L 5 B 1249/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 119 AS 15251/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 B 1249/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Beruht das Aufenthaltsrecht eines Staatsangehörigen von Litauen allein auf dem Zweck der Arbeitssuche, hat er gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.
Zweifel an der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses bestehen bei vorläufiger Prüfung im Eilverfahren nicht.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Mai 2008, mit dem der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt worden ist, wird zurückgewiesen.

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Mai 2008, mit dem die Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist, aufgehoben.

Dem Antragsteller wird für beide Instanzen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt S E, T, B, gewährt.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Antragsteller, der litauischer Staatsangehörigkeit ist, einen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) hat.

Der 1980 geborene Antragsteller zog nach eigenen Angaben erstmals im September 2000 als Tourist aus Litauen nach Deutschland. Zwischen 2001 und 2006 übte er – auch in Holland - Gelegenheitsarbeiten aus. Am 4. Februar 2005 meldete er sich polizeilich in B an. Am gleichen Tag wurde ihm auch eine Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) erteilt. Im August 2005 mietete er eine eigene Wohnung unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Anschrift. Abgesehen von einer dreitägigen Probearbeit in einer Berliner Gaststätte, für die er von April bis August 2007 als Selbständiger das Gewerbe "Serviceleistung im Gastronomiebereich" angemeldet hatte, übte der Antragsteller keine weitere Tätigkeit aus. Zur Erläuterung gab er an, von Freunden unterstützt worden zu sein. Seit dem 4. Februar 2008 ist er im Besitz einer unbefristet gültigen Arbeitsberechtigung-EU gemäß § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III).

Mit Bescheid vom 24. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. November 2007 lehnte der Antragsgegner den am 20. September 2007 gestellten Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ab. Zur Begründung hieß es, dass der Antragsteller vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei, da sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Dieser Bescheid ist Gegenstand eines Klageverfahrens bei dem Sozialgericht Berlin (S 119 AS 32541/07).

Am 2. Mai 2008 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt.

Mit Beschluss vom 30. Mai 2008, dem Bevollmächtigen zugestellt am 11. Juni 2008, hat das Sozialgericht Berlin den Antrag abgelehnt. Es bestehe kein Anordnungsanspruch. Der Antragsteller sei zwar auch als Ausländer erwerbsfähig, weil ihm eine Arbeitsberechtigung erteilt worden sei. Er sei aber nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, da er ein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten könne. Er habe weder einen Arbeitnehmerstatus erworben, noch sei er niedergelassener selbständig Erwerbstätiger. Er halte sich auch noch nicht seit fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland auf. Zweifel an der Vereinbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Recht habe die Kammer nicht. Wegen der fehlenden Erfolgsaussicht des Antrages sei auch die Bewilligung von PKH abzulehnen.

Hiergegen hat der Antragsteller am 20. Juni 2008 unter Verweis auf seine bisherigen Ausführungen Beschwerde eingelegt. Er ist der Auffassung, dass ein Ausschluss von EU-Bürgern vom Leistungsbezug mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 12 des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) und der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) nicht vereinbar sei.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Mai 2008 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, umgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes mindestens ab dem Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung – hilfsweise als Darlehen – zu gewähren, sowie ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt E für beide Instanzen zu gewähren.

Der Antragsgegner hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II. Die nach §§ 172 Abs. 1 und 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO-).

Zusammengefasst müssen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss es im Ergebnis einer Prüfung der materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller mit seinem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein wird (Anordnungsanspruch). Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung deswegen dringend geboten sein, weil es dem Antragsteller wegen drohender schwerwiegender Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

In Anlegung dieses Maßstabes sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht erfüllt. Ein Anordnungsanspruch ist nicht ersichtlich.

Gemäß § 7 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach dem SGB II. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind hiervon allerdings Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Unter diese Ausnahme fällt auch der Antragsteller.

Der Antragsteller ist litauischer Staatsangehörigkeit und damit Ausländer. Die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung folgt in seinem Fall allein aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 2.Var. FreizügG/EU, also aus dem Umstand, dass er sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten will. Andere Gründe, die ein Aufenthaltsrecht vermitteln könnten, sind nicht ersichtlich. Der Antragsteller hat jedenfalls im hier streiterheblichen Zeitraum ab Antragstellung bei Gericht am 2. Mai 2008 kein Aufenthaltsrecht als niedergelassener selbständiger Erwerbstätige gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 bzw. Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU mehr – für die Zeit vor Antragstellung bei Gericht fehlt es insoweit ohnehin an einem Anordnungsgrund. Sein Gewerbe als Selbständiger hat er nämlich bereits im August 2007 wieder abgemeldet (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU) und unstreitig auch nicht mehr als ein Jahr in Deutschland ausgeübt (§ 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU). Auch ein fortdauerndes Aufenthaltsrecht aufgrund unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung (§ 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU) liegt nach eigenen Angaben des Antragstellers schon wegen Fehlens einer Beschäftigung nicht vor. Selbst wenn man die dreitägige Probearbeit in einer Gaststätte im Mai 2007 nicht als selbständige Tätigkeit, sondern als Beschäftigung werten wollte, wäre ein dadurch begründetes Aufenthaltsrecht sechs Monate nach Eintritt der Arbeitslosigkeit erloschen (§ 2 Abs. 3 letzter Satz FreizügG/EU).

Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hat der Senat nicht. Er hat im Rahmen der im Eilverfahren erfolgten vorläufigen Prüfung insbesondere keine Zweifel daran, dass die Vorschrift europarechtskonform ist. Laut der Begründung des Gesetzgebers (BT-Drucks.16/5065, S. 234 zu Nr. 2) sollte mit dieser Vorschrift die Regelung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 158 vom 30. April 2004, S. 77 ff.) umgesetzt werden, wonach abweichend vom grundsätzlichen Gleichbehandlungsgebot aller Unionsbürger (vgl. Art. 24 Abs. 1) ein Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet ist, anderen Personen als Arbeitnehmern und Selbständigen sowie Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und deren Familienangehörigen einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.

Der Auffassung, dass diese Richtlinie im Widerspruch zu vorrangigen europäischen Rechtsvorschriften stehe und die Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II daher einschränkend ausgelegt werden müsse, vermag sich der Senat nicht anzuschließen (insoweit entgegen LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2008 – L 14 B 282/08 AS ER - und Beschluss vom 25. April 2007 - L 19 B 116/07 AS ER - ; auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juli 2008 – L 7 AS 3031/08 ER B; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 7 Rdnr. 17, 24, 25; Schreiber, info also 2008, 3 ff.)

Es ist bereits zweifelhaft, ob die Frage, wem Leistungen nach dem SGB II zustehen, überhaupt dem Anwendungsbereich des Rechts der Europäischen Union unterfällt, denn dies setzt eine entsprechende Kompetenzübertragung des deutschen Gesetzgebers voraus (vgl. zu diesem Problemkreis m. w. N. SG Reutlingen, Urteil vom 29. April 2008 - S 2 AS 2952/07, Rnr. 63-81, zitiert nach juris).

Auch wenn man indes von einer entsprechenden Regelungskompetenz der Europäischen Union ausgeht, steht europäisches Recht der Anwendung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf EU-Ausländer nicht entgegen.

Das Diskriminierungsverbot aus Art. 12 EGV (vormals Art. 6, geändert durch Vertrag von Amsterdam, ABl. C 340 vom 10. November 1997, S. 141) gilt nicht vorbehaltlos. Eine unterschiedliche Behandlung von Unionsbürgern ist dann zulässig, wenn sie durch objektive Gründe sachlich gerechtfertigt ist, worauf bereits das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat (EuGH, Urteil vom 23. Januar 1997, Rs. C-29/95 - Pastoors u. Trans-Cap GmbH - NZV 1997, 234, 235; EuGH, Urteil vom 2. Oktober 1997, Rs. C-122/96 - Saldanha u. MTS Securities Corporation - NJW 1997, 3299, 3300; auch Hessisches LSG, Beschluss vom 3. April 2008 - L 9 AS 59/08 B ER-, Rnr. 24, zitiert nach juris; SG Reutlingen a. a. O, Rnr. 87 f.). § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II führt zwar zu einer unterschiedlichen Behandlung von deutschen Bürgern und Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten. Diese ist indes gerechtfertigt, denn die Vorschrift verfolgt den – sachlichen und richtlinienkonformen - Zweck, sozialleistungsorientierte Wanderungsbewegungen zu vermeiden (vgl. Hessisches LSG und SG Reutlingen a. a. O.).

Art. 18 EGV gewährleistet jedem Unionsbürger zwar grundsätzlich Freizügigkeit, gewährt indes keinen Leistungsanspruch gegen die öffentliche Hand im Sinne eines Teilhaberechts von Unionsbürgern an sozialen Vergünstigungen des Aufenthaltsstaates (SG Reutlingen a. a. O., Rnr. 83 m. w. N; Hessisches LSG a. a. O., Rnr. 25 ff.).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des EuGH. Insbesondere der Entscheidung des EuGH vom 7. September 2004, C-456/02 - Rs- Trojani – NZA 2005, 757) lässt sich die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht entnehmen. Das SGB II war zum einen gar nicht Gegenstand der EuGH-Entscheidung, ist es doch erst 2005 in Kraft getreten (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER - Rnr. 34, zitiert nach juris). Zum anderen lag der Entscheidung ein spezifischer, nicht ohne weiteres übertragbarer Sachverhalt zugrunde (es ging um einen französischen Staatsbürger, der in einem Heim der Heilsarmee in Belgien gegen Unterkunft und Taschengeld ca. 30 Stunden pro Woche verschiedene Leistungen erbrachte, vgl. hierzu Hessisches LSG, a. a. O. Rnr. 27). Schließlich führt der EuGH in der Entscheidung gerade aus, dass ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet nicht absolut ist, sondern nur im Rahmen der im EGV und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen besteht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER - Rnr. 35, zitiert nach juris).

Die Beschwerde gegen die Ablehnung von PKH ist zulässig und begründet. Die Voraussetzungen für eine Bewilligung von PKH gemäß § 73 a SGG in Verbindung mit den §§ 114 ff. ZPO sind vorliegend für beide Instanzen erfüllt. Angesichts der widersprüchlichen Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf Unionsbürger ist das Verfahren insbesondere nicht ohne hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne der Vorschriften gewesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved