L 16 R 406/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 5 R 46/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 406/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 2. April 2012 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die teilweise Aufhebung für die Zeit vom 1. August 2003 bis 31. Mai 2009 bewilligter großer Witwerrente und eine Erstattungsforderung in Höhe von 6.861,70 EUR.

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, bewilligte dem 1943 geborenen Kläger antragsgemäß mit Bescheid vom 29. Oktober 2002 ab 10. Juli 2002 große Witwerrente, die sie ihm ab 1. Dezember 2002 in Höhe von 317,69 EUR zuzüglich einer Nachzahlung für den davorliegenden Zeitraum laufend zahlte. Vom 1. Januar 2002 bis 31. Juni 2003 erhielt der Kläger Überbrückungsgeld nach Inanspruchnahme einer Vorruhestandsregelung, und zwar vom 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2002 in Höhe eines Zahlbetrages von insgesamt 4.727,18 EUR und vom 1. Januar 2003 bis 31. Juni 2003 in Höhe von 2.963,10 EUR. Im Juli 2003 bezog er Arbeitslosengeld in Höhe von 129,01 EUR wöchentlich. Ab 1. August 2003 gewährte ihm die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg (DRV BB) Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit in Höhe eines monatlichen Zahlbetrages von zunächst 792,22 EUR, wie sie der Beklagten im Mai 2003 mitgeteilt hatte (Bescheid vom 15. Mai 2003).

Mit Bescheid vom 6. August 2003 berechnete die Beklagte die bisherige große Witwerrente ab 1. Juli 2003 wegen einer durchzuführenden Rentenanpassung und der Änderung des auf die Rente anzurechnenden Einkommens neu und zahlte die Rente ab 1. Oktober 2003 in Höhe von 321,47 EUR aus. In der Anlage 1 zum Bescheid führte sie aus, weder für die Zeit ab 1. Juli 2003 noch ab 1. August 2003 wirke sich das Einkommen auf die Rentenhöhe unter Hinweis auf die Anlage 8 aus. Danach hatte sie der Berechnung der Hinterbliebenenrente für Juli 2003 Erwerbsersatzeinkommen (Arbeitslosengeld/Eingliederungsgeld) in Höhe von 559,04 EUR zugrunde gelegt und für die Zeit ab 1. August 2008 als Erwerbsersatzeinkommen die Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe eines monatlichen Zahlbetrags von 792,22 EUR. Dieses Einkommen sei nicht um wenigstens 10 % geringer als das bisher berücksichtigte Einkommen von 236,36 EUR, das daher weiterhin zu berücksichtigen sei, ohne den Freibetrag von 606,41 EUR zu übersteigen.

Die DRV BB teilte der Beklagten im Oktober 2003 den – nach Neufeststellung mit Bescheid vom 9. Oktober 2003 – ab 1. August 2003 maßgeblichen Rentenzahlbetrag von 1.000,26 EUR mit. Ausweislich eines internen Vermerks vom 20. Oktober 2003 ging die Beklagte für die Zeit ab 1. August 2003 unverändert davon aus, dass das Erwerbsersatzeinkommen des Klägers auch in der aktuell mitgeteilten Höhe nicht zu berücksichtigen sei.

Nachdem der Beklagten im März 2009 das seit dem 1. August 2003 erzielte Einkommen des Klägers aus einer geringfügigen Beschäftigung von monatlich 340 EUR brutto bekannt worden war, berechnete sie nach Anhörung des Klägers die bisherige große Witwerrente mit Bescheid vom 28. April 2009 ab 1. August 2003 neu und forderte für die Zeit vom 1. August 2003 bis 31. Mai 2009 die Erstattung einer Überzahlung von 6.861,70 EUR. Ausweislich der Anlage 10 zum Bescheid ("Ergänzende Begründungen und Hinweise") nahm sie zugleich den Rentenbescheid vom 6. August 2003 hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab dem 1. Juli 2005 "nach § 45 SGB X" für die Vergangenheit und für die Zukunft zurück; die entstandene Überzahlung "(vgl. Anlage 1)" sei vom Kläger zu erstatten. Der Kläger könne sich auf Vertrauen in den Bestand des Rentenbescheides nicht berufen. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 28. Dezember 2009 zurück, da weder Vertrauensschutzgesichtspunkte im Sinne des "§ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X" noch Ermessenerwägungen der Bescheidrücknahme ab dem 1. Juli 2005 entgegenständen.

Auf die am 26. Januar 2010 vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus erhobene Klage, mit der sich der Kläger sinngemäß gegen die Aufhebung und Erstattungsforderung für den Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis zum 31. Mai 2009 gewandt hat, hat das SG mit Urteil vom 2. April 2012 den Bescheid der Beklagten vom 28. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 2009 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, die Rücknahme sei rechtswidrig. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) sei das Vertrauen des Klägers, der insbesondere nicht gegen eine Mitwirkungspflicht verstoßen hätte, schutzwürdig.

Mit ihrer Berufung macht die Beklagte (zuletzt mit Schriftsatz vom 20. August 2013, auf den Bezug genommen wird) geltend, die Voraussetzungen für eine rückwirkende Bescheidaufhebung seien nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 4 SGB X erfüllt. Die vom Kläger seit dem 1. August 2003 ausgeübte Beschäftigung hätte sich seit dem 1. Juli 2005 rentenmindernd augewirkt. Der Kläger sei seiner gesetzlichen Verpflichtung, das Hinzutreten von Erwerbseinkommen unverzüglich mitzuteilen, nicht nachgekommen. Der Rücknahmebescheid sei angesichts des konkret bezifferten Rückzahlungsbetrages hinreichend bestimmt.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 2. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird den Inhalt der Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143, 144 Abs. 1, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung hat keinen Erfolg.

Zwar genügt das angefochtene Urteil des SG den sich aus § 136 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG ergebenden verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht. Soweit das SG den vom Kläger mit der statthaften Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) angefochtenen Bescheid vom 28. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 2009 aufgehoben hat, und zwar gemäß entsprechender Auslegung in Bezug auf die rückwirkende Aufhebung der Rentenbewilligung mit Bescheid vom 6. August 2003 mit Wirkung vom 1. Juli 2005 und der für den Zeitraum vom 1. August 2003 bis 31. Mai 2009 geforderten Erstattung von 6.861,70 EUR, ist dies jedoch im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Bescheid vom 28. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 2009 ist, soweit er aufgehoben worden ist, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Offenbleiben kann, ob der Bescheid vom 28. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 2009 insoweit gegen das Gebot der hinreichenden Bestimmtheit iS von § 33 Abs. 1 SGB X verstößt (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 2013 – B 5 R 16/12 R – juris Rn. 17 ff.). Zwar ist der Überzahlungsbetrag insgesamt beziffert; weder dem Verfügungssatz des gegenständlichen Bescheides noch seinem bzw. dem Inhalt des Widerspruchsbescheides kann jedoch unmittelbar entnommen werden, in welcher Höhe der jeweilige monatliche Zahlungsanspruch auf Hinterbliebenenrente rückwirkend zurückgenommen worden ist. Unabhängig davon war die Beklagte aber nicht berechtigt, die Rentenbewilligung vom 6. August 2003 für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis 31. Mai 2009 aufzuheben und eine entsprechende Erstattung von Leistungen zu fordern. Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung liegen weder nach § 45 SGB X noch nach § 48 SGB X vor.

Nach dem Regelungskonzept des SGB X und insbesondere dessen §§ 44 ff. ist ein Verwaltungsakt entweder rechtswidrig oder rechtmäßig, wofür neben den verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften das jeweilige einschlägige materielle Recht maßgebend ist (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 2007 – B U 27/06 R – juris Rn. 14). Hiernach war der Bescheid vom 6. August 2003 bereits im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig, weil die Beklagte entgegen § 97 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI idF des Gesetzes vom 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) das ihr bekannte Erwerbsersatzeinkommen des Klägers ab 1. August 2003 zu Unrecht nicht auf die Hinterbliebenenrente angerechnet hat. Soweit mit dem Bescheid vom 6. August 2003 bzw. in den beigefügten Anlagen 1 und 8 ausgeführt worden ist, das Renteneinkommen in Höhe von monatlich 792,22 EUR wirke sich auf die Rentenhöhe nicht aus, weil die Beklagte offenbar zu Unrecht davon ausgegangen ist, die Voraussetzungen von § 18b Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Viertes Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV) lägen vor, war die Rentenberechnung fehlerhaft. Denn die Witwerrente wurde nicht mit dem Bescheid vom 6. August 2003 erstmalig festgestellt, sondern war bereits aufgrund des Bescheides vom 29. Oktober 2002 ab 10. Juli 2002 festgestellt und geleistet worden, so dass das laufende Einkommen gemäß § 18 Abs. 3 Satz 1 SGB IV anzurechnen gewesen wäre.

Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender, unanfechtbarer Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese liegen jedoch nicht vor. Zwar kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit einer der in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 bis 3 SGB X genannten Umstände vorliegt. Solches ist hier jedoch nicht der Fall. Das Vertrauen des Klägers in den Bestand des Rentenbescheides vom 6. August 2003 ist in Bezug auf den von der rückwirkenden Aufhebung umfassten Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis 31. Mai 2009 schutzwürdig. Insbesondere "beruht" der Bescheid vom 6. August 2003 nicht auf Angaben, die der Kläger vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2), sondern auf einer rechtsfehlerhaften Anwendung der für die Einkommensanrechnung maßgeblichen Vorschriften.

Zwischen der Verletzung der Anzeigepflicht und der Bewilligung der Leistung muss ein Zusammenhang in der Weise bestehen, dass die rechtswidrige Leistungsgewährung wesentlich durch die Verletzung der Anzeigepflicht veranlasst worden ist ("Kausalzusammenhang"). Dies beinhaltet, dass es bei richtigen Angaben bzw rechtzeitiger Anzeige des konkret bezeichneten Umstandes nicht zu den anfänglich rechtswidrigen Leistungen gekommen wäre (vgl. BSG, Urteil vom 28. März 2013 – B 4 AS 59/12 R – juris Rn. 23 sowie BSGE 47, 28, 31 = SozR 4100 § 152 Nr 6 S 11). Rechtfertigender Grund für die auch dem Kläger auferlegten Mitteilungspflichten ist, dass diese Umstände für die fragliche Leistung rechtlich erheblich sind. Dies war nicht der Fall, weil nach der von der Beklagten vertretenen Auffassung das Erwerbseinkommen des Klägers aus der geringfügigen Beschäftigung erst ab 1. Juli 2005 (zutreffend wohl bereits ab 1. Januar 2004 gemäß § 18b Abs. 2 Satz 1 SGB IV) zu berücksichtigen gewesen wäre.

Der Vertrauensschutz entfällt auch nicht wegen zumindest grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 6. August 2003 gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X. Die Fehlerhaftigkeit musste sich dem Kläger auch nach dem Eindruck, den der Senat von ihm in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, jedenfalls angesichts des in den Anlagen 1 und 8 enthaltenen, nicht "unbeträchtlichen Zahlenwerks" (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 2013 – B 5 R 16/12 R – aaO Rn. 22) nicht aufdrängen.

Zwar kann eine Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X, die wegen Vertrauensschutzes ausscheidet, ggf als Aufhebung der Leistungsbewilligung wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X (teilweise) rechtmäßig sein (vgl. BSG, Urteil vom 28. März 2013, a.a.O. Rn. 26). Der Verwaltungsakt soll gemäß § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. § 48 SGB X ist auch auf anfänglich rechtwidrige Dauerverwaltungsakte anwendbar, wenn sich die Verhältnisse nachträglich ändern. § 45 SGB X sperrt die Aufhebung nach § 48 SGB X wegen einer nachträglichen Änderung in jenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, auf denen die (ursprüngliche) Rechtswidrigkeit nicht beruht, nicht (BSG, Urteil vom 11. April 2002 – B 3 P 8/01 R – juris Rn. 18 mwN; BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 – B 3 P 8/04 R = SozR 4-1300 § 48 Nr 6). Abgesehen davon jedoch, dass die Beklagte die mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Teilrücknahme des Rentenbescheides nicht darauf gestützt hat, der Kläger habe später anzurechnendes Einkommen erzielt, liegen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X für eine Aufhebung des Rentenbescheides vom 6. August 2003 – eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung im Sinne der Norm – auch nicht vor. Denn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheides vorgelegen haben, war – zumal zum 1. Juli 2005 – keine wesentliche Änderung eingetreten (vgl. § 48 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB X). Das monatliche Erwerbseinkommen aufgrund der geringfügigen Beschäftigung hatte der Kläger bereits durchgehend seit dem 1. August 2003 erzielt; es wäre, wie ausgeführt, ohne dass eine zwischenzeitliche Änderung der Rechtsgrundlagen hierfür maßgeblich gewesen wäre (vgl. insofern das von der Beklagten mit Schriftsatz vom 20. August 2013 zitierte Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. Januar 2004 – L 13 RJ 115/01 –), gemäß §§ 97 SGB VI, 18b Abs. 2 SGB IV bereits seit dem 1. Januar 2004 neben dem Erwerbsersatzeinkommen auf die Witwerrente anzurechnen gewesen.

Bei dieser Sachlage liegen auch die Voraussetzungen für die Erstattungsforderung gemäß § 50 Abs. 2 SGB X in Höhe von 6.861,70 EUR nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe hierfür nach § 160 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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