L 2 AS 1620/20 B ER und L 2 AS 1621/20 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 53 AS 3183/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 AS 1620/20 B ER und L 2 AS 1621/20 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 02.11.2020 abgeändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Eingliederungsverwaltungsakt des Antragsgegners vom 17.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2020 wird angeordnet. Dem Antragsteller wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt T, J, beigeordnet. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im erstinstanzlichen Verfahren und im Beschwerdeverfahren L 2 AS 1620/20 B ER. Hinsichtlich des Beschwerdeverfahrens L 2 AS 1621/20 B sind keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die zulässigen Beschwerden des Antragstellers sind begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Unrecht abgelehnt.

Der nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2020 nunmehr gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der mit Schriftsatz vom 10.12.2020 vor dem Sozialgericht Duisburg erhobenen Klage ist zulässig und begründet.

Dem Antrag fehlt insbesondere nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Der Antragsgegner hat allerdings in seinem Eingliederungsverwaltungsakt die nach § 31 Abs. 1 SGB II für eine Sanktion erforderliche Rechtsfolgenbelehrung nicht erteilt und mehrfach schriftlich bestätigt, dass er wegen der gesundheitlichen Situation des Antragstellers auch keine Sanktionierung beabsichtige. Ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis lässt sich hieraus aber nicht ableiten, weil der Antragsteller trotz der Erklärung des Antragsgegners, ein Verstoß des Antragstellers gegen die Pflichten aus dem Eingliederungsverwaltungsakt werde nicht sanktioniert, ohne Anordnung der aufschiebenden Wirkung weiterhin dazu verpflichtet bleibt, die im Eingliederungsverwaltungsakt aufgeführten Pflichten zu erfüllen. Der Antragsgegner hat diesbezüglich gerade nicht zum Ausdruck gebracht, dass er an den Regelungen des noch bis zum 16.03.2021 geltenden Eingliederungsverwaltungsaktes nicht mehr festhalten will, sondern in seinem Widerspruchsbescheid nochmals nachdrücklich erklärt, dass er die diesbezüglichen Regelungen zur Förderung der Eingliederung in den Arbeitsmarkt unabhängig von der Frage einer Sanktionierung des Leistungsberechtigten weiterhin für erforderlich hält. Bei dieser Sachlage ist aber jedenfalls bis zum zeitlichen Ablauf des Eingliederungsverwaltungsaktes auch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung und damit eine Außerkraftsetzung der Regelung gegeben. Wegen des Gebots effektiven Rechtsschutzes muss es dem Antragsteller möglich sein, die Frage, ob und in welchem Umfang ihm Handlungspflichten durch den Eingliederungsverwaltungsakt auferlegt werden durften, zeitnah vor Ablauf des Geltungszeitraums zu klären (vgl. dazu auch Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 05.09.2019 - L 3 AS 520/19 B ER, Rn. 23ff. bei juris mwN).

Der Antragsteller hat auch einen Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Eingliederungsverwaltungsakt haben nach § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung. In solchen Fällen kann das Gericht der Hauptsache nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens verschont zu bleiben, und das öffentlichen Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes. Bei dieser Interessenabwägung ist insbesondere auch die - nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zu bewertende - Erfolgsaussicht des Rechtsmittels in der Hauptsache zu berücksichtigen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Nichtannahmebeschluss vom 30.10.2009 - 1 BvR 2395/09, Rn. 7 bei juris). Da § 39 Nr. 1 SGB II das Vollzugsrisiko grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können allerdings nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aussetzungsinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs, hier der Klage, zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig und der Betroffene durch ihn in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird ausgesetzt, weil dann ein öffentliches Interesse an der Vollziehung nicht besteht. Eine besondere Eilbedürftigkeit ist in diesem Fall - anders als bei einer Entscheidung nach § 86b Abs. 2 SGG - nicht erforderlich (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 86b Rn. 12e ff. mwN).

Unter Beachtung der vorgenannten Rechtsgrundsätze ist eine aufschiebende Wirkung der mit Schriftsatz vom 10.12.2020 gegen den Eingliederungsverwaltungsakt erhobenen Klage anzuordnen, weil nach summarischer Prüfung davon auszugehen ist, dass diese Klage überwiegende Aussicht auf Erfolg hat.

Rechtsgrundlage für den Erlass eines Eingliederungsverwaltungsaktes ist § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB II. Wird eine Eingliederungsvereinbarung nach § 15 Abs. 2 SGB II nach dieser Vorschrift durch Verwaltungsakt ersetzt, sind dessen Regelungen im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens nach denselben Maßstäben zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen wie bei einer konsensualen Eingliederungsvereinbarung (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 21.03.2019 - B 14 AS 28/18 R, Rn. 18 f. bei juris mwN). Ausgehend hiervon sind die Regelungen in einem Verwaltungsakt, der eine Eingliederungsvereinbarung ersetzt, insgesamt im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens nach denselben Maßstäben wie in einer Eingliederungsvereinbarung zu treffen (BSG, Urteil vom 21.03.2019 - B 14 AS 28/18 R, Rn. 19 bei juris). Diesen Vorgaben wird der streitige Eingliederungsverwaltungsakt nicht gerecht.

Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind die für die Eingliederung erforderlichen Leistungen Gegenstand der Vereinbarung. Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 soll hierzu in der Eingliederungsvereinbarung insbesondere bestimmt werden, welche Leistungen zur Eingliederung der erwerbsfähige Leistungsberechtigte erhält (Nr. 1), welche Bemühungen er zur Eingliederung in Arbeit in welcher Häufigkeit er hierzu mindestens unternehmen muss (Nr.2) und welche Leistungen anderer Leistungsträger in den Eingliederungsprozess einbezogen werden (Nr. 3). Die Prüfung des Vertragsinhalts richtet sich nach § 58 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Die Leistungen und Verpflichtungen beider Vertragsparteien sind genau zu beschreiben. Die Verteilung der Rechte und Pflichten soll dabei für beide Vertragsparteien ausgewogen sein (vgl. Kador in Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage, § 15 Rn. 52). Bei der Festlegung der Obliegenheiten des Leistungsempfängers gilt das Bestimmtheitserfordernis. Die zu vereinbarenden Pflichten sind individuell und eindeutig festzulegen. Sie sind nach Art, Umfang, Zeit und Ort so zu konkretisieren, dass eine etwaige Verletzungshandlung ohne weiteres festgestellt werden kann. Daneben ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die Leistungen zur Unterstützung der leistungsberechtigten Person müssen mit ihren Eigenbemühungen in einem angemessenen Verhältnis stehen (vgl. Kador in Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage, § 15 Rn. 57).

Diesen Anforderungen wird der Eingliederungsverwaltungsakt nicht gerecht. Es fehlt den Festlegungen an der hinreichenden Bestimmtheit. Hinsichtlich der aufgeführten Ziele "Stabilisierung der Gesundheit durch therapeutische Maßnahmen, anschließend berufliche Neuorientierung" ist völlig unklar, unter welchen Voraussetzungen eine Stabilisierung der Gesundheit angenommen werden kann, wie sie nachzuweisen ist und zu welchem Zeitpunkt dementsprechend die nachfolgende berufliche Neuorientierung starten kann. Bereits hierin liegt ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Unterstützungsleistungen des Antragsgegners - anders als die Pflichten des Antragstellers - erst gewährt werden sollen, wenn die Stabilisierung der Gesundheit erreicht ist. Ein angemessenes Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ist bereits deshalb nicht ersichtlich, weil bei fehlender gesundheitlicher Stabilisierung des Antragstellers bis zum Ablauf des bis zum 16.03.2021 geltenden Verwaltungsaktes nur Verpflichtungen des Antragstellers festgelegt sind. Konkrete Regelungen dazu, wie das angestrebte Ziel einer gesundheitlichen Stabilisierung und einer anschließenden beruflichen Neuorientierung erreicht werden soll, lassen sich dem Eingliederungsverwaltungsakt zudem nicht entnehmen. Die dem Antragsteller zur Integration in Arbeit auferlegten Pflichten betreffen Nachweise zur Arbeitsunfähigkeit und das Verfahren bei Ortsabwesenheit sowie ein Einverständnis mit der Speicherung und Nutzung der vermittlungsrelevanten Daten des Antragstellers durch die Arbeitsvermittlung. Die Unterstützungsleistungen des Antragsgegners beschränken sich auf die Wiedergabe der gesetzlichen Regelungen der §§ 16 ff. SGB II und der dort normierten Unterstützungsmaßnahmen. Ein konkreter Bezug zum Antragsteller ist nicht erkennbar. Es ist nicht einmal ersichtlich, welches konkrete Bewerberprofil des Antragstellers in www.Arbeitsagentur.de überhaupt aufgenommen werden soll und wie dieses im Rahmen der angestrebten beruflichen Neuorientierung ermittelt werden soll. Ein ausgewogenes Verhältnis der wechselseitigen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der individuellen persönlichen und gesundheitlichen Situation des Antragstellers (so der Widerspruchsbescheid des Antragsgegners) besteht nicht.

Ob der Eingliederungsverwaltungsakt unabhängig davon auch deshalb nichtig ist, weil bei zweifelhafter Erwerbsfähigkeit des Leistungsberechtigten die Voraussetzungen für den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung nicht vorliegen (vgl. dazu Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17.10.2008 - L 7 AS 251/08 ER, L 7 AS 252/08 B ER, L 7 AS 253/08 B ER, Rn. 58 bei juris), kann hier deshalb dahinstehen. Der Antragsgegner hat hieran offensichtlich selbst Zweifel, weil er in dem streitigen Eingliederungsverwaltungsakt zunächst eine Stabilisierung der Gesundheit für erforderlich hält und nunmehr bei einer Vorsprache am 16.11.2020 mit dem Antragsteller auch eine erneute Begutachtung vereinbart hat.

Aus den vorgenannten Gründen hat auch die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe Erfolg. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist nicht mutwillig. Der Antragsteller kann die Kosten der Prozessführung auch nicht aufbringen (§ 73a SGG i. V. m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO)).

Die Kostenentscheidung hinsichtlich des Beschwerdeverfahrens gegen die Ablehnung des Antrags auf aufschiebende Wirkung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Hinsichtlich der Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe beruht sie auf § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved