L 13 SB 22/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 41 SB 1612/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 22/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. Januar 2011 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2009 verpflichtet, zu Gunsten der Klägerin einen Grad der Behinderung von 50 ab dem 29. September 2010 festzustellen. Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu 4/5 zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GbB) von 50.

Die 1964 geborene Klägerin ist verheiratet und war nach Ausübung von Bürotätigkeiten und einer Tätigkeit in der Altenpflege zuletzt als Kassiererin bei den Bäderbetrieben beschäftigt. Nach Zeiten der Arbeitslosigkeit steht sie nunmehr seit März 2013 wieder in einem Beschäftigungsverhältnis.

Nachdem aufgrund einer bei der Klägerin bestehenden Hypermenorrhoe im März 2006 die Gebärmutter entfernt werden musste, stellte der Beklagte auf Antrag der Klägerin vom 21. August 2006 mit bestandskräftigen Bescheid vom 3. November 2006 einen GdB von 40 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:

Psychische Störungen (Neurosen), Depression, psychosomatische Störungen (Einzel-GdB 30)

Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung des Schultergelenkes (Einzel-GdB 20)

Funktionsbehinderung des Kniegelenkes links, Funktionsstörung durch Fußfehlform (Einzel-GdB 10)

Bluthochdruck (Einzel-GdB 10)

Pilzerkrankung der Haut (Einzel-GdB 10)

Sehminderung (Einzel-GdB 10).

Den Änderungsantrag der Klägerin vom 10. Oktober 2008 wies der Beklagte nach Beiziehung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte mit Bescheid vom 26. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2009 zurück.

Die Klägerin hat am 12. Juni 2009 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie die Feststellung eines höheren GdB als 40 begehrt hat.

Mit Gerichtsbescheid vom 3. Januar 2011 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Der Beklagte habe in Auswertung seiner medizinischen Ermittlungen zu Recht einen GdB von insgesamt 40 festgestellt. Die hiergegen vorgebrachten Einwendungen der Klägerin würden zu keinem anderen Ergebnis führen.

Gegen den ihr am 17. Januar 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 2. Februar 2011 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.

Der Senat hat nach Beiziehung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte den Facharzt für Allgemeinmedizin und den Diplom-Psychologen B mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 29. Januar 2013 nebst ergänzender Stellungnahme vom 4. November 2013 gelangt der Sachverständige nach körperlicher Untersuchung der Klägerin vom 24. November 2012 zu der Einschätzung, dass der Gesamt-GdB mit 50 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen zu bewerten sei:

Angst und depressive Störung gemischt (Einzel-GdB 40)

Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20)

Funktionseinschränkungen der Kniegelenke (Einzel-GdB 10)

Refluxkrankheit (Einzel-GdB 10)

Blasenschwäche (Einzel-GdB 10)

Sehbehinderung (Einzel-GdB 10)

Bluthochdruck (Einzel-GdB 10)

Seit der vom 26. Februar bis zum 5. April 2008 durchgeführten Reha-Maßnahme in der S Klinken GmbH sei es zu einer Verschlimmerung der seelischen Erkrankung gekommen. Gleiches gelte hinsichtlich des bestehenden Wirbelsäulenleidens. Die Verschlimmerung vorgenannter Leiden sei spätestens durch den vorliegenden Entlassungsbericht der Reha-Klinik W vom 25. November 2010 bezüglich des dortigen stationären Aufenthaltes im Zeitraum vom 29. September bis zum 10. November 2010 dokumentiert.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Berufung für die Zeit vor dem 29. September 2010 zurückgenommen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. Januar 2011 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2009 zu verpflichten, für die Klägerin einen Grad der Behinderung von 50 ab dem 29. September 2010 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurück zuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und verweist ergänzend insbesondere auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S vom 22. Mai 2013 und 23. Januar 2014.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist in dem nach teilweiser Rücknahme der Berufung noch angefochtenen Umfang unzutreffend. Im entsprechenden Umfang ist der Bescheid des Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 ab dem 29. September 2010.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als 6 Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind für die Zeit ab dem 01. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11. Oktober 2012, festgelegten "versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung zu beachten, welche die bis dahin als antizipiertes Sachverständigengutachten geltenden, vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) abgelöst haben – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre.

Liegen dabei mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3 c der Anlage zu § 2 VersMedV (Seite 22) ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Dabei führen, von Ausnahmen abgesehen, zusätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnten, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 d der Anlage zu § 2 VersMedV, S. 22f.).

Hiervon ausgehend hat die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 ab dem 29. September 2010.

In Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Bist das bei der Klägerin führende Leiden der psychischen Erkrankung gemäß Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV, S. 42, mit 40 zu bewerten. Der Sachverständige hat insoweit nach Begutachtung der Klägerin überzeugend dargelegt, dass es zu einer Verschlimmerung des seelischen Zustandes trotz langjähriger psychotherapeutischer Betreuung bei unverändert bestehenden oral regressiven Tendenzen gekommen sei. Eine Chronifizierung sei eingetreten. Mit dem Sachverständigen ist der Senat davon überzeugt, dass diese psychische Störung als eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im Rahmen des nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen eröffneten Bewertungsrahmens (30 bis 40) nunmehr als am oberen Rand stehend zu bewerten ist. Die hiergegen vorgebrachten Einwendungen der Versorgungsärzte vermögen nicht zu überzeugen. Mit ihnen wird im Wesentlichen allein die - für die Bewertung von Funktionseinschränkungen irrelevante – Diagnosestellung des Sachverständigen in Frage gestellt. Überdies ist gerade im Bereich psychischer Erkrankungen der persönliche Eindruck, den ein Sachverständiger nach Anamneseerhebung und Begutachtung gewonnen hat, für die Bewertung des GdB von entscheidender Bedeutung. Umstände, die die Bewertung als fehlerhaft erscheinen lassen, ergeben sich zur Überzeugung des Senats nicht.

Unter Berücksichtigung des orthopädischen Leidens (Wirbelsäule), das nach den Ausführungen des Sachverständigen in Übereinstimmung mit den übrigen medizinischen Bewertungen einen GdB von 20 auch zur Überzeugung des Senats rechtfertigt, ist unter Berücksichtigung der Wechselwirkung mit der psychischen Erkrankung der insoweit festgestellte GdB von 40 um einen 10-er Grad auf 50 zu erhöhen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie entspricht dem wechselseitigen Obsiegen/Unterliegen der Beteiligten.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.
Rechtskraft
Aus
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