L 5 B 1425/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 101 AS 14309/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 B 1425/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Beruht das Aufenthaltsrecht eines Staatsangehörigen von Österreich allein auf dem Zweck der Arbeitssuche, hat er gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.
Zweifel an der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses bestehen bei vorläufiger Prüfung im Eilverfahren nicht.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Juni 2008 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin wird auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt S S gewährt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Antragstellerin, die österreichischer Staatsangehörigkeit ist, einen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) hat.

Die 1985 geborene Antragstellerin studierte nach eigenen Angaben von Oktober 2003 bis Februar 2007 in W an der Universität für Musik und Darstellende Kunst. Ihren eigenen Angaben nach brach sie dieses Studium ab, um mit ihrer damaligen deutschen Lebensgefährtin in B einen gemeinsamen Wohnsitz zu begründen. Nach dem Bruch dieser Beziehung mietete sie im August 2007 eine eigene Wohnung unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Anschrift.

Am 1. Oktober 2007 beantragte die Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II und bekundete gegenüber dem Antragsgegner laut eines von diesem gefertigten Gesprächsvermerks Interesse an einer Ausbildung im Bereich Film- und Tontechnik. Sie habe ein einjähriges Praktikum bei einem TV-Sender in Österreich absolviert.

Mit Bescheid vom 5. Dezember 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 2008 lehnte der Antragsgegner den Antrag mit der Begründung ab, dass die Antragstellerin als Ausländerin, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeit- bzw. Ausbildungsplatzsuche ergebe, keinen Leistungsanspruch habe.

Am 29. April 2008 hat die Antragstellerin Klage erhoben. Sie hat zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und Prozesskostenhilfe (PKH) begehrt.

Durch Beschluss vom 6. Juni 2008, dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zugestellt am 16. Juni 2008, hat das Sozialgericht Berlin der Antragstellerin für den ersten Rechtszug PKH bewilligt, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung indes abgelehnt. Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Sie sei daher gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Diese Vorschrift verstoße auch nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Europarecht. Hiergegen hat die Antragstellerin am 8. Juli 2008 Beschwerde eingelegt und zugleich PKH für das Beschwerdeverfahren beantragt.

Sie sei nicht allein zum Zweck der Arbeitsuche eingereist. Primärer Zweck sei die Bildung einer Lebensgemeinschaft mit ihrer damaligen Partnerin gewesen. Außerdem habe sie ein Aufenthaltsrecht aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit. Seit Februar 2006 und auch noch nach ihrem Zuzug habe sie über das Internet für das österreichische Medienunternehmen "O C-GmbH" als freiberufliche "Cutterin" ungefähr 18 bis 20 Wochenstunden gearbeitet und monatlich ungefähr 800 Euro verdient. Erst als diese Verdienstmöglichkeit im August und September 2007 versiegte, habe sie Leistungen beantragt.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Juni 2008 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Die nach §§ 172 Abs. 1 und 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO-).

Zusammengefasst müssen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss es im Ergebnis einer Prüfung der materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller mit seinem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein wird (Anordnungsanspruch). Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung deswegen dringend geboten sein, weil es dem Antragsteller wegen drohender schwerwiegender Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

In Anlegung dieses Maßstabes sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht erfüllt.

Gemäß § 7 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach dem SGB II. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind hiervon allerdings Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Unter diese Ausnahme fällt auch die Antragstellerin.

Die Antragstellerin ist österreichischer Staatsangehörigkeit und damit Ausländerin. Die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung folgt in ihrem Fall allein aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 2.Var. bzw. 3. Var. FreizügG/EU, also aus dem Umstand, dass sie sich zur Arbeitsuche bzw. Berufsausbildung in Deutschland aufhalten will. Andere Gründe, die ein Aufenthaltsrecht vermitteln könnten, sind nicht ersichtlich.

Die Antragstellerin hat jedenfalls im hier streiterheblichen Zeitraum ab Antragstellung bei Gericht am 29. April 2008 kein Aufenthaltsrecht als niedergelassene selbständige Erwerbstätige gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 bzw. Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU mehr – für die Zeit vor Antragstellung bei Gericht fehlt es insoweit ohnehin an einem Anordnungsgrund. Es ist bereits sehr fraglich, ob sie aufgrund der freiberuflichen Tätigkeit als Filmcutterin überhaupt als niedergelassene Erwerbstätige im Sinne der Vorschrift angesehen werden kann. Sowohl die eigentliche Erwerbstätigkeit als auch eine entsprechende Niederlassung im Sinne von Art. 43 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EGV) sind bisher nicht ausreichend glaubhaft gemacht, etwa durch Vertragsunterlagen, Abrechnungen, Kontoauszüge oder auch Gewerbeanmeldung oder Steuererklärung. In der Verwaltungsakte des Antragsgegners findet sich ebenfalls nur ein Hinweis auf ein Praktikum bei einer Filmfirma, nicht indes auf die freiberufliche Tätigkeit, die die Antragstellerin anscheinend nicht für erwähnenswert gehalten hat. Darauf kommt es indes nicht an, denn die Antragstellerin ist unstreitig seit spätestens Ende September 2007 nicht mehr erwerbstätig gewesen (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU) und hatte die Tätigkeit auch nicht mehr als ein Jahr in Deutschland ausgeübt (§ 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU). Ein fortdauerndes Aufenthaltsrecht aufgrund unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung (§ 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU) liegt schon wegen Fehlens einer Beschäftigung nicht vor, denn höchstens war die Antragstellerin selbständig tätig gewesen. Ohnehin wäre ein derart begründetes Aufenthaltsrecht im April 2008 erloschen gewesen.

Auch der Umstand, dass sie zur Begründung einer Lebensgemeinschaft mit ihrer damaligen Partnerin nach Deutschland gekommen ist, begründet kein Aufenthaltsrecht. Als gemäß § 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige gelten - unter gewissen weiteren Voraussetzungen - nur Ehegatten und Verwandte in aufsteigender bzw. absteigender Linie. Entsprechend setzt ein Aufenthaltsrecht nach § 27 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz das Bestehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft voraus.

Schließlich ist die Antragstellerin auch nicht als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin gemäß § 4 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt, denn sie verfügt gerade nicht über ausreichende Existenzmittel.

Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hat der Senat nicht. Er hat im Rahmen der im Eilverfahren erfolgten vorläufigen Prüfung insbesondere keine Zweifel daran, dass die Vorschrift europarechtskonform ist. Laut der Begründung des Gesetzgebers (BT-Drucks.16/5065, S. 234 zu Nr. 2) sollte mit dieser Vorschrift die Regelung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 158 vom 30. April 2004, S. 77 ff.) umgesetzt werden, wonach abweichend vom grundsätzlichen Gleichbehandlungsgebot aller Unionsbürger (vgl. Art. 24 Abs. 1) ein Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet ist, anderen Personen als Arbeitnehmern und Selbständigen sowie Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und deren Familienangehörigen einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Der Auffassung, dass diese Richtlinie im Widerspruch zu vorrangigen europäischen Rechtsvorschriften stehe und die Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II daher einschränkend ausgelegt werden müsse, vermag sich der Senat nicht anzuschließen (insoweit entgegen LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2008 – L 14 B 282/08 AS ER - und Beschluss vom 25. April 2007 - L 19 B 116/07 AS ER - ; auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juli 2008 – L 7 AS 3031/08 ER B; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 7 Rdnr. 17, 24, 25; Schreiber, info also 2008, 3 ff.)

Es ist bereits zweifelhaft, ob die Frage, wem Leistungen nach dem SGB II zustehen, überhaupt dem Anwendungsbereich des Rechts der Europäischen Union unterfällt, denn dies setzt eine entsprechende Kompetenzübertragung des deutschen Gesetzgebers voraus (vgl. zu diesem Problemkreis m. w. N. SG Reutlingen, Urteil vom 29. April 2008 - S 2 AS 2952/07, Rnr. 63-81, zitiert nach juris).

Auch wenn man indes von einer entsprechenden Regelungskompetenz der Europäischen Union ausgeht, steht europäisches Recht der Anwendung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf EU-Ausländer nicht entgegen.

Das Diskriminierungsverbot aus Art. 12 EGV (vormals Art. 6, geändert durch Vertrag von Amsterdam, ABl. C 340 vom 10. November 1997, S. 141) gilt nicht vorbehaltlos. Eine unterschiedliche Behandlung von Unionsbürgern ist dann zulässig, wenn sie durch objektive Gründe sachlich gerechtfertigt ist, worauf bereits das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat (EuGH, Urteil vom 23. Januar 1997, Rs. C-29/95 - Pastoors u. Trans-Cap GmbH - NZV 1997, 234, 235; EuGH, Urteil vom 2. Oktober 1997, Rs. C-122/96 - Saldanha u. MTS Securities Corporation - NJW 1997, 3299, 3300; auch Hessisches LSG, Beschluss vom 3. April 2008 - L 9 AS 59/08 B ER-, Rnr. 24, zitiert nach juris; SG Reutlingen a. a. O, Rnr. 87 f.). § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II führt zwar zu einer unterschiedlichen Behandlung von deutschen Bürgern und Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten. Diese ist indes gerechtfertigt, denn die Vorschrift verfolgt den – sachlichen und richtlinienkonformen - Zweck, sozialleistungsorientierte Wanderungsbewegungen zu vermeiden (vgl. Hessisches LSG und SG Reutlingen a. a. O.).

Art. 18 EGV gewährleistet jedem Unionsbürger zwar grundsätzlich Freizügigkeit, gewährt indes keinen Leistungsanspruch gegen die öffentliche Hand im Sinne eines Teilhaberechts von Unionsbürgern an sozialen Vergünstigungen des Aufenthaltsstaates (SG Reutlingen a. a. O., Rnr. 83 m. w. N; Hessisches LSG a. a. O., Rnr. 25 ff.). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des EuGH. Insbesondere der Entscheidung des EuGH vom 7. September 2004, C-456/02 - Rs- Trojani – NZA 2005, 757) lässt sich die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht entnehmen. Das SGB II war zum einen gar nicht Gegenstand der EuGH-Entscheidung, ist es doch erst 2005 in Kraft getreten (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER - Rnr. 34, zitiert nach juris). Zum anderen lag der Entscheidung ein spezifischer, nicht ohne weiteres übertragbarer Sachverhalt zugrunde (es ging um einen französischen Staatsbürger, der in einem Heim der Heilsarmee in Belgien gegen Unterkunft und Taschengeld ca. 30 Stunden pro Woche verschiedene Leistungen erbrachte, vgl. hierzu Hessisches LSG, a. a. O. Rnr. 27). Schließlich führt der EuGH in der Entscheidung gerade aus, dass ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet nicht absolut ist, sondern nur im Rahmen der im EGV und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen besteht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER - Rnr. 35, zitiert nach juris).

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe folgt aus § 73 a SGG in Verbindung mit den §§ 114 ff. ZPO. Angesichts der widersprüchlichen Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf Unionsbürger ist das Verfahren nicht ohne insoweit hinreichende Erfolgsaussicht gewesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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