L 13 SB 266/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 5 SB 201/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 266/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. September 2010 wird, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist, zurückgewiesen. Kosten sind für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren noch über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) für den Zeitraum vom 15. Juli 2010 bis zum 3. August 2011.

Die 1950 geborene Klägerin beantragte bei dem Beklagten am 3. Mai 2002 die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB). Nach versorgungsärztlicher Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 7. November 2002 bei ihr einen GdB von 40 fest. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) Schuppenflechte (30), b) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Osteoporose, Funktionsbehinderung des linken unteren Sprunggelenks (20), c) Harninkontinenz (10).

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, den der Beklagte nach Auswertung weiterer Befunde durch Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 2003 mit der Begründung zurückwies, die Beeinträchtigungen seien zutreffend mit einem GdB von 40 bewertet worden. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht vor.

Mit der bei dem Sozialgericht Potsdam erhobenen Klage hat die Klägerin einen GdB von 50 ab Antragstellung und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab 15. Juli 2003 begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte das Gutachten des Chirurgen Dr. B vom 7. Februar 2008 eingeholt, der folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt hat:

a) Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule, Osteoporose (20), b) Funktionsbehinderungen des oberen und unteren Sprunggelenks rechts (20), c) Schuppenflechte (30), d) Harninkontinenz (10), e) psychische Störungen.

Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" hat der Sachverständige verneint.

Auf der Grundlage der im Befundbericht der Orthopädin Dr. S vom 22. August 2009 mitgeteilten Bewegungsmaße des oberen und unteren Sprunggelenks links hat der Beklagte sich mit Schriftsatz vom 7. Mai 2010 bereit erklärt, bei der Klägerin mit Wirkung ab 11. August 2009 einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen und im Übrigen am Klagebegehren festgehalten.

Mit Urteil vom 21. September 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 für den Zeitraum vom 3. Mai 2002 bis zum 10. August 2008. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht vor, da der erforderliche GdB von 50 für die unteren Gliedmaße und die Lendenwirbelsäule weder bis zum 10. August 2008 noch danach erreicht werde.

Der Beklagte hat mit Bescheid vom 7. Oktober 2010 das Teilanerkenntnis ausgeführt und bei der Klägerin mit Wirkung ab 11. August 2009 einen Gesamt-GdB von 50 festgestellt.

Mit der Berufung hat die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab 15. Juli 2010 begehrt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Sachverständigengutachtens des Orthopäden Dr. W vom 5. August 2011. Nach der Untersuchung der Klägerin am 4. August 2011 hat der Gutachter eine weitere maßgebliche Änderung gegenüber dem Zustand der Klägerin im Juli 2010 festgestellt: Das Wirbelsäulenleiden habe zugenommen, weshalb diese Behinderung mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei. Vom Untersuchungszeitpunkt an sei der Gesamt-GdB auf 60 anzuheben und das Merkzeichen "G" zu erteilen.

Der Beklagte hat sich daraufhin mit Schriftsatz vom 9. September 2011 bereit erklärt, bei der Klägerin mit Wirkung ab 4. August 2011 an einen Gesamt-GdB von 60 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen. Die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis angenommen und im Übrigen ihr Begehren weiter verfolgt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. September 2010 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 7. November 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juli 2003 in der Fassung des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 9. September 2011 zu verpflichten, bei ihr auch für den Zeitraum vom 15. Juli 2010 bis zum 3. August 2011 das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Er hält an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist, unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage mit der angegriffenen Entscheidung zu Recht abgewiesen. Denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" für den noch streitigen Zeitraum vom 15. Juli 2010 bis zum 3. August 2011, da die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Merkzeichens bei ihr nicht erfüllt sind.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.

Denn in Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) wird angegeben, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die Anhaltspunkte beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Die in Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführten Fallgruppen liegen hier nicht vor.

Die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr im streitigen Zeitraum lässt sich nicht auf eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei der Klägerin seinerzeit keine sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestanden, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingten (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV). Den überzeugenden Darlegungen des Chirurgen Dr. B im Gutachten vom 7. Februar 2008 zufolge war für die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule einschließlich der Osteoporose sowie für die Funktionsbehinderungen des oberen und unteren Sprunggelenks rechts jeweils ein Einzel-GdB von 20 anzunehmen. Damit bestanden an den unteren Gliedmaßen und an der Lendenwirbelsäule keine Behinderungen, die unter Berücksichtigung der funktionellen Beeinträchtigungen untereinander einen GdB von 50 bedingten. Im Zeitpunkt der Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. B bestand, wie dieser ausgeführt hat, auch keine Behinderung an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkte wie beispielsweise eine Versteifung des Hüftgelenks, eine Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arterielle Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2 VersMedV).

Später hat sich, wie insbesondere aus dem Befundbericht der die Klägerin behandelnden Orthopädin Dr. S ergibt, seitens der Sprunggelenke eine Verschlechterung eingestellt. Die eingeschränkten Bewegungsmaße des oberen und unteren Sprunggelenks haben es nach der zutreffenden Einschätzung des Gutachters Dr. W erforderlich gemacht, den Einzel-GdB für die Behinderungen der unteren Gliedmaße von 20 auf 30 anzuheben. Eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens in dem die Zuerkennung des Merkzeichens "G" rechtfertigendem Ausmaß lässt sich allerdings, wie der Sachverständige in seinem Gutachten vom 5. August 2011 nachvollziehbar dargelegt hat, erst mit der zunehmenden Verschlechterung der Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin begründen. Die ausgeprägten Deformierungen, Verformungen und Achsenabweichungen, die mit den multiplen Degenerationen, vor allem der Lenden- und der Brustwirbelsäule, verbundenen unphysiologischen Schwingungen sowie die häufig rezidivierenden und Wochen andauernden ausgeprägten Wirbelsäulensyndrome führen zu einer Höherbewertung des Wirbelsäulenleidens mit einem Einzel-GdB von 30. Zwischen dieser Behinderung und den Funktionsstörungen der unteren Extremitäten liegt eine negativ wechselseitige Beziehung vor, die sich auf die Geh- und Stehfähigkeit sowie das Schmerzempfinden der Klägerin auswirkt. Schon wegen der operativen Versteifung der unteren Sprunggelenke ist ihr ein sicheres Laufen ohne Hilfsmittel nicht möglich. Zusätzlich wirkt sich die erhebliche Fehlstatik der Wirbelsäule negativ aus, welche die regionalen Beschwerden an der Lendenwirbelsäule verstärkt. Die Klägerin ist nicht mehr in der Lage, dies durch körpereigene Strukturen, vor allem den Muskelapparat, zu kompensieren.

In zeitlicher Hinsicht folgt der Senat dem Sachverständigen, der eine Höherbewertung des Wirbelsäulenleidens erst ab dem 4. August 2011, dem Zeitpunkt der Begutachtung, vorgeschlagen hat. Zwar sind Deformierungen von mehreren Wirbelkörpern bereits von Dr. B beschrieben worden. Mittlerweise hat jedoch die Fehlstatik eine substanzielle Rumpfinsuffizienz bewirkt, die auch zu einer funktionellen Verschlechterung geführt hat. Da sie in dieser Ausprägung erst durch den Sachverständigen Dr. W beschrieben worden ist, ist eine sichere Rückdatierung nicht möglich.

Nach Teil D Nr. 1d Satz 3 der Anlage zu § 2 VersMedV kann die Zuerkennung des Merkzeichens "G" auch auf innere Leiden gestützt werden, jedoch ist für deren Vorliegen hier nichts ersichtlich. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit ist insbesondere bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 4 der Anlage zu § 2 VersMedV). Funktionsbeeinträchtigungen dieser Qualität liegen bei der Klägerin nach den gutachterlichen Feststellungen nicht vor. An hirnorganischen Anfällen mit mittlerer Anfallshäufigkeit oder häufigen hypoglykämischen Schocks bei Diabetes mellitus (Teil D Nr. 1e der Anlage zu § 2 VersMedV) leidet die Klägerin ebenso wenig wie an Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen (Teil D Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache. Hinsichtlich des erledigten Teils ist berücksichtigt, dass der Beklagte auf die Verschlechterung des Gesundheitszustandes unmittelbar nach Kenntnis des Gutachtens vom 5. August 2011 mit einem Teilanerkenntnis reagiert hat.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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