L 32 AS 2345/13 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 149 AS 17414/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AS 2345/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. August 2013 aufgehoben und der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Außergerichtliche Kosten der Antragstellerin sind von der Antragsgegnerin für beide Instanzen nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung oder Beiträge aus dem Vermögen bewilligt und Rechtsanwalt D S beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die Verpflichtung der Antragsgegnerin, der Antragstellerin eine Zusicherung zur Übernahme der Mietkosten für eine von der Antragstellerin gewünschte Wohnung zu erteilen. Die im Juni 1986 geborene Antragstellerin ist schwer behindert mit einem Grad der Behinderung GdB) von 100 und dem Merkzeichen aG. Ihre Behinderung beruht auf einer infantilen hemiplegischen Zerebralparese und einem Hallux valgus rechts. Sie bezieht Grundsicherungsleistungen von der Antrags¬gegnerin. Sie wohnt bei ihren Eltern und erhält Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegestufe I. Das Bezirksamt Spandau erteilte ihr im Januar 2013 einen Wohnberechtigungs¬schein und erkannte einen Wohnbedarf für zwei Räume zuzüglich Küche und Nebenräume zu.

Den Antrag der Antragstellerin auf Zusicherung zur Übernahme der Mietkosten für die Wohnung Sstr. , 13. OG re, B lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 11. Juli 2013 ab und verwies begründend auf die Überschreitung des Richtwertes nach § 3 WAV. Überdies sei die begehrte Wohnung nicht als behindertengerecht zertifiziert und könne mithin nicht als angemessen anerkannt werden. Über den Widerspruch der Antragstellerin vom 17. Juli 2013 ist noch nicht entschieden. Ebenfalls am 17. Juli 2013 hat die Antragstellerin um einstweiligen Rechtsschutz ersucht.

Sie hat beantragt,

die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Juli 2013 im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr die Zusicherung zur Berücksichtigung der Aufwendungen für die Unterkunft in der Sstr. , 13. OG re, B zu erteilen.

Dem Antrag hat das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 23. August 2013 entsprochen, ohne indes den Bescheid aufzuheben. Wegen der Einzelheiten der Gründe wird auf den Beschluss vom 23. August 2013 Bezug genommen.

Dagegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer am 29. August 2013 erhobenen Beschwerde. Angesichts des bei einer Vorwegnahme der Hauptsache anzulegenden strengen Maßstabs lasse sich ein Anordnungsgrund nicht schon daraus ableiten, dass ein aktuell zur Verfügung stehendes Wohnungsangebot befristet sei. Zudem bestehe kein zwingender Grund für einen sofortigen Umzug. Ein Anordnungsanspruch scheide aus, weil die Kosten für die Wohnung unangemessen seien. Die alleinstehende Antragstellerin würde eine Wohnung verlangen, die mit einer Bruttowarmmiete von 530,00 EUR selbst die angemessenen Kosten für einen Zweipersonenhaushalt überschreite.

Die Antragsgegnerin beantragt,

1. den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. August 2013 aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin abzulehnen, 2. die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. August 2013 auszusetzen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde der Antragsgegnerin sowie deren Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung abzulehnen.

Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin sei völlig zu Recht ergangen. Ein Anordnungsgrund liege bereits aufgrund des Alters der Antragstellerin vor. Dieser sei es nicht länger zuzumuten, weiterhin den strengen Erziehungsmethoden ihrer Eltern ausgesetzt zu sein. Trotz ihrer körperlichen Behinderung dürfe ihr eine autonome Lebensführung nicht verwehrt werden. Die Eltern würden selbst nach permanenten Auseinandersetzungen inzwischen nach einer anderen Wohnung suchen. Die Vermieterin der gewünschten Wohnung sei nicht bereit, einen Mietvertrag ohne Zusicherung der Antragsgegnerin zu unterzeichnen. Es könne der Antragstellerin nicht zugemutet werden, bis zum Ausgang des Hauptsacheverfahrens zuzuwarten, weil bis dahin die Wohnung nicht mehr zur Verfügung stehe. Sie habe ein Recht auf Freizügigkeit nach Art. 17 der Verfassung von Berlin. Die Verweigerung der Zusicherung stelle eine Diskriminierung dar. Die Wohnung entspreche ihrem konkreten Bedarf und sei behinderungsgerecht. Es komme nicht darauf an, dass die Wohnung als behindertengerecht zertifiziert sei. Die Pflegeleistungen erhalte die Antragstellerin weiter durch ihre Mutter, weshalb es für sie notwendig sei, in räumlicher Nähe zu den Eltern zu wohnen. Als Leistungsberechtigte mit einer Behinderung stehe ihr ein Anspruch auf eine angemessene Wohnung nach § 6 Abs. 5 WAV nach Maßgabe der individuellen Behinderung zu. Schon wegen ihrer Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt sei es ihr nicht zuzumuten an den nordöstlichen Stadtrand Berlins zu ziehen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakten und die Verwaltungsakte.

II.

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig. Insbesondere ist sie nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Nach § 172 Abs 3 Nr. 1 SGG ist die Beschwerde nur ausgeschlossen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Sie ist auch begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts war aufzuheben, weil im Falle der Antragstellerin die strengen Voraussetzungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht erfüllt sind. Die von der Antragstellerin begehrte Wohnung ist unangemessen.

Weil die Antragstellerin eine Änderung des bestehenden Zustandes verlangt hat, ist die Entscheidung auf der Grundlage von § 86b Abs 2 Satz 2 SGG zu treffen. Danach kann das Gericht eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Nach zutreffender ständiger Rechtsprechung erscheint die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig, wenn die Rechtsverfolgung erhebliche Erfolgsaussicht hat (Anordnungsanspruch) und bei Abwägung der Interessen der Beteiligten die Interessen des Antragstellers an der vorläufigen Regelung diejenigen der anderen Beteiligten überwiegen und für ihre Realisierung ohne die Regelung erhebliche Gefahren drohen, also ein besonderer Eilbedarf für eine Entscheidung besteht und die besondere Eile rechtfertigt (Anordnungsgrund). Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (BVerfG, Beschlüsse vom 06.02.2013, 1 BvR 2366/12, RdNr 2, und vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, RdNr 23 mwN). Dies gilt sowohl für Anfechtungs- wie für Vornahmesachen. Die Entscheidungen dürfen sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptverfahren geltend gemachten Anspruchs (BVerfG, Beschluss vom 06.02.2013, 1 BvR 2366/12, RdNr 2). Der in Art 19 Abs 4 Satz 1 GG verankerte Anspruch des Bürgers auf eine tatsächlich und rechtlich wirksame Kontrolle verpflichtet die Gerichte, bei ihrer Entscheidungsfindung diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden sind. Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen, insbesondere durch die Betroffenheit von Grundrechten, wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (BVerfG, Beschluss vom 31. März 2004, 1 BvR 356/04 RdNr 19). Eine nur unter strengen Voraussetzungen mögliche Vorwegnahme der Hauptsache kann bei drohenden schweren und unzumutbaren Nachteilen geboten sein (BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009, 1 BvR 120/09 RdNr 17). Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nur dann vor, wenn die begehrte vorläufige Entscheidung faktisch keine vorläufige wäre, sondern einer endgültigen gleichkäme (BVerfG, Beschluss vom 03.05.12, 2 BvR 2355/10, 2 BvR 1443/11, RdNr 13). Die von der Antragstellerin gewünschte Erteilung der Zusicherung für die Übernahme der Kosten stellt eine solche endgültige Vorwegnahme der Hauptsache dar (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.11.2012, L 25 AS 2712/12 B PKH, RdNr 4).

Schwere und unzumutbare Nachteile sind auch im Lichte des Grundrechts auf Freizügigkeit und das Recht von Menschen mit Behinderungen auf autonome Lebensgestaltung im Falle der Antragstellerin nicht anzunehmen. Grundsicherungsberechtigten werden Leistungen für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II nur im Rahmen der Angemessenheit gewährt. Einen weitergehenden Regelungsgehalt hat – schon mangels gesetzlicher Ermächtigung – auch § 6 WAV nicht. Durch die Begrenzung auf angemessene Unterkunftskosten im Grundsicherungsrecht wird weder das Grundrecht auf Freizügigkeit noch das Recht auf autonome Lebensgestaltung beeinträchtigt, weil diese Rechte grundsätzlich als Abwehrrechte bestehen und, soweit sie aktive Schutz- und Gewährleistungspflichten des Staates beinhalten, im Verhältnis zur Solidargemeinschaft unangemessene Förderung nicht beinhalten können.

Die von der Antragstellerin begehrte Wohnung ist unangemessen. Sie ist abstrakt unangemessen, denn sie übersteigt die Grenzwerte selbst für einen Zweipersonenhaushalt nach der WAV, und im Übrigen auch nach dem schlüssigen Konzept der Kammern des Sozialgerichts Berlin, so dass für den vorliegenden Fall unerheblich ist, ob und inwieweit die WAV wirksam ist. Die Antragstellerin lebt indes allein, so dass für sie die Grenzwerte für Einpersonenhaushalte maßgeblich sind. Daran ändert auch der Wohnberechtigungsschein über eine Wohnung mit zwei Räumen nichts. Denn einerseits sind auch für Einpersonenhaushalte Wohnungen mit zwei Wohnräumen grundsicherungsrechtlich nicht ausgeschlossen, solange die Grenzwerte eingehalten werden. Zum anderen hat ein Wohnberechtigungsschein keinerlei grundsicherungsrechtliche Relevanz. Zudem ist (trotz der Anfrage des Sozialgerichts vom 05.08.2013) nicht substantiiert vorgetragen oder gar glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin eine Wohnung mit zwei Räumen benötigen würde. Dies ergibt sich nicht aus ihrer Pflegesituation und lässt sich auch nicht der Art ihrer Behinderung entnehmen. Nach eigenem Vortrag ist sie in der Lage, in der Wohnung anfallende Wege ohne Rollstuhl zurückzulegen. Dies würde die Nutzbarkeit einer größeren Wohnung durch sie im Rahmen der vorhandenen Fähigkeiten zwar erlauben, lässt aber keinen Schluss auf die Notwendigkeit einer größeren Wohnung zu. Weshalb die Nutzung eines Rollstuhls die Notwendigkeit eines zweiten Raumes bedingen würde, ist nicht ersichtlich; nachvollziehbar ist insofern lediglich, dass die Räumlichkeiten ein sicheres, barrierefreies Navigieren innerhalb der Räume der Wohnung erlauben müssen. Warum etwa aus der Pflegesituation ein zweiter Raum notwendig sein soll, wird nicht erkennbar.

Die Wohnung ist auch nicht im Hinblick auf die besonderen Anforderungen der Antragstellerin und den Wohnungsmarkt subjektiv-konkret angemessen. Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass angemessener Wohnraum nicht zur Verfügung steht. Insofern sind Wohnungsverschaffungs¬bemühungen, die angemessene Ein- oder Zweiraumwohnungen betreffen würden, nicht ansatzweise vorgetragen, geschweige denn glaubhaft gemacht. Der allgemeine Vortrag der Antragstellerin, geeigneter barrierefreier Wohnraum sei teurer und schwer zu finden, ist schon deswegen unzureichend, weil die Antragstellerin bislang unter der unzutreffenden Annahme, grundsicherungsrechtlich Anspruch auf eine Zweiraumwohnung zu haben, ihre Wohnungsverschaffungsbemühungen zu stark eingegrenzt hat.

Schließlich fehlt es am Anordnungsgrund. Auch wenn die Erforderlichkeit einer neuen Unterkunft der Antragstellerin selbst von der Antragsgegnerin nicht bezweifelt wird, sind keine aktuell schweren und unzumutbaren Nachteile vorgetragen. Wohnungslosigkeit droht nicht. Gefahren für Leib und Leben sind nicht ersichtlich. Dass die Antragstellerin die von ihr gewünschte Wohnung nicht wird erlangen können, ist angesichts der Unangemessenheit der Wohnung kein schwerer unzumutbarer Nachteil.

Der Antrag der Antragsgegnerin auf Aussetzung der Vollstreckung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin nach § 199 Abs 2 Satz 1 SGG ist durch diesen Beschluss erledigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt die Erfolglosigkeit der Rechtsverfolgung.

Prozesskostenhilfe war wegen der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin und ihres Obsiegens in erster Instanz zu gewähren.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved