S 6 V 5729/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Stuttgart (BWB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 V 5729/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Es wird eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) dazu eingeholt, ob die im deutschen Recht der sozialen Entschädigung statuierten Leistungsbeschränkungen im Sinne von § 64e des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) für Versorgungsberechtigte mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Polen als neuem Beitrittsstaat zur EU in Einklang mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht stehen, insbesondere unter Gesichtspunkten der Freizügigkeit.
1. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.

2. Es wird eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) dazu eingeholt, ob die im deutschen Recht der sozialen Entschädi-gung statuierten Leistungsbeschränkungen im Sinne von § 64e des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) für Versorgungsberechtigte mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Polen als neuem Bei-trittsstaat zur EU in Einklang mit höherrangigem Gemeinschafts-recht stehen, insbesondere unter Gesichtspunkten der Freizügigkeit.

Gründe:

1 Die Klägerin des vor dem Sozialgericht Stuttgart anhängigen Streitverfahrens wohnt in Polen. Sie strebt eine volle Hinterbliebenenversorgung als Kriegerwitwe nach deutschem Versorgungsrecht an. Diese wird ihr jedoch von der beklagten deutschen Versorgungsverwaltung mit der Begründung versagt, aufgrund des Wohnsitzes stünden ihr diese nach den maßgeblichen deutschen Rechtsregeln nicht zu.

2 Der im Jahr 1928 geborene vormalige letzte Ehemann der Klägerin wohnte bis zu seinem Tod vom 12. Januar 2004 langjährig im Bereich des Versorgungsamts Münster/Deutschland. Aufgrund seiner im Zweiten Weltkrieg im deutschen Wehr-dienst erlittenen Verwundungen war er seit vielen Jahren anerkannter Schwer-kriegsbeschädigter, zuletzt mit einer schädigungsbedingten Minderung der Er-werbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 100 %. Seine monatlichen Versorgungsbezüge erreichten zuletzt 1 419,00 EUR und setzten sich zusammen aus Grundrente mit Al-terszulage (658,00 EUR), Ausgleichsrente (193,00 EUR), Ehegattenzuschlag (68,00 EUR) und Berufsschadensausgleich (500,00 EUR). - Seine erste Ehefrau verstarb am 11. November 1998.

Die 1952 geborene Klägerin, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern (diese ge-boren 1982 bzw. 1989), heiratete am 7. September 2002 den Verstorbenen. Nach der in Polen erfolgten Eheschließung bemühten sich die Eheleute um eine entspre-chende deutsche Aufenthaltsberechtigung der Klägerin. Es war deren erklärtes Ziel, dass die Klägerin dem Verstorbenen im täglichen Leben auch bei Bewälti-gung seiner durch die Kriegsverwundungen beschwerlichen Lebensgestaltung zu Hilfe gehen sollte.

3 Am 20. April 2004 ging bei dem Versorgungsamt Münster der entsprechende An-trag auf Bewilligung von Hinterbliebenenversorgung ein. Hierin teilte die Klägerin u. a. unter Bezeichnung als polnische Staatsangehörige mit, sie beabsichtige nun-mehr in naher Zukunft ihren Wohnsitz nach Polen zu verlegen. Die Klägerin hatte bereits zuvor am 9. Februar 2004 bei dem Versicherungsamt der Stadt Ol-fen/Nordrhein-Westfalen einen entsprechenden Antrag auf Bewilligung von Hin-terbliebenenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gestellt, der in der Fol-ge indessen abgelehnt wurde. Der Klägerin war später - wohl aus anderem Grund - von dem polnischen Sozialversicherungsträger ZUS unter Einbeziehung eines Kin-des und mit Berücksichtigung anrechenbarer Versicherungszeiten nach tschechi-schem Recht eine Familienrente in Höhe von 770,00 Zl. bewilligt worden. - Das für die sog. Auslandsversorgung zuständige Versorgungsamt Ravensburg aner-kannte mit Bescheid vom 27. Mai 2004 den Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Witwenrente gemäß § 38 in Verbindung mit § 64e BVG unter gleichzeitiger Feststellung, dass der Tod des Ehemanns eine Folge der Kriegsbeschädigung war. Die entsprechende Witwenrente im Rahmen der Teilversorgung gemäß §§ 40, 64e BVG wurde dann für die Zeit ab 1. Februar 2004 auf monatlich 224,00 EUR festge-stellt.

4 Unter Hinweis auf die vormals wesentlich höheren Versorgungsbezüge des Ver-storbenen beantragte die Klägerin in der Folge sinngemäß auch eine entsprechend höhere Festsetzung der ihr zustehenden Leistungen. Mit dem angefochtenen Aus-gangsbescheid des Landratsamts Ravensburg (Funktionsnachfolger des vormaligen Versorgungsamts) vom 19. Januar 2005 wurde der weitergehende Leistungsantrag der Klägerin abgelehnt. Der Begründungsteil enthält im Wesentlichen eine Darstel-lung des maßgeblichen deutschen Rechts sowie den Hinweis, die Mitgliedschaft eines Staates in der Europäischen Union habe keinen Einfluss auf die Höhe der Kriegsopferversorgung nach dem BVG. Der Widerspruch der Klägerin, v. a. be-gründet mit Hinweis auf den vormaligen gemeinsamen Hausstand (sc. in der Bun-desrepublik Deutschland) und der nunmehrigen Zugehörigkeit von Polen zur EU, blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart/Lan-desversorgungsamt vom 27. April 2005).

5 Während des korrekt eingeleiteten Klagverfahrens erklärte sich die Beklagte zu-letzt mit Schriftsatz vom 20. März 2007 unter nicht weiterer Darstellung auf "be-sondere Umstände des Einzelfalls" mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bereit, der Klägerin erhöhte Teilversorgung in Höhe der jewei-ligen (sc. inländischen) Grundrente rückwirkend für die Zeit ab Rentenbeginn ge-mäß § 64e Abs. 6 BVG zu gewähren. Der entsprechende monatliche Zahlbetrag beläuft sich auf 372,00 EUR. Dieses Anerkenntnis erledigt vorstehenden Rechtsstreit indessen nur zu einem Teil und ist verwaltungsseitig noch umzusetzen.

6 Bereits zuvor hatte auch nach erfolgter Beiladung der Bundesrepublik Deutsch-land, vertreten durch den Bundesminister für Arbeit und Soziales, die Beklagte es ausdrücklich abgelehnt, der Klägerin weitergehende Versorgungsleistungen zu gewähren.

7 Allgemein ist die Materie durch das BVG vom 20. Dezember 1950 in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982 (BGBl. I S. 21), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Juni 2006 (BGBl. I S. 1305) die maßgebliche Rechtsgrundlage. Für Hinterbliebene kommen gemäß § 9 Nr. 5 BVG in erster Linie Ansprüche auf Hinterbliebenenrente (§§ 38 bis 52 BVG) in Betracht.

8 Neben der - im Übrigen nicht dynamisierten - Grundrente besteht ferner bei Erfül-len weiterer Voraussetzungen ein Anspruch auf Schadensausgleich für Witwen bei schädigungsbedingten (fiktiven) Einkommenseinbußen des Verstorbenen (§ 40a BVG) sowie gegebenenfalls Pflegeausgleich (§ 40b BVG) und/oder Ausgleichs-rente (§ 41 BVG). Ist zusätzlich, wie vorliegend bei der Klägerin, das 45. Lebens-jahr erreicht, so kommt gemäß § 41 Abs. 1 lit. b) in Verbindung mit Abs. 2 BVG auch eine volle Ausgleichsrente in Höhe von monatlich 412,00 EUR in Betracht, so-weit nicht gemäß § 41 Abs. 3 BVG gegebenenfalls eigene Einkünfte anzurechnen sind.

Neben diesen Leistungen, zu denen für Witwen vom Grundsatz her auch gemäß §§ 9 Nr. 1, 10 Abs. 4 S. 1 lit. c) BVG ein Anspruch auf Krankenbehandlung be-steht, gehören auch gemäß §§ 9 Nr. 2, 25 bis 27j BVG zu dem Leistungsspektrum Ansprüche aus dem Bereich der sog. Kriegsopferfürsorge. Diese sind indessen mehr bedarfsorientiert strukturiert.

9 Eine uneingeschränkte Anwendung dieser Vorschriften erfolgt jedoch nur bei einem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb Deutschlands. Andernfalls finden - verkürzt dargestellt - diese Normen nur dann Anwendung, falls gemäß §§ 64a bis 64f BVG nichts Abweichendes bestimmt ist. Diese Ausnahmeregelung umfasst den gesamten außerdeutschen Bereich.

10 Für das vorliegende Streitverfahren ist die durch § 64e Abs. 5 S. 1 BVG statuierte weitere Sonderung ausschlaggebend. Hiernach wird eine als sog. Teilversorgung bezeichnete faktische Leistungskürzung nach Umfang und Höhe - näher definiert durch Absätze 2 bis 4 der Norm - vorgenommen, falls Wohnsitz bzw. gewöhnli-cher Aufenthalt in einem der Staaten liegt, die von der genannten Rechtsverord-nung erfasst wird. Hierbei handelt es sich im Einzelnen um die Auslandsversor-gungsverordnung (AuslVersV) vom 30. Juni 1990 (BGBl. I S. 1321). Die dort in § 1 aufgelisteten Staaten sind ausnahmslos solche des früheren sog. "Ostblocks", also auch Polen. Die zeitlich nachfolgende Ost-Erweiterung der EU ist in der ge-nannten Verordnung bislang nicht berücksichtigt.

Hier von besonderem Interesse ist, dass § 2 Abs. 2 und 3 der Verordnung einen im Vergleich zu den inländischen Regelungen abweichenden Ableitungssatz in Höhe von 60 % bzw. 45 % der nach § 64e Abs. 2 BVG abschließend erfassten Leistun-gen geregelt ist. Im Übrigen ruht gemäß § 64e Abs. 1 S. 2 BVG der Anspruch auf Versorgung, d. h. alle weiteren Leistungselemente sind faktisch ausgeschlossen.

11 Zum besseren Verständnis dieses historisch gewachsenen deutschen Rechtskon-strukts sei es schlagwortartig erläutert:

12 Wie in den meisten Staaten so hat auch in Deutschland das Recht der Versorgung für Kriegsinvalide und deren Hinterbliebene sich traditionell über die Jahrzehnte hinweg entwickelt. Vormalige Fürsorgeleistungen erwuchsen zu Rechtsansprü-chen. Die entsprechende Leistungspalette wurde im Lauf der Zeit - nicht immer frei von politisch-situativen Gegebenheiten - zunehmend ausgebaut und verfeinert. Das deutsche Versorgungsrecht stellt sich nunmehr als ein vielgliedrig gestaffeltes System dar, das im internationalen Vergleich mit an der Spitze stehen dürfte.

Auch ist nach der neueren deutschen Sozialrechtssystematik das Bundesversor-gungsgesetz als Teil des sog. sozialen Entschädigungsrechts für eine Reihe weite-rer vorliegend nicht interessierender Materien heranzuziehen, wie z. B. für Impf-schäden, Zivildienstschäden, die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten u. a.

13 Das Bundesversorgungsgesetz beschränkte sich noch in den 50er Jahren - teilweise schon aus devisenrechtlichen Gründen - nur auf den innerstaatlichen Bereich. Im Lauf der Jahre erfolgte alsdann eine sukzessive Öffnung zum Ausland hin. Das insoweit aktuell gültige Regelungswerk der §§ 64 ff. BVG sieht - mit Ausnahme des angeführten § 64e BVG - von sachlich nachvollziehbaren Ausnahmen abgese-hen - nunmehr keine gravierenden Unterschiedlichkeiten mehr vor.

14 Von dieser Verfeinerung blieb indessen merkwürdig unberührt die Rechtsentwick-lung bezüglich der ost und südosteuropäischen Staaten, wie das von dem vorle-genden Gericht insbesondere hinsichtlich der vormaligen Volksrepublik Polen über die Jahrzehnte hinweg zu verfolgen war.

Nachdem vornehmlich ab den 60er Jahren ansatzweise Leistungen an die seinerzeit doch recht große Zahl der in ihrer polnischen bzw. polnisch gewordenen Heimat verbliebenen deutschen Versorgungsberechtigten als sog. "Kann-Versorgung", d. h. ohne Rechtsanspruch hierauf, bewilligt werden konnten, war dieser Verwal-tungsbereich zunächst wesenseigentümlich eher geprägt durch ministerielle Dis-tinktion als durch eine rechtlich zuweilen als fragil zu bezeichnenden Grundlage. So waren z. B. auch die verwaltungsinternen Bearbeitungsgrundlagen in der Ge-stalt der sog. "Richtlinien Ost (RilO)" anfangs nicht einmal ohne Weiteres den Ge-richten zugänglich, sondern unterlagen Geheimschutzvorschriften.

15 Grund für diese Rechtsunsicherheit, die sich notwendigerweise zu Lasten der in einem sozialistisch geprägten und Deutschen gegenüber nicht ohne historischen Grund mitunter voreingenommenen Staat leben mussten, war eine bizarre Ge-mengelage der jeweiligen und teilweise gegenläufigen innen und außenpolitischen Strömungen, gekennzeichnet zur Zeit des sog. "Kalten Kriegs", u. a. auch geprägt durch einen chronischen Devisenhunger des damaligen polnischen Regimes. Aller-dings bleibt hervorzuheben, dass, von gelegentlichen Verwerfungen abgesehen, sich auf "Arbeitsebene" im Rahmen des jeweils Möglichen eine Zusammenarbeit der deutschen und der polnischen Dienststellen verfestigen und zum Wohl der Ver-sorgungsberechtigten konnte. Allerdings blieben die Leistungen immer einge-schränkt und nahmen an der inländischen Entwicklung kaum teil.

16 Ungeachtet dessen erreichte erst mit zeitlicher Verzögerung der Rechtsstandard dieses speziellen Sektors tragfähigere Konturen. Hierzu bedürfte es allerdings auch höchstrichterlichen Anstoßes. Mit Urteil des Bundessozialgerichts vom 15. Februar 1989 (Az. 9/4b RV 27/87), dieses zurückgehend auf den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Januar 1981 (Az. 2 BvL 3, 9, 77 = BVerfGE 56, 1 aufgrund der Aussetzungs und Vorlagebeschlüsse des So-zialgerichts Stuttgart vom 26. April 1977 (Az. S 17 V 204/76) und vom 27. Sep-tember 1977 (Az. S 17 V 3490/76)) änderte der nationale Gesetzgeber alsdann durch Artikel 1 Nr. 23 durch Gesetz über die Neunzehnte Anpassung der Leistun-gen nach dem Bundesversorgungsgesetz (KOV-Anpassungsgesetz 1990 KOVAnpG 1990) vom 26. Juni 1990 (BGBl. I S. 1221) die Grundnorm § 64e BVG in einer umfassenderen Weise unter weiterer Heranführung an rechtsstaatli-che Standards die Materie neu. Die zeitlich letzte Änderung dieser Vorschrift durch Artikel 1 Nr. 17 des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes vom 11. April 2002 (BGBl. I S. 1302) bedeutete lediglich eine geringfügige redaktionel-le Anpassung.

17 Gleichwohl ist die grundsätzliche Unterschiedlichkeit der Versorgung in die ost und südosteuropäischen Staaten im Kern auch seither unberührt geblieben.

18 Wurde nun durch Einführung eines festen monatlichen Geldbetrags die versor-gungsrechtliche Grundrente aus dem Bereich des Diskretionären herausgenommen und kraft Gesetzes an die für inländische Versorgungsberechtigte gültigen Beträge angekoppelt, wenngleich nur entsprechend der oben erwähnten Ableitungssätze. Diese Abkoppelung soll nunmehr für den Einzelfall der Klägerin nach der erwähn-ten Einzelfallzusage vom 20. März 2007 keine Anwendung mehr finden.

19 Modifizierende Regelungen finden sich neben den genannten weiteren Rentenbe-standteilen nach wie vor indessen noch für Leistungen der Heilbehandlung (§ 64e Abs. 3 BVG) und Leistungen der Kriegsopferfürsorge (§ 64e Abs. 4 in Verbindung mit § 64b Abs. 1 BVG); letztere allerdings mit ministeriellem Zustimmungsvorbe-halt, wobei die Konturen dieser Zustimmung indessen nicht publik und mithin für den betroffenen Personenkreis nicht ohne Weiteres vorhersehbar sind.

20 Insbesondere hinsichtlich der Versorgung in die ost und südosteuropäischen Staa-ten waren in der Vergangenheit die Unterschiedlichkeiten nach außen hin vor-nehmlich damit begründet worden, vor dem Hintergrund eines dort weitgehend niedrigeren Einkommens und Preisgefüges bedeute ein ungekürzter Leistungs-transfer im Vergleich zu der restlichen Bevölkerung des Aufenthaltsstaats im Er-gebnis eine auch politisch unerwünschte Privilegierung und könne dort den sozia-len Frieden gefährden (s. a. amtl. Begr. zu dem KOV-Anpassungsgesetz 1990 - KOV-AnpG 1990 - in BT-Drs 11/6760, S. 13 r. Sp.).

21 Wie weit diese seinerzeitige Argumentation unter rechtlichen Gesichtspunkten tragfähig gewesen sein mag, kann vorliegend dahingestellt bleiben.

Jedenfalls stellt sich seit dem Zusammenbruch des früheren sog. "Ostblocks" und den nachfolgenden großenteils tiefgreifenden Veränderungen des gesamten dorti-gen Wirtschaftsgefüges mit notwendigen Umstrukturierungen der jeweiligen Sys-teme sozialer Sicherung, die mehr oder minder von dem Modell staatlicher Ein-heitsversorgung geprägt waren, mittlerweile eine grundlegend andere Situation dar. Hierbei ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass für einen Großteil der dorti-gen älteren Bevölkerung die geänderten Rahmenbedingungen das Leben schwieri-ger machten und machen.

22 Im vorliegenden Fall hat sich die Betrachtung alleine auf Polen zu beschränken. Die dortigen Veränderungen wurden zwischenzeitlich auch von dem deutschen Staat gesehen. Bezeichnenderweise hat inzwischen - und auch nach Rechtshängig-keit vorliegender Streitsache - sich das (deutsche) Ministerium für Arbeit und So-ziales im Sinne einer weitergehenden Berücksichtigung verschiedentlich geäußert. Wegen der dort allgemein geänderten maßgeblichen Verhältnisse soll für die Zu-kunft - wie im Übrigen auch für Ungarn - eine Leistungsanhebung in bestimmtem Umfang möglich sein. Das Grundkonstrukt der sog. Teil-Versorgung bleibt indes-sen hiervon unberührt.

Die weitere Entwicklung des nationalen Rechts bleibt abzuwarten. Gegebenenfalls mag diese dann, ausgehend vom jeweiligen Einzelfall und des jeweiligen Aufent-haltsstaats, Gegenstand weiterer gerichtlicher Streitverfahren sein.

23 Liegen diese Veränderungen der Substanz nach mehr im tatsächlichen Bereich, so sieht das vorlegende Gericht jedoch unter gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunk-ten eine grundlegend neue Problematik. Diese ist auch dadurch gekennzeichnet, dass neben Polen auch noch eine Reihe weiterer ost und südosteuropäischer Staa-ten zwischenzeitlich der EU beigetreten sind.

24 Deutsche Versorgungsleistungen nach dem BVG werden in alle diese Staaten ebenso gezahlt wie auch in die weiteren von § 1 der erwähnten Verordnung erfass-ten Staaten, die aktuell außerhalb der EU stehen. - Insgesamt erscheint es als frag-lich, ob die dargestellten Besonderheiten des nationalen deutschen Versorgungs-rechts speziell für Polen, aber auch für die anderen Beitrittsstaaten des ost und südosteuropäischen Bereichs, noch in der bisherigen Form Bestand haben können. Hierbei dürfte es in erster Linie zur Prüfung anstehen, ob die einschränkenden dar-gestellten Regelungen nicht etwa den gemeinschaftsrechtlich verbrieften Anspruch auf Freizügigkeit verletzen, indem die unterschiedliche Dotierung aufgrund ein und desselben Ausgangsgeschehens - hier: der erlittenen kompensationsberechti-genden und verpflichtenden Kriegsverletzung - einen mittelbaren Zwang darstel-len, seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt über einen gewissen Zeitraum hinweg gerade nicht in einem der erwähnten Beitrittsstaaten zu nehmen bzw. auf-rechtzuerhalten.

25 Im Fall der Klägerin besteht daneben noch ein weiteres Problem, ob hier eine diffe-renzierende Betrachtungsweise zu erfolgen hat, da sich der Tod ihres Ehemanns bereits vor dem Beitritt Polens zur EU zum 1. Mai 2004 erfolgte, allerdings schon deutlich nach Beginn der entsprechenden Beitrittsverhandlungen.

26 Das vorlegende Gericht sieht sich insbesondere auch deshalb zu seiner Anfrage bezüglich der Tragweite des Gemeinschaftsrechts veranlasst, da der Europäische Gerichtshof (EuGH) sich in seiner Entscheidung vom 26. Oktober 2006 (Rechtssa-che C 192/05 (Tas-Hagen u. Tas)) mit einer seiner Ansicht nach vergleichbaren Ausgangsproblematik befasst hat, wobei dort allerdings in erster Linie das König-reich der Niederlande und das später beigetretene Königreich Spanien angespro-chen waren.

Ebenso wie bereits mit Urteil vom 18. Juli 2006 (Rechtssache C 406/04 (De Cuy-per)) hat der EuGH, wenngleich vor dem Hintergrund eines wohl nicht direkt ver-gleichbaren Ausgangssachverhalts bereits dort dem Anspruch auf Freizügigkeit einen hohen Stellenwert beigemessen, wobei Ausnahmen einer - dort allerdings akzeptierten - speziellen Rechtfertigung bedurften.

27 Aus der Sicht des vorlegenden Gerichts erscheint indessen das erstgenannte Urteil vom 26. Oktober 2006 insbesondere deshalb als für die noch zu treffende Sachent-scheidung bedeutsam, wie nunmehr dort über den Bereich der eigentlichen Sozial-versicherungssysteme hinaus nunmehr auch noch weitere Sozialleistungssysteme in den Gemeinschaftsrechtsschutz einbezogen werden, die außerhalb der Sozialver-sicherungssysteme herkömmlicher Prägung liegen.

28 Sollte sich nach der erbetenen Prüfung durch den EuGH eine Rechtswidrigkeit der einschränkenden Regelungen des deutschen Rechts der Kriegsopferversorgung in die ost und südosteuropäischen Staaten - hier speziell: Polen - ergeben, so könnte z. B. bei Erfüllen der jeweiligen weiteren Tatbestandsmerkmale die Klägerin neben der ohnedies bereits zuerkannten Witwengrundrente auch Ausgleichsrente (monat-lich 360,00 EUR) sowie Schadensausgleich (monatlich 240,00 EUR) erwarten, deren Aus-gestaltungen vor dem Hintergrund der spezifisch auslandsbezogenen Besonderhei-ten im Einzelnen hierbei dahingestellt bleiben mögen.

29 Fallübergreifend ist für das vorlegende Gericht die erbetene Entscheidung auch deshalb von Interesse, da es sich bei der Angelegenheit der Klägerin um keinen Einzelfall handelt. Bei einer Gesamtzahl von Berechtigten der Auslandsversorgung von 15 214 wohnen alleine in Polen 5 543 Personen. Werden die Zahlen für die weiteren entsprechenden Beitragsstaaten hochgerechnet, wobei hier für das Balti-kum keine gesonderten Angaben bekannt sind, so bemisst sich der angesprochene Personenkreis auf etwa 7 500 Berechtigte, die mittlerweile zu EU-Bürgern wurden (Stand: Januar 2006; Quelle: Statistik des Bundesministeriums für Arbeit und So-ziales vom 23. März 2006 - Gz.: IVc3 46141 2/7, im Internet abrufbar).

30 Vor diesem Hintergrund bittet das vorlegende Gericht den EuGH um Erklärung der eingangs formulierten Frage.

Das ausgesetzte Ausgangsverfahren mag alsdann seinen Fortgang nehmen können.
Rechtskraft
Aus
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