L 13 SB 83/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 24 SB 190/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 83/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 23. Februar 2011 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 6. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2008 verpflichtet, bei dem Kläger mit Wirkung ab dem 1. Mai 2012 einen Grad der Behinderung von 80 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu 1/4 zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerken-nung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Der Beklagte hatte bei dem Kläger ab Januar 2005 einen GdB von 60 festgestellt. Auf den Änderungsantrag des Klägers vom 14. März 2007 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 13. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 2007 bei ihm ab Antragstellung einen GdB von 70 sowie ab 25. Oktober 2007 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" ab. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zug-runde:

a) Kunstgelenkersatz des linken Knies, Funktionsbehinderung beider Kniegelenke (50), b) Durchblutungsstörung des Gehirns, psychische Störungen (30), c) Bluthochdruck, Herzklappenfehler (20), d) Teilverlust des Magens [Dumping-Syndrom] (20), e) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (10), f) eingepflanzte Kunstlinse links (10), g) Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (10).

Hiergegen wandte sich der Kläger im Schreiben vom 3. Januar 2008, bei dem Beklagten am 7. Januar 2008 eingegangen, mit dem er vorbrachte, er habe sich im Oktober 2007 den Ober-schenkel gebrochen, und beantragte, den GdB auf 80 zu erhöhen. Am 4. Februar 2008 stellte er einen Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG".

Daraufhin holte der Beklagte das Gutachten des Chirurgen PD Dr. B vom 14. April 2008 ein, der einen GdB von 70 bestätigte. Dem Vorschlag des Gutachters folgend wies der Beklagte die Anträge mit Bescheid vom 6. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2008 zurück. Intern bewertete er hierbei die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule nunmehr mit einem Einzel-GdB von 20.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat der Kläger mit Wirkung ab 1. November 2007 die Feststellung eines GdB von mehr als 70 und der gesundheitlichen Vo-raussetzungen für das Merkzeichen "aG" begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberich-ten das Gutachten der Chirurgen Dr. B vom 6. Juli 2010 eingeholt, der nach Untersuchung des Klägers einen GdB von 70 ermittelt und die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ver-neint hat.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 23. Februar 2011, dem Gutachter folgend, die Klage abgewiesen.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger u.a. unter Vorlage der Arztbriefe des Klinikums U vom 9. Mai 2012 und des G Krankenhauses vom 26. August 2011 sein Begehren weiter.

Der Senat hat das Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. Svom 24. Juni 2013 eingeholt. Nach Untersuchung des Klägers ist der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, dass bei dem Kläger ein GdB von 70 festzustellen sei und die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" nicht vorlägen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 23. Februar 2011 zu ändern sowie den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2008 zu verpflichten, bei ihm unter Änderung der entgegenstehenden Bescheide ab dem 1. November 2007 einen Grad der Behinderung von 80 und die Voraussetzungen des Nachteilausgleichs "aG" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genom-men. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nur zum Teil begründet.

Hinsichtlich der geltend gemachten Höhe des GdB hat das Rechtsmittel des Klägers nur in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 80 lediglich mit Wirkung ab dem 1. Mai 2012.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswir-kungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum (ab dem 1. November 2007) in den Fassungen von 2005 und 2008, sowie ab 1. Januar 2009 die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze", welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.

Überzeugend hat der Allgemeinmediziners Dr. Sin dem vom Senat im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten vom 24. Juni 2013 dargelegt, dass bei dem Kläger folgende Funktions-behinderungen vorliegen:

a) Kunstkniegelenk links, Kniegelenkverschleiß rechts, Hüftgelenkverschleiß links, Oberschenkelbruchfolgen mit operativer Versorgung Oktober 2007, Lymphödem des linken Beines, morphinpflichtiges Schmerzsyndrom, Hinweise auf Nervenschädigung (polyneuropathisches Syndrom) mit einem Einzel-GdB von 50, b) abgelaufener Schlaganfall Februar 2004 (Thalamus-Infarkt), depressive Störungen mit einem Einzel-GdB von 30, c) Bluthochdruck, Erhöhung des Blutdrucks im kleinen Kreislauf (pulmonale Hyperto-nie) mit einem Einzel-GdB von 20, d) Teilverlust des Magens 1987 mit einem Einzel-GdB von 10, e) Wirbelsäulenfunktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10, f) Kunstlinse links mit einem Einzel-GdB von 10, g) Hörminderung, Ohrgeräusche mit einem Einzel-GdB von 10. h) operiertes Carpaltunnelsyndrom beidseits, Schlüsselbeinbruchfolgen nach konserva-tiv behandeltem Schlüsselbeinbruch rechts 2011, Schleimbeuteloperation der linken Schulter, Dupuytrensche Kontraktur rechts mit einem Einzel-GdB von 10, i) schlafbezogene Atmungsregulationsstörung, mit Maskenbeatmung behandelt seit Mai 2012, mit einem Einzel-GdB von 20.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.

In Übereinstimmung mit diesen Vorgaben hat der Sachverständige hieraus für den Zeitraum vom 1. November 2007 bis zum 30. April 2012 einen Gesamt-GdB von 70 gebildet. Dem schließt der Senat sich an: Der führende Einzel-GdB von 50 (Kunstkniegelenk links, Kniege-lenkverschleiß rechts, Hüftgelenkverschleiß links, Oberschenkelbruchfolgen mit operativer Versorgung Oktober 2007, Lymphödem des linken Beines, morphinpflichtiges Schmerzsyn-drom, Hinweise auf Nervenschädigung) ist im Hinblick auf den Thalamus-Infarkt und die depressiven Störungen, die mit einem Einzel-GdB von 30 anzusetzen sind, sowie den Bluthochdruck mit einem Einzel-GdB von 20 auf einen Gesamt-GdB von 70 zu erhöhen.

Die mit einem GdB von jeweils 10 zu bewerten Funktionsbeeinträchtigungen sind nicht geeignet, den Gesamt-GdB anzuheben. Denn nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zur VersMedV führen, von – hier nicht einschlägigen – Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.

Hingegen wirkt sich nach den Feststellungen des Gutachters die seit Mai 2012 mit Maskenbe-atmung behandelte schlafbezogene Atmungsregulationsstörung nachhaltig verstärkend auf die übrigen Funktionsbeeinträchtigungen aus. Deshalb ist der Gesamt-GdB von 70 ab Mai 2012 auf 80 anzuheben.

Keinen Erfolg hat die Berufung des Klägers, soweit er die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" begehrt.

Nach § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch ge-sundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von dem Kläger begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststel-lung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzu-stellen sind (siehe hierzu auch Nr. 31 der AHP bzw. Teil D Nr. 3 (S. 115f.) der Anlage zur VersMedV).

Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gege-ben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöp-fung eine Pause einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.).

Der Kläger ist zwar in seiner Gehfähigkeit beeinträchtigt, jedoch ist sein Gehvermögen nicht in so ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt, dass er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen fortbewegen kann wie der in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV genannte Personenkreis. Dies hat das Sozialgericht überzeugend dargelegt. Der Senat folgt den zutref-fenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 23. Februar 2011 und sieht nach § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Die Ermittlungen im Berufungsverfahren rechtfertigen keine abweichende Entscheidung. Der Sachverständige Dr. S hat in seinen Gutachten festgestellt, dass es dem Kläger unter Benut-zung von Unterarmgehstützen mit zumutbarer Anstrengung möglich ist, mit Pausen Gehstre-cken von ca. 400 bis 500 Meter zurückzulegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Umfang des beidersei-tigen Unterliegens.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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