuständigkeit für den Asylantrag der Klägerin auf Deutschland über (Art. 29 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO). Infolgedessen hat das BAMF den nunmehr rechtswidrig gewordenen Bescheid vom 04.01.2017 aufgehoben. Der Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet war wieder zur Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG gestattet (Aufenthaltsgestattung vom 22.09.2017).

Durch ihr Verbleiben in Deutschland nach Bekanntgabe des Bescheids vom 04.01.2017 hat die Klägerin die Dauer ihres Aufenthalts somit beeinflusst. Anhaltspunkte dafür, dass die Ausreisepflicht der Klägerin in dem gesamten Zeitraum ab Bekanntgabe des Bescheids vom 04.01.2017 nicht hätte vollzogen werden können, hat der Senat nicht. Auf die Auskunft der ZAB Oberfranken vom 15.08.2019 wird Bezug genommen. Jedenfalls mit der Rücknahme des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beim VG am 06.03.2017 war die Abschiebung der Klägerin nach Italien zulässig (§ 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG).

Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Klägerin ist es ohne Bedeutung, dass sich die Klägerin vom 26.02.2017 bis zum 21.09.2017 im sog. Kirchenasyl der Gemeinde D-Stadt - Friedenskirche befunden hat. Denn die Gewährung von Kirchenasyl entfaltet keinerlei aufenthaltsrechtliche Wirkung. Sie begründet insbesondere keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG und lässt daher auch nicht die Strafbarkeit des illegalen Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entfallen (vgl. OLG München a.a.O.). Vielmehr bestimmt sich die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach den Bestimmungen des Ausländerrechts, insbesondere des AufenthG und des AsylG. Zur Entscheidung über die Gewährung eines Aufenthaltsrechts sind allein die zuständigen Ausländerbehörden befugt, deren Entscheidungen wiederum der Kontrolle durch die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterliegen.

Die Klägerin hat die Dauer ihres rechtswidrigen Aufenthalts auch rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Denn es ist ihr vorwerfbar, dass sie sich der Überstellung bzw. der Abschiebung nach Italien durch ihren Aufenthalt im Kirchenasyls entzogen hat. Durch ihr Verhalten hat die Klägerin eine Rücküberstellung nach Italien und damit den Vollzug der europarechtlichen Regelungen zur nationalen Zuständigkeit für Asylverfahren vereitelt. Dabei hat sie die Möglichkeit zu Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung im gerichtlichen Eilverfahren nicht genutzt. Infolge ihres rechtswidrigen Verbleibens in Deutschland beruft sie sich nunmehr zur Erlangung höherer Leistungen im Rahmen des § 2 Abs. 1 AsylbLG auf ihre bisherige Aufenthaltsdauer.

Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Ausländerbehörde während des Aufenthalts der Klägerin im Kirchenasyl keine Maßnahmen getroffen hat, die Klägerin nach Italien zu überstellen. Zwar war der ZAB Mittelfranken die Adresse der Klägerin bekannt und die ZAB war weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Allerdings hat die ZAB sich an der entsprechenden Durchsetzung gehindert gesehen und zwar allein aufgrund des Umstandes, dass die Tradition des Kirchenasyls von ihr respektiert wird. Diese Zurückhaltung führt aber nicht dazu, dass nunmehr das Verhalten der Klägerin als nicht rechtsmissbräuchlich iSd § 2 Abs. 1 AsylbLG anzusehen wäre. Denn hinsichtlich der Rechtsmissbräuchlichkeit kommt es weder auf die Zurückhaltung der staatlichen Behörden noch darauf an, ob das Verhalten der Kirchen, den von Abschiebung bedrohten Ausländern Kirchenasyl zur Verfügung zu stellen, mit den Werten der Gesellschaft vereinbar ist (so SG Regensburg a.a.O.; SG Lüneburg a.a.O.; Deibel ZfSH/SGB 2017,583,590; a.A. SG Stade a.a.O., SG Kassel Beschluss vom 11.09.2017, S 11 AY 4/17 ER). Vielmehr bestimmt § 2 Abs. 1 AsylbLG, dass das Verhalten des Leistungsberechtigten maßgebend ist, ob er durch sein Verhalten die Dauer seines Aufenthaltes selbst beeinflusst hat. Hierfür reicht es aus, dass der Leistungsberechtigte - wie die Klägerin - durch die Nichtausreise seinen ausländerrechtlichen Verpflichtungen vorwerfbar nicht nachgekommen ist.

Dass nach der Entscheidung des BSG vom 17.06.2008 (a.a.O.) allein das Verbleiben im Bundesgebiet nach Erteilen einer Duldung nach § 60a AufenthG - auch wenn diese die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts des Duldungsinhabers nicht beseitige - kein rechtsmissbräuchliches Verhalten darstelle, ist vorliegend ohne Belang. Denn die Klägerin war nicht im Besitz einer förmlichen Duldung. Auch lagen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nicht vor. In der Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörden, nicht aktiv in das Kirchenasyl einzugreifen und die - jedenfalls ab dem 06.03.2017 mögliche - Abschiebung bzw. Überstellung der Klägerin nach Italien zwangsweise durchzusetzen, kann auch keine stillschweigende bzw. faktische Duldung gesehen werden. Denn das schlichte Nichthandeln einer Behörde ist kein Verwaltungsakt und somit auch kein begünstigender Verwaltungsakt, wie ihn eine Duldung darstellt (siehe dazu OLG München a.a.O.). Ob dies gegebenenfalls in Fällen, in denen das BAMF im Rahmen eines Kirchenasyls zur Prüfung des Vorliegens eines Härtefalls in eine erneute Einzelfallprüfung eintritt (s. dazu OLG München a.a.O., Verfahrensabsprache zwischen dem BAMF mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche zum Kirchenasyl vom 24.02.2015 über die nochmalige Überprüfung von besonderen Härtefällen im Dublin III -Verfahren), anders - jedenfalls für den Zeitraum bis zum Abschluss der Härtefallprüfung - zu sehen ist, kann dahingestellt bleiben. Denn vorliegend lag eine Zusage des BAMF, eine Härtefallprüfung durchzuführen, nicht vor. Der Senat ist bereits mangels Vorliegen eines Zugangsnachweises nicht davon überzeugt, dass das im Berufungsverfahren vorgelegte undatierte Dossier (Kopie des Schreibens der Friedenskirche auf das Schreiben des BAMF vom 10.03.2017) über die Klägerin zur Prüfung eines Härtefalls beim BAMF tatsächlich dort eingegangen ist. Unabhängig davon fehlt es jedenfalls an einer entsprechenden Zusage des BAMF, z.B. in Form eines Bestätigungsschreibens. Im Übrigen hat die für die der evang.-luth. Gemeinde D-Stadt - Friedenskirche zuständige Diakonin am 02.06.2017 mitgeteilt, dass die Klägerin jedenfalls bis Ende der Überstellungsfrist im Kirchenasyl verbleibe. Auch dies spricht dafür, dass vorliegend keine ergebnisoffene Härtefallprüfung durchgeführt wurde bzw. werden sollte, sondern in jedem Fall die Überstellung der Klägerin nach Italien verhindert werden sollte.

Nach Auffassung des Senats ist es für die Beurteilung der Rechtsmissbräuchlichkeit des Verhaltens der Klägerin auch ohne Belang, ob der Klägerin eine Überstellung bzw. Abschiebung nach Italien zumutbar gewesen wäre. Die Frage der Zumutbarkeit ist nach Maßgabe der spezifischen ausländerrechtlichen Regelungen zu beurteilen und im Rahmen des aufenthaltsrechtlichen Verfahrens zu prüfen. Ist danach eine Ausreisepflicht gegeben bzw. die Anordnung der Abschiebung rechtmäßig, ist dies der Beurteilung der Rechtsmissbräuchlichkeit im Rahmen des § 2 Abs. 1 AsylbLG zugrunde zu legen. Es ist dem Betroffenen möglich und zumutbar, eine für ihn ungünstige Entscheidung der Verwaltung im nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren überprüfen zu lassen. Insofern hat das VG D-Stadt in seinem Beschluss vom 29.09.2017 für den vorliegenden Sachverhalt zutreffend ausgeführt, dass sich die Klägerin nicht einer ergebnisoffenen gerichtlichen Prüfung ihres Falles habe stellen wollen, sondern sich ins Kirchenasyl begeben habe, um auf diese Weise eine Abschiebung nach Italien zu verhindern.

Im Übrigen konnte sich der Senat auch nicht davon überzeugen, dass im Zeitraum des Kirchenasyls Gründe vorlagen, die eine Abschiebung nach Italien als unzumutbar hätten erscheinen lassen. Nach damals gültiger Auskunftslage war nicht davon auszugehen, dass die Klägerin bei ihrer Rücküberstellung nach Italien eine menschenunwürdige oder erniedrigende Behandlung gedroht hätte (vgl. Beschluss des VG D-Stadt vom 29.09.2017). Soweit die Klägerin den Umstand, dass sie sich ins Kirchenasyl begeben habe, um eine Abschiebung nach Italien zu verhindern, damit begründet, dass sie in Italien nicht die notwendige medizinische Unterstützung für die Behandlung ihrer Erkrankung an Diabetes erhalten habe, ist der Senat hiervon nicht überzeugt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im Entlassungsbericht des Klinikums F. vom 17.08.2016 zur Anamnese ausgeführt wird, die bei der Aufnahme beschwerdefreie Klägerin habe über keine Beschwerden berichtet; ein Diabetes mellitus sei bei ihr nicht bekannt. Die in der Kopie des Schreibens der Friedenskirche (ohne Datum) auf das Schreiben des BAMF vom 10.03.2017 bezeichneten schweren, offenen und lebensbedrohlichen Wunden haben auch keinen Eingang in den Entlassungsbericht des Klinikums F. vom 17.08.2016 (bei Aufnahme am 08.08.2016 zeitlich nahe an der Einreise der Klägerin am 24.07.2016) gefunden. Im Entlassungsbericht vom 31.08.2016 wird aber berichtet, dass beim Voraufenthalt unklare, wechselnde schmerzhafte knötchenförmige Hautveränderungen festgestellt worden seien.

Der Klägerin waren die Umstände, die ihr Verhalten als rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen, bekannt. Sie wusste, dass sie zur Ausreise vollziehbar verpflichtet war, sie sich durch ihren Aufenthalt im Kirchenasyl einer zulässigen Überstellung bzw. Abschiebung nach Italien entzieht und dadurch ihren rechtswidrigen Aufenthalt in Deutschland verlängert. Im Erörterungstermin vom 19.12.2019 hat die Klägerin auch angegeben, dass sie sich in der Erwartung in das Kirchenasyl begeben habe, nicht mehr nach Italien zurückkehren zu müssen. Sie handelte vorsätzlich.

Die Klägerin hat auch dadurch, dass sie ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen ist und sich der Rücküberstellung nach Italien durch den Gang in das Kirchenasyl entzogen hat, die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet verlängert. Mit Urteil vom 17.06.2008 hat das BSG (a.a.O.) zwar einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes gefordert. Allerdings - so das BSG - zeigten bereits der Gesetzeswortlaut ("Beeinflussung", nicht Verlängerung) und die Begründung des Gesetzesentwurfes, die unter anderem in ihrer beispielhaften Aufzählung die Vernichtung eines Passes nenne, dass eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes ausreiche, also kein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn erforderlich sei. Dies bedeute, dass jedes von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten, das - typisierend - der vom Gesetzgeber missbilligten Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes dienen könne, ausreichend sei, um die kausale Verbindung zu bejahen. Vorliegend ist von dieser kausalen Verknüpfung auszugehen, da generell-abstrakt betrachtet der Gang in das Kirchenasyl typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängert.

Dem steht nicht entgegen, dass eine Ausnahme von der typisierenden Betrachtungsweise dann gemacht werden muss, wenn die Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (vgl. BSG Urteil vom 17.06.2008 a.a.O.). Während der Zeit des Kirchenasyls war - wie ausgeführt - die Klägerin zur Ausreise vollziehbar ausreisepflichtig. Allerdings hat sich die ZAB Mittelfranken aus Respekt vor dem Kirchenasyl an der entsprechenden Vollziehung der Ausreisepflicht gehindert gesehen. Jedoch ist dieses Hindernis an der Abschiebung nicht unabhängig von dem Verhalten der Klägerin eingetreten, sondern aufgrund ihrer Inanspruchnahme von Kirchenasyl. Es kommt auch nicht darauf an, ob oder inwieweit der Respekt vor dem Kirchenasyl der maßgebliche Grund war, die Ausreisepflicht der Klägerin nicht zu vollziehen. Denn ausreichend ist die typisierende Betrachtung des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer.

Im Ergebnis stehen der Klägerin keine Analog-Leistungen zu, so dass die Berufung als unbegründet zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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