L 18 AS 1429/14

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 109 AS 21540/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1429/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.
Der Kläger begehrt im Zugunstenverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) die Rücknahme eines Absenkungsbescheides des Beklagten für die Zeit vom 1. November 2009 bis 31. Januar 2010 und die Auszahlung der gekürzten Regelleistungen.

Der Beklagte hatte das dem seinerzeit im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) stehenden Kläger gewährte Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. November 2009 bis 31. Januar 2010 iHv 10 vH der maßgebenden monatlichen Regelleistung (= 36,- EUR monatlich) abgesenkt (Bescheid vom 14. Oktober 2009) und entsprechend gekürzte Leistungsbeträge ausgezahlt.

Im Juni 2012 beantragte der Kläger die Überprüfung dieses Bescheides nach § 44 SGB X. Der Beklagte lehnte eine Rücknahme des Bescheides vom 14. Oktober 2009 unter Hinweis auf § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II iVm § 44 Abs. 4 SGB X mit der Begründung ab, dass Überprüfungsanträge nur noch bis ein Jahr "vor der Antragstellung (Ausschlussfrist) gestellt werden" könnten (Bescheid vom 22. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2012).

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme des Bescheides vom 14. Oktober 2009 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 31. März 2014). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Im Hinblick auf die einjährige Ausschlussfrist in § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II habe der Kläger keinen Anspruch auf Rücknahme des Sanktionsbescheides vom 14. Oktober 2009. Die Minderungsentscheidung betreffe auch die Erbringung von Sozialleistungen iSv § 44 Abs. 4 SGB X. Es handele sich bei dem Sanktionsbescheid auch insbesondere nicht um einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid, bei dem nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Verfallfrist nicht anwendbar sei.

Mit der vom SG zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er trägt vor: Die Ausschlussfrist des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II sei hier nicht einschlägig, da er nicht die rückwirkende Bewilligung von Leistungen begehre, sondern die Aufhebung einer Sanktion. Die ursprünglich in voller Höhe bewilligten Leistungen seien "gewährt" und erst nachträglich durch die Sanktion "blockiert" worden. Die Aufhebung des Absenkungsbescheids hätte im Übrigen zur Folge, dass auch die nachfolgende Sanktion vom 30. Oktober 2009 für die Zeit vom 1. Dezember 2009 bis 31. Januar 2010 (20 vH) niedriger ausgefallen wäre.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2014 und den Bescheid des Beklagten vom 22. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 7. August 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Bescheid vom 14. Oktober 2009 aufzuheben und die gekürzten Leistungen auszuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Die Gerichtsakten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.
Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung des Klägers durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (vgl § 153 Abs 4 Satz 2 SGG).

Die Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Der Kläger hat gegen den Beklagten im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X keinen Anspruch auf Rücknahme des Sanktionsbescheides vom 14. Oktober 2009, mit dem der Beklagte die dem Kläger bewilligte Regelleistung für die Zeit vom 1. November 2009 bis 21. Januar 2010 iHv 10 vH der maßgebenden Regelleistung abgesenkt hatte, und Zahlung weiterer Regelleistungsbeträge für die Zeit vom 1. November 2009 bis 31. Januar 2010 iHv insgesamt 108,- EUR.

Nach dem Wortlaut des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die letztgenannte Tatbestandsalternative wäre erfüllt, wenn der Sanktionsbescheid vom 14. Oktober 2009 rechtswidrig wäre. Denn dann hätte der Beklagte die Absenkungsbeträge für den in Rede stehenden Zeitraum "zu Unrecht nicht erbracht". Nach § 44 Abs. 4 S 1 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme eines Verwaltungsaktes erbracht, wenn der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Der Zeitraum der Rücknahme wird von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (Abs. 4 Satz 2)Für die Berechnung tritt nach Satz 3 an die Stelle der Rücknahme der Antrag, wenn dieser zur Rücknahme führt. Diese Regelungen werden durch § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der Weise modifiziert, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist nach der Übergangsregelung in § 77 Abs. 13 SGB II - hier mit Rücksicht auf den im Juni 2012 gestellten Antrag nicht einschlägig - nicht anwendbar auf Anträge nach § 44 SGB X, die vor dem 1. April 2011 gestellt worden sind

Zu der Aufhebung des Sanktionsbescheides vom 14. Oktober 2009 ist der Beklagte ungeachtet der Frage, ob dieser – bestandskräftige - Bescheid rechtswidrig war, somit schon deshalb nicht verpflichtet, weil die rückwirkende Gewährung der Absenkungsbeträge nach § 44 Abs. 4 SGB X iVm § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist. Das BSG, dessen Rechtsprechung der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt, hat die Regelung des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X über ihren engen Wortlaut hinaus dahin ausgelegt, dass bereits die Rücknahme des belastenden Verwaltungsaktes bei Eingreifen der "Verfallklausel" des § 44 Abs. 4 SGB X "schlechthin" ausgeschlossen ist (BSGSozR 3-1300 § 44 Nr 1; BSG SozR 3-6610 Art 5 Nr 1; bestätigt durch BSG, Urteil vom 13. Februar 2014 – B 4 AS 19/13 R = SozR 4-1300 § 44 Nr 29). Die Verwaltung hat dementsprechend schon eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für eine Zeit betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist liegen. Die zwingend anzuwendende Vollzugsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X steht folglich für länger zurückliegende Zeiten bereits dem Erlass eines Rücknahme- und Ersetzungsaktes entgegen. In diesem Falle darf die Verwaltung einen den Anspruch nach § 44 SGB X vollziehenden Verwaltungsakt nicht erlassen (BSGSozR 3-1300 § 44 Nr 1 S 3), denn bereits die Rücknahme steht unter dem Vorbehalt, dass Leistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X noch zu erbringen sind (so etwa BSG, Urteil vom 28 Februar 2013 - B 8 SO 4/12 R - juris)

Eine entsprechende Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X iVm § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II setzt voraus, dass – wie vorliegend - infolge der unrichtigen Entscheidung Sozialleistungen nicht erbracht worden sind (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 19; vgl auch schon BSGE 68, 180 = SozR 3-1300 § 44 Nr 1). Ausgeschlossen ist die Anwendung, soweit eine Erstattungsforderung des Leistungsträgers gegen einen Leistungsbezieher über eine bestimmte Geldsumme streitig ist (vgl BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 19; BSG, Urteil vom 23. Februar 2014 – B 4 AS 19/13 R -). Danach rechtfertigt es insbesondere der Zweck der Vorschrift nicht, sie auch auf Fälle auszudehnen, in denen es nicht um rückwirkend zu erbringende Sozialleistungen geht. Denn der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift lediglich die materiell-rechtliche Begrenzung rückwirkender Leistungsansprüche prinzipiell für vier Jahre regeln (BT-Drucks 8/2034 S 34). Vorliegend ist indes nicht die Rücknahme eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides streitig. Denn der Kläger fordert die rückwirkende Gewährung von Sozialleistungen, nicht die Rückzahlung eines zu Unrecht geleisteten Erstattungsbetrages, den der Beklagte rechtswidrig erlangt hätte. Der Kläger begehrt im Zugunstenverfahren nach Rücknahme des entgegenstehenden Sanktionsbescheides letztlich rückwirkend die Zahlung der Kürzungsbeträge, dh Sozialleistungen für die Zeit vor der Rücknahme des Bescheides iSv § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Damit ist hier § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II einschlägig, der einer nachträglichen Erbringung von Leistungen im Hinblick auf den erst im Juni 2012 gestellten Überprüfungsantrag für die Zeit vor dem 1. Januar 2011 entgegensteht.

Für eine isolierte Aufhebung des Sanktionsbescheides besteht auch vor dem Hintergrund kein Rechtsschutzbedürfnis, dass der Kläger mit Wirkung vom 1. Dezember 2009 mit einer weiteren Sanktion, nunmehr iHv 20vH der maßgebenden Regelleistung, belegt worden war. Denn auch dieser Sanktionszeitraum (Dezember 2009 bis Januar 2010) lag außerhalb der Frist des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen im Hinblick auf die höchstrichterlich geklärte Rechtslage nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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