L 1 KR 30/14 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 89 KR 2046/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 30/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Dezember 2013 aufgehoben und die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Kosten der Behandlung der Antragstellerin mit Eigenserum-Augentropfen bis zum 31. Juli 2014, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, zu übernehmen. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Entscheidung entscheidet der Senat durch den Vorsitzenden, der auch der Berichterstatter ist (§ 155 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Dezember 2013 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 SGG zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat ihren Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig die Kosten für ihre Behandlung mit Eigenserum-Augentropfen zu übernehmen, zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist grundsätzlich dann der Fall, wenn der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen auf einem eiligen Regelungsbedürfnis fußenden Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache glaubhaft machen kann (§ 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)).

Der Antragsgegnerin ist darin zu folgen, dass zum jetzigen Zeitpunkt ohne weitere Ermittlungen nicht abschließend geklärt ist, ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Behandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Verbindung mit §§ 135 Abs. 1 und 2 Abs. 1a SGB V wegen der bei ihr diagnostizierten Erkrankungen hat. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) hat jedenfalls in seinem Gutachten vom 16. Dezember 2013 insoweit ausgeführt, dass "die Prüfung eines Leistungsanspruchs gemäß § 2 Abs. 1a SGB V erst abschließend erfolgen (könne), wenn die bestehende Erkrankung und der bisherige Behandlungsverlauf belegt" seien.

In Fällen wie diesen dürfen sich die Sozialgerichte bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen Leistungsansprüche eines Versicherten gegen eine gesetzliche Krankenkasse streitig sind, nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216); NJW 2003, 1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren; in diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 RdNr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 (73)). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, das diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 68, 193 ( 218)) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgeabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz, sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll.

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist die Antragsgegnerin vorläufig zur Leistungserbringung verpflichtet Nach der Stellungnahme von Prof. Dr. med. UP (C, Augen- und HNO Heilkunde) vom 24. Oktober 2013 liegt bei der Antragstellerin ein komplexer, schwerwiegender Krankheitsverlauf mit Aniridie, sekundäre Hornhautstammzelleninsuffizienz, Sjögren-Syndrom und Nystagmus vor. Diese, nach Darstellung des Arztes sehr ungewöhnliche Kombination, führt zu schwersten Oberflächenstörungen mit ausgeprägter Keratokonjunktivitis beidseits. Der Antragstellerin droht bei einem schweren Verlauf ihrer Erkrankungen der Verlust ihrer Sehfähigkeit. Trotz verschiedenster therapeutischer Maßnahmen hätte der Krankheitsverlauf kaum beeinflusst werden können. Allein durch Verwendung der streitbefangenen Behandlung, sei ein Stillstand der progressiven Erkrankung erreicht worden. Bei Versagen der konventionellen Therapie sei noch als einzig verbleibende Therapieoption die Serum-Augentropfen-Applikation eingesetzt worden.

Diese Gefahr für die Gesundheit der Antragstellerin und insbesondere für ihre Sehfähigkeit, die sich bei einem ungehinderten Fortgang ihrer Erkrankung nicht ausschließen lassen können, lassen eine Verpflichtung der Antragsgegnerin im vorläufigen Rechtsschutzverfahren angezeigt erscheinen, denn die Antragsgegnerin hat – dem MDK folgend – das Vorliegen der geschilderten gegenwärtigen erheblichen Gefahren für die Gesundheit der Antragstellerin nicht widerlegen können.

Den erheblichen und schwerwiegenden Gefahren für die Gesundheit und insbesondere die Sehfähigkeit der Antragstellerin stehen bei einer Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin für diese nur finanzielle Beeinträchtigungen gegenüber. Demgegenüber wiegen die Folgen für die Antragsgegnerin, die Antragstellerin für einen begrenzten Zeitraum mit krankenversicherungsrechtlichen Leistungen versorgen zu müssen, nicht schwer genug, um diese befristete Leistung versagen zu müssen.

Soweit die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren vorträgt, dass der "Sachverhalt (deshalb) noch nicht abschließend geprüft werden konnte", weil "weder die Antragstellerin noch die behandelnden Ärzte der C im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens die zur Beurteilung des konkreten medizinischen Sachverhalts notwendigen Befundberichte beigebracht" und insbesondere ein Schreiben des MDK vom 16. November 2013 noch nicht beantwortet hätten, vermag dieses Vorbringen den Anspruch der Antragstellerin nicht auszuschließen. Es ist Sache der Antragsgegnerin bereits im Verwaltungsverfahren den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch). Dem ist die Antragsgegnerin auch insoweit nachgekommen, als es bereits im Verwaltungsverfahren den MDK eingeschaltet hat. Dieser hat auch am 17. Juli 2013 ein sozialmedizinisches Gutachten erstellt. Er hat aber am 16. November 2013 Prof. Dr. med. U P (C) um Übersendung weiterer "Unterlagen und Informationen" gebeten. Dies offensichtlich deshalb, weil im Verwaltungsverfahren der Sachverhalt nicht in dem notwendigen und gebotenen Umfang aufgeklärt worden ist, um eine abschließende Stellungnahme abgeben zu können. Dieses soll und muss nunmehr im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nachgeholt werden. Dieser zeitliche Verzug kann aber nicht zu Lasten der Antragstellerin gehen, der schwere gesundheitliche Nachteile drohen.

Wegen der Vorläufigkeit der Anordnung hat der Senat diese befristet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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