Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 32 R 2163/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 R 287/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2013 sowie der Bescheid der Beklagten vom 16. November 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10. Januar 2011 werden geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin nach einem Leistungsfall am 09. September 2011 ab dem 01. April 2012 bis zum 31. März 2015 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte erstattet der Klägerin deren notwendige Auslagen des gesamten Verfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1965 geborene Klägerin durchlief Ausbildungen zur Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin und Einzelhandelskauffrau im Elektro- und Eisenwarenhandel. Sie verfügt über keinen Berufsabschluss. Sie war zuletzt als Sortiererin tätig. Sie gebar 1994 und 2000 zwei Söhne, welche sie alleine groß zog bzw. zieht. Sie steht seit März 2005 im Bezug von Arbeitslosengeld II.
Einen ersten Rentenantrag der Klägerin vom 31. Mai 2005 lehnte die Beklagte nach Einholung zweier jeweils aufgrund ambulanter Untersuchung erstellter Gutachten des Psychiaters G vom 29. Juli 2005 (Diagnose: Anpassungsstörung; Leistungsbild: vollschichtiges Leistungsvermögen) und des Chirurgen und Sozialmediziners P vom 11. August 2005 (Diagnosen: Cervicalneuralgie, Omalgie rechts bei Periarthropathie, Gonalgie rechts bei Chondropathie, Gonarthrose, Epicondylitis humeroradialis rechts, anhaltende somatoforme Schmerzstörung; Leistungsbild: vollschichtiges Leistungsvermögen bei näher bezeichneten qualitativen Leistungseinschränkungen) mit Bescheid vom 25. August 2005 ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2005 als unbegründet zurück. Das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin (SG) zum gerichtlichen Aktenzeichen S 14 R 325/06 endete nach Einholung eines auf ambulanter Untersuchung der Klägerin beruhenden schriftlichen Sachverständigengutachtens des Orthopäden Dr. P vom 10. Dezember 2007 mit einem von den Beteiligten am 16. Juni 2009 geschlossenen Vergleich, in welchem sich die Beklagte zur Erbringung einer Rehabilitationsmaßnahme verpflichtete.
Die Klägerin durchlief vom 13. Juli bis zum 10. August 2010 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme an der B Klinik, Abteilung Psychosomatik. Laut ärztlichem Entlassungsbericht vom 21. September 2010 wurden chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Angst und depressive Störung gemischt, Zervikobrachial-Syndrom, Rückenschmerzen im Lumbalbereich und initiale Gonarthrose rechts diagnostiziert. Es wurde der Klägerin vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Arbeiten bei weiteren näher beschriebenen qualitativen Leistungseinschränkungen unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts bescheinigt. Die letzte Tätigkeit als Sortiererin sei der Klägerin nicht mehr zumutbar. Die psychosoziale Konfliktsituation wurde dahingehend beschrieben, dass die Klägerin vor dem Hintergrund eines strengen Elternhauses, traumatischen Missbrauchserlebnissen durch den Nachbarn sowie ihres biographischen Werdegangs schon frühzeitig zwanghafte Verhaltensweisen und eine selbstunsichere, schizoide Persönlichkeitsstruktur entwickelt zu haben scheint. Es sei wegen akut exzerpierter somatischer Beschwerdesymptomatik, deutlich begrenzter Introspektionsfähigkeit und massiver Überforderungsgefühle zu einer deutlichen Stagnation des therapeutischen Prozesses gekommen, weshalb es mit ärztlichem Einverständnis zu einer vorzeitigen Entlassung aus der medizinischen Rehabilitation gekommen sei.
Die Klägerin erneuerte mit ans SG gerichtetem und an die Beklagten weitergeleitetem Schreiben vom 06. September 2010 ihr Rentenbegehren. Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente mit Bescheid vom 16. November 2010 mangels Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen ab und wies den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin vom 13. Dezember 2010 mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2011 als unbegründet zurück.
Die Klägerin hat ihr Rentenbegehren mit bei der Beklagten am 12. Februar 2011 eingereichtem Schreiben vom 10. Februar 2011 weiterverfolgt und mit Schreiben vom 13. März 2011 gegenüber der Beklagten bestätigt, dass es sich beim Schreiben vom 10. Februar 2011 um eine Klageschrift handeln solle. Die Beklagte leitete den Vorgang mit Schreiben vom 29. März 2011 ans SG weiter.
Das SG hat Befundberichte des Chirurgen Dr. von S vom 24. Juni 2011 sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 12. September 2011 eingeholt, welcher u.a. berichtet hat, die Klägerin zuletzt am 09. September 2011 untersucht zu haben. Er hat als Diagnosen u.a. allgemeines degeneratives Wirbelsäulen- und Gelenksyndrom, chronisches depressives Syndrom, Schlafstörungen, psychisch-physisches Erschöpfungssyndrom gestellt. Das komplexe Krankheitsbild sei deutlich progredient.
Das SG hat das auf einer ambulanten Untersuchung der Klägerin beruhende schriftliche Sachverständigengutachten des Orthopäden Dr. Dr. Z vom 24. November 2011 eingeholt. Dieser hat Wirbelsäulenverschleiß-Prolapsfolgen, Wirbelsäulenfehlstatik mit Neigung zu Nervenwurzelreiz-Syndromen im Bereich der oberen und unteren Extremitäten sowie multiple reversible Störungen mit Tendinosen wie Blockierungen, polyarthralge Beschwerden der großen und kleinen Körpergelenke mit geringem Gelenk-Knorpel-Verschleiß sowie Weichteilaffektionen an Hand- und Fingergelenken, Schultern, Ellenbogen und Kniegelenken, unkomplizierte Venopathie der unteren Extremitäten, geringe Adipositas und eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert und der Klägerin in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09. Dezember 2011 bei näher bezeichneten qualitativen Leistungseinschränkungen vollschichtiges Leistungsvermögen bescheinigt.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 25. Februar 2013 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die tatsächlichen bzw. medizinischen Voraussetzungen einer teilweisen oder vollen Erwerbsminderung lägen nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen nicht vor.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 30. März 2013 zugestellte Urteil am 29. April 2013 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass aus der Vielzahl der bei ihr bestehenden Leistungseinschränkungen ihre Arbeitsunfähigkeit folge.
Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. November 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10. Januar 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat das schriftliche Sachverständigengutachten des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie Prof. Dr. S vom 12. November 2013 eingeholt, welches dieser nach einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 05. November 2013 erstellt hat. Er hat auf orthopädisch-rheumatologischem Fachgebiet eine leichte Fehlform des Achsorgans mit geringgradigen Nervenwurzelreizerscheinungen diagnostiziert und Hinweise auf eine schwere somatoforme Schmerzstörung gesehen, welche allerdings von einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie begutachtet werden müsse. Die Klägerin habe bei der Untersuchung erhebliche Beschwerden am gesamte Stütz- und Bewegungsapparat angegeben; es bestehe ein deutlicher Leidensdruck ohne Aggravations- oder Simulationsverhalten. Die neurologisch-psychiatrische Voruntersuchung aus dem Jahr 2005 entspreche nicht mehr der heutigen Befundsituation. Es sei damals eine depressive Stimmungslage diagnostiziert und eine deutliche psychische Komponente im Beschwerdeerleben nicht ausgeschlossen worden. Es scheine mittlerweile zu einer erheblichen Verstärkung der seelischen Erkrankung gekommen zu sein, möglicherweise im Rahmen der täglichen Belastungen. Die auf orthopädischem Gebiet festgestellten Gesundheitsstörungen schränkten die Erwerbsfähigkeit indes für sich betrachtet nicht ein und gefährdeten diese auch nicht erheblich. Die Klägerin könne aus orthopädischer Sicht bei näher bezeichneten qualitativen Leistungseinschränkungen unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts vollschichtig tätig sein.
Der Senat hat sodann das auf einer ambulanten bzw. auch testpsychologischen Untersuchung der Klägerin beruhende schriftliche Sachverständigengutachten der Fachärztin für Neurologie Dr. H vom 18. April 2014 eingeholt. Diese hat bei der Klägerin eine chronische Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit Angst und Depressionen gemischt, diagnostiziert. Differentialdiagnostisch seien auch die Symptome einer Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung zu finden, wobei die genaue diagnostische Zuordnung für die krankheitsbedingten funktionellen Einschränkungen nicht entscheidend sei. Nebenbefundlich sei neurologisch die Diagnose einer Polyneuropathie (PNP) mit eingeschränkter Gefühlswahrnehmung der Beine zu stellen, wofür eine weitere Abklärung erforderlich sei, was auch für einen arteriellen Hypertonus und eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Hüftgelenks gelte. Die PNP und die allgemeinmedizinischen Befunde führten allenfalls zu qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit. Hauptdiagnose sei die schwere psychische Erkrankung, welche aufgrund einer massiv eingeschränkten psychophysischen Belastbarkeit aktuell und auf nicht absehbare Zeit die quantitative Leistungsfähigkeit vollständig aufhebe, und zwar spätestens ab dem Zeitpunkt der von Dr. S laut dessen Befundbericht vom 12. September 2011 zuletzt vorgenommenen Untersuchung der Klägerin.
Die Beklagte ist dem Gutachten von Dr. H mit einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Psychiaters G vom 27. Mai 2014 entgegen getreten, wonach psychologische Tests nicht für die Verwendung in einem Streitverfahren zugelassen und validiert seien. Die fehlende Inanspruchnahme fachpsychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung könne Ausdruck eines mangelnden Leidensdrucks oder eben auch einer fehlenden Introspektionsfähigkeit sein, wie sie in der Rehaklinik B festgestellt worden sei, wobei anzumerken sei, dass sich die Rehaklinik auf die Behandlung von PTBS spezialisiert habe. Das Vollbild einer PTBS lasse sich hier nicht nachweisen. Aktuell fehlten flash backs (sich aufdrängende Rückerinnerungen) sowie Meideverhalten; gegen eine PTBS spreche, dass die Klägerin spontan allein den Ort ihrer Erlebnisse aufgesucht haben wolle. Die Klägerin könne ihren Drei-Personen-Haushalt ohne Unterstützung führen.
Der Senat hat daraufhin die ergänzende Stellungnahme von Dr. H vom 24. Juni 2014 eingeholt. Darin hat sie ausgeführt, der Psychiater G habe die Klägerin im Mai 2005 eine Stunde lang untersucht, ohne testpsychologische Verfahren einzusetzen. Laut damaligem psychischem Befund sei die Klägerin offensichtlich deutlich stabiler gewesen als zum Zeitpunkt der jetzigen, fünf Stunden währenden Untersuchung. Damals sei – ausgehend vom damals erhobenen psychischen Befund - nachvollziehbar die minderschwere Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt und keine Erwerbsminderung festgestellt worden, auch wenn schon damals vor dem Hintergrund der auffälligen Biographie eine schwerwiegende psychische Erkrankung habe vermutet werden können. Mittlerweile sei eine deutliche Verschlechterung eingetreten. Testpsychologische Untersuchungen seien auch im Rahmen der sozialgerichtlichen Begutachtung zulässig, wobei richtig sei, dass Selbsteinschätzungen durch die Probanden manipulierbar seien und daher nicht zur Diagnosestellung verwendet werden dürften. Deshalb seien auch mehrere, wissenschaftlich etablierte Simulationstest angewandt worden. Soweit seitens der Beklagten angeführt werde, dass die Klägerin sich bisher nicht in fachspezifische Behandlung begeben habe, sei die Klägerin – wie im Gutachten berichtet – hierauf angesprochen worden, was zu einem massiven affektiven Einbruch geführt habe. Entsprechendes sei beim Führen eines Schmerztagebuchs zu beobachten gewesen. Die Klägerin habe als Kind bzw. Jugendliche durch Missbrauch und Vergewaltigung für die Auslösung einer PTBS geeignete Erlebnisse gehabt. Dass aktuell keine flash backs mehr erlebt würden, spreche nicht gegen die Diagnose, zumal diese aus der Vergangenheit berichtet würden. Vermeidungsverhalten werde von der Klägerin sehr wohl gezeigt. Differentialdiagnostisch sei wie gesagt auch eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung zu diskutieren. Auch laut dem rheumatologischen Gutachten von Prof. Dr. S seien ein erheblicher Leidensdruck, psychische Instabilität und eine erhebliche Verstärkung der seelischen Erkrankung aufgefallen. Aggravations- und Simulationsverhalten seien von ihm explizit verneint worden. Dass die Klägerin ihren Alltag noch bewältigen könne und dass dies ein Beleg für eine unbeeinträchtigte Leistungsfähigkeit sei, treffe nicht zu. Bei der Schilderung des Tagesablaufs würden glaubhaft regelmäßige Pausen nach kurzer körperliche Beanspruchung angegeben. Dies decke sich mit den Angaben im Schmerztagebuch. Die Klägerin sei eine sehr verantwortungsbewusste Frau, die als Alleinerziehende völlig allein für die Versorgung ihrer beiden Söhne zuständig sei. Schon deswegen werde der Haushalt von ihr unter Schmerzen geführt, weil sie gar keine Alternative hierzu habe. Freizeitaktivitäten oder soziale Kontakte existierten nicht mehr. Dass die Klägerin noch einen Rest Alltagsfunktion auf Kosten der Gesundheit aufrecht erhalte, lasse nicht den Schluss auf eine noch vorhandene Leistungsfähigkeit zu.
Die Beklagte hat eine weitere beratungsärztliche Stellungnahme des Psychiaters G vom 28. Juli 2014 vorgelegt, in welcher er bei seinem bisherigen Standpunkt bleibt. Eine weitere psychiatrisch-neurologische Begutachtung sei nicht erforderlich.
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 17. und 18. September 2014 einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle des Senats im Wege schriftlicher Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungs- und Rehabilitationsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Berichterstatter kann, weil die vorliegende Streitsache weder besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist noch von grundsätzlicher Bedeutung ist, in Ausübung des insofern eröffneten richterlichen Ermessens anstelle des Senats im schriftlichen Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, vgl. §§ 155 Abs. 3 und 4, 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Voraussetzungen des als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden § 43 Abs. 2 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) sind erfüllt.
Nach § 43 Abs. 2 S. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 S. 2 Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 S. 3 SGB VI auch behinderte Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können (Nr. 1), und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt (Nr. 2). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist dagegen nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Dies zugrunde steht das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen der vollen Erwerbsminderung gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 SGG zur Überzeugung des Senats bei einem spätestens am 09. September 2011 eingetretenen Leistungsfall fest. Denn die Klägerin ist allein schon angesichts der bei ihr auf psychiatrisch-neurologischem Fachgebiet festgestellten Leiden und unter Beachtung der daraus folgenden Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Hierfür bezieht sich der Senat vor allem auf die überzeugenden, weil auf einer umfassenden Befunderhebung beruhenden, schlüssigen Ausführungen der Neurologin Dr. H in ihrem im Berufungsverfahren eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten vom 18. April 2014 und in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 24. Juni 2014. Dr. H hat bei der Klägerin eine schwere psychische Erkrankung festgestellt und diese als chronische PTBS mit Angst und Depressionen bzw. differentialdiagnostisch als Ausdruck einer Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung gedeutet. Die Diagnose einer PTBS lässt sich hier in der Tat nach den Klassifikationssystemen DSM IV oder auch ICD-10 mit der Einschränkung stellen, dass es aktuell wohl (nur) am sog. B-Kriterium fehlt. Es fehlt nach beiden Klassifikationssystemen indes nicht schon am sog. A-Kriterium. Gemäß DSM IV 309.81 muss die Person mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert sein, welches dazu führte, dass die Person eines oder mehrere Ereignisse erlebte, beobachtete oder mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert war, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen enthielten, wobei die Person mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen reagierte. Dieses Kriterium wird im einschlägigen arbeitsmedizinischen Schrifttum dahingehend verstanden, dass Auslöser ein traumatisches Ereignis von besonderer Qualität mit einem extremen Belastungsfaktor (nach DSM IV lebensbedrohlich) sein muss (vgl. differenzierend etwa Foerster, in: MED SACH 106 1/2010, S. 16 (18)). Nach ICD-10 F43.1 müssen die Betroffenen einem kurz oder lang dauernden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt seien, dass nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde. Nach alldem kommen als Stressoren in Betracht: Ernsthafte Bedrohung oder Schädigung der eigenen körperlichen Integrität, des Ehepartners, der Kinder, naher Verwandter oder Freunde, plötzliche Zerstörung des Zuhauses, erleben eines Unfalls bzw. Todes anderer. Eben hiervon ausgehend nimmt Dr. H in ihrem gerichtlichen Sachverständigengutachten und ihrer ergänzenden Stellungnahme überzeugend an, dass die in der Kindheit und Jugend erfahrenen Missbräuche und Vergewaltigung der Klägerin ausreichend traumatisierend waren. Mithin gelangt sie nachvollziehbar zur Einschätzung, dass die Klägerin das A-Kriterium erfüllt. Auch für das geforderte sog. B-Kriterium, welches sich sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM IV als intrusives (aufdringliches) Wiedererleben beschreiben lässt, geben die bei der Klägerin durch Dr. H erhobenen Befunde für die Vergangenheit, wenn auch nicht gegenwärtig genügend her. Das B-Kriterium setzt voraus, dass Alpträume, sich aufdrängende Erinnerungen oder flash backs vorliegen, wobei Intrusionen und flash backs als entscheidende Leitsymptome anzusehen sind. Dieses Phänomen muss diagnostisch eng gefasst werden. Unspezifische psychische Reaktionen, etwa Gedanken an das Ereignis, Erinnerungen, dem Ereignis nachzuhängen oder darüber nachzugrübeln, reichen nicht aus (Foerster, a.a.O., S. 16 (18)). Die Klägerin hat im Rahmen der von Dr. H festgehaltenen biographischen Angaben spontan – so, wie dies Dr. H in ihrem Gutachten darstellt, in einer für die Annahme des B-Kriteriums hinreichenden Weise - von Alpträumen berichtet, in welchen Fahrstühle vorkamen, und zwar als die Orte, an welchen die Misshandlungen durch einen Nachbarn stattgefunden hatten. Auch erlaubt die Exploration – entgegen der Einschätzung der Beklagten - den Rückschluss auf das Vorliegen des sog. C- Kriteriums (Vermeidung traumarelevanter Reize bzw. reduzierte emotionale Reagibilität). Hier verweist Dr. H darauf, dass die Klägerin eine Therapie trotz wiederholter Empfehlung unterließ, weil sie das damit verbundene Wachrufen ihrer Erinnerung ihren eigenen glaubhaften Angaben zufolge nicht ertrüge; dies bestätigt sich nach den hier anschließenden Ausführungen von Dr. H dadurch, dass die Klägerin beim Ansprechen der damaligen Ereignisse dermaßen von Angst überflutet wird, dass ihr ein rationaler Umgang damit nicht möglich ist. Der von Dr. H erhobene psychopathologische Befund vermittelt auch greifbare Anknüpfungspunkte für die Annahme des sog. D-Kriteriums, welches am unspezifischsten ist (Foerster, ebd.). Dr. H vermag hierzu nicht nur auf Ein– und Durchschlafstörungen zu verweisen, sondern eben auch auf die offen zu Tage tretende Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern, sowie auf Konzentrationsschwierigkeiten.
Von einer definitiven diagnostischen Einordnung der psychischen Erkrankung hat Dr. H mit der zutreffenden Erwägung abgesehen, dass eine solche für die krankheitsbedingten funktionellen Einschränkungen nicht entscheidend ist. Neben einer wohl auch bestehenden PNP mit eingeschränkter Gefühlswahrnehmung der Beine, einem arteriellen Hypertonus sowie einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Hüftgelenks, welche allenfalls zu qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit führen, erblickt Dr. H nachvollziehbar die Hauptdiagnose gleichwohl in der schweren psychischen Erkrankung der Klägerin. Diese ist auch für das Leistungsvermögen der Klägerin am relevantesten. Ausgehend von der von ihr im Gutachten festgehaltenen Exploration der Klägerin verweist Dr. H überzeugend auf eine derart ausgeprägte Affektlabilität und Einschränkung der Belastbarkeit der Klägerin, dass diese Arbeiten von wirtschaftlichem Wert nicht mehr erbringen kann. Bzgl. des Leistungsfalls verwiest Dr. H plausibel auf den Befundbericht von Dr. S, wonach er (auch) bei der letzten Untersuchung der Klägerin bei dieser eine Progredienz des komplexen Krankheitsgeschehens mit psycho-physischer Erschöpfung festgestellt hat, welche aufgrund einer massiv eingeschränkten psychophysischen Belastbarkeit aktuell die quantitative Leistungsfähigkeit vollständig aufhebt, und zwar spätestens ab dem Zeitpunkt der von Dr. S laut Befundbericht vom 12. September 2011 zuletzt vorgenommenen Untersuchung der Klägerin und auf nicht absehbare Zeit.
Soweit die Beklagte dem Gutachten von Dr. H mit einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Psychiaters G vom 27. Mai 2014 entgegen getreten ist, ergeben sich hieraus keine vernünftigen Zweifel am aufgehobenen Leistungsvermögen. Soweit gerügt wird, dass psychologische Tests für die Verwendung in einem Streitverfahren nicht zugelassen und validiert seien, hat Dr. H in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 24. Juni 2014 plausibel darauf hingewiesen, dass testpsychologische Untersuchungen auch im Rahmen der sozialgerichtlichen Begutachtung zulässig seien, soweit sie nicht zur Diagnosestellung verwendet werden und eine Manipulierung durch die Probanden ausgeschlossen ist. Soweit Dr. H in diesem Zusammenhang auf die Durchführung mehrerer, wissenschaftlich etablierter Simulationstests verweist, ergeben sich für den Senat jedenfalls keine Anhaltspunkte für eine Manipulation seitens der Klägerin. Im Übrigen kann die Validität solcher Tests für den Senat dahinstehen, soweit Dr. H ihre Leistungsbeurteilung in der Tat maßgeblich auf die von ihr vorgenommene Exploration der Klägerin stützt.
Soweit der Psychiater G auf die fehlende Inanspruchnahme fachpsychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung verweist, lassen sich hieraus keine zwingenden Gründe die Annahme eines fortbestehenden Leistungsvermögens gewinnen. Bereits der Psychiater G selbst räumt ein, dass dies Ausdruck eines mangelnden Leidensdrucks oder eben auch einer krankheitsbedingt fehlenden Introspektionsfähigkeit sein kann, wie sie bereits in der Rehaklinik B festgestellt wurde. Dr. H führt hier nun weit näher liegende Gründe an, nämlich, dass der in einer Angstüberflutung als elementarer Teil der Erkrankung der Klägerin bestehende Leidensdruck die Vermeidung einer Psychotherapie erklärt.
Soweit die Beklagte mit ihren beratungsärztlichen Stellungnahmen ihren Standpunkt bei alldem im Wesentlichen darauf stützt, dass das Vollbild einer PTBS nicht vorliege, führt dies an der hier zu klärenden Frage der krankheitsbedingten Leistungsminderung teilweise vorbei. Es mag sein, dass aktuell flash backs fehlen. Dass dies in der Tat der Annahme einer aktuell im Vollbild ausgeprägten PTBS entgegenstehen könnte, räumt der Sache nach auch Dr. H ein, indem sie in ihrer o.g. ergänzenden Stellungnahme darauf verweist, dass aktuell keine flash backs mehr erlebt würden. Sie führt aber gleichzeitig an, dass die Klägerin nach ihrer Beobachtung solche glaubhaft aus der Vergangenheit berichtete. Dr. H betont indes für den Senat überzeugend, dass differentialdiagnostisch auch eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegen kann, nämlich nach in der Kindheit und Jugend erfahrenen Missbräuchen und Vergewaltigung, wobei entscheidend die objektiv zu Tage getretene Affektlabilität und psychophysische Minderbelastbarkeit der Klägerin sind. Dies wiederum erscheint auch im Lichte des ICD-10 F43.1 überzeugend, wonach eine PTBS auch in eine Persönlichkeitsänderung übergehen kann. Letztlich wird die schwere der psychischen Erkrankung in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 27. Mai 2014 zumindest ansatzweise der Sache nach eingeräumt, indem dort ausgeführt wird, dass durch das Gutachten von Dr. H deutlich wird, wie sehr die Klägerin zur Zeit belastet ist. Dies deckt sich im Übrigen auch mit den Feststellungen von Prof. Dr. Sin dessen schriftlichem Sachverständigengutachten vom 12. November 2013, wonach bei der Klägerin ein erheblicher Leidensdruck, psychische Instabilität und eine erhebliche Verstärkung der seelischen Erkrankung aufgefallen waren, ohne dass Anhaltspunkte für Aggravations- und Simulationsverhalten bestanden. Soweit die Beklagte nun anführt, dass die Klägerin ihren Drei-Personen-Haushalt ohne Unterstützung führen könne, steht dies der Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens ebenfalls nicht entgegen. Auch hier überzeugen die Ausführungen von Dr. H, wonach die Klägerin nach der Schilderung ihres Tagesablaufs glaubhaft von regelmäßigen Pausen bereits nach kurzer körperliche Beanspruchung berichtet. Die Klägerin ist – bzw. mittlerweile war - als verantwortungsbewusste Frau in der Tat allein für die Versorgung ihrer beiden Söhne zuständig, so dass schon deswegen der Haushalt von ihr unter Schmerzen geführt wird bzw. wurde, weil gar keine Alternative hierzu besteht. Freizeitaktivitäten oder soziale Kontakte existieren nicht mehr. Dass die Klägerin noch einen Rest Alltagsfunktion auf Kosten der Gesundheit aufrecht erhält, lässt nicht den Schluss auf eine noch vorhandene Leistungsfähigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts zu.
Soweit Dr. H den Leistungsfall der Sache nach überzeugend auf den 09. September 2011 als den Tag der letzten im Befundbericht von Dr. S vom 12. September 2011 dokumentierten Untersuchung annimmt, lagen damals auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Sinne der nach § 43 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB VI erforderlichen sog. Drei-Fünftel-Belegung vor. Denn es ergibt sich aus dem aktenkundigen Gesamtkontospiegel der Beklagten vom 15. November 2010, dass die Klägerin zumindest ab dem 15. Oktober 2003 durchgehend bis zum 31. Dezember 2009 Pflichtbeitragszeiten aufzuweisen hat. Damit steht allein schon anhand des vorgenannten Gesamtkontospiegels fest, dass, vom 09. September 2011 zurückgerechnet, deutlich mehr als 36 Monate mit Pflichtbeitragszeiten belegt sind. Auch hat die Klägerin gemäß § 43 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllt.
Der Rentenbeginn ergibt sich aus § 101 Abs. 1 SGB VI, wonach befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet werden.
Die Rentengewährung war hier gemäß dem aus § 102 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB VI folgenden Grundsatz, dass Erwerbsminderungsrenten nur auf Zeit geleistet werden, unter Ausschöpfung der sich aus § 102 Abs. 2 S. 2 SGB VI ergebenden zulässigen Höchstdauer auf drei Jahre zu befristen, weil nach den auch insofern überzeugenden Ausführungen von Dr. H in ihrem im Berufungsverfahren eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten mit einer Besserung des Leistungsvermögens selbst unter einer optimalen ärztlichen Behandlung nicht vor Ablauf von zwei Jahren zu rechnen ist.
Für eine – ausnahmsweise - unbefristete Rentengewährung liegt gleichwohl noch nichts vor. Nach § 102 Abs. 2 S. 5 Hs. 1 SGB VI werden Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, nur dann unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Da die Sachverständige Dr. H weiterhin überzeugend ausgeführt hat, dass im Fall der Klägerin noch nicht alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind (ambulante stützende Psychotherapie und eventuell medikamentöse Behandlung mit anschließender spezifischer Traumabehandlung), erscheint es vorliegend noch nicht unwahrscheinlich, dass die Erwerbsminderung der erst 49 Jahre alten Klägerin behoben werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst, in welcher die Klägerin mit ihrem Hauptanliegen obsiegt hat.
Die Revision ist mangels Revisionszulassungsgrunds nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zuzulassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1965 geborene Klägerin durchlief Ausbildungen zur Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin und Einzelhandelskauffrau im Elektro- und Eisenwarenhandel. Sie verfügt über keinen Berufsabschluss. Sie war zuletzt als Sortiererin tätig. Sie gebar 1994 und 2000 zwei Söhne, welche sie alleine groß zog bzw. zieht. Sie steht seit März 2005 im Bezug von Arbeitslosengeld II.
Einen ersten Rentenantrag der Klägerin vom 31. Mai 2005 lehnte die Beklagte nach Einholung zweier jeweils aufgrund ambulanter Untersuchung erstellter Gutachten des Psychiaters G vom 29. Juli 2005 (Diagnose: Anpassungsstörung; Leistungsbild: vollschichtiges Leistungsvermögen) und des Chirurgen und Sozialmediziners P vom 11. August 2005 (Diagnosen: Cervicalneuralgie, Omalgie rechts bei Periarthropathie, Gonalgie rechts bei Chondropathie, Gonarthrose, Epicondylitis humeroradialis rechts, anhaltende somatoforme Schmerzstörung; Leistungsbild: vollschichtiges Leistungsvermögen bei näher bezeichneten qualitativen Leistungseinschränkungen) mit Bescheid vom 25. August 2005 ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2005 als unbegründet zurück. Das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin (SG) zum gerichtlichen Aktenzeichen S 14 R 325/06 endete nach Einholung eines auf ambulanter Untersuchung der Klägerin beruhenden schriftlichen Sachverständigengutachtens des Orthopäden Dr. P vom 10. Dezember 2007 mit einem von den Beteiligten am 16. Juni 2009 geschlossenen Vergleich, in welchem sich die Beklagte zur Erbringung einer Rehabilitationsmaßnahme verpflichtete.
Die Klägerin durchlief vom 13. Juli bis zum 10. August 2010 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme an der B Klinik, Abteilung Psychosomatik. Laut ärztlichem Entlassungsbericht vom 21. September 2010 wurden chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Angst und depressive Störung gemischt, Zervikobrachial-Syndrom, Rückenschmerzen im Lumbalbereich und initiale Gonarthrose rechts diagnostiziert. Es wurde der Klägerin vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Arbeiten bei weiteren näher beschriebenen qualitativen Leistungseinschränkungen unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts bescheinigt. Die letzte Tätigkeit als Sortiererin sei der Klägerin nicht mehr zumutbar. Die psychosoziale Konfliktsituation wurde dahingehend beschrieben, dass die Klägerin vor dem Hintergrund eines strengen Elternhauses, traumatischen Missbrauchserlebnissen durch den Nachbarn sowie ihres biographischen Werdegangs schon frühzeitig zwanghafte Verhaltensweisen und eine selbstunsichere, schizoide Persönlichkeitsstruktur entwickelt zu haben scheint. Es sei wegen akut exzerpierter somatischer Beschwerdesymptomatik, deutlich begrenzter Introspektionsfähigkeit und massiver Überforderungsgefühle zu einer deutlichen Stagnation des therapeutischen Prozesses gekommen, weshalb es mit ärztlichem Einverständnis zu einer vorzeitigen Entlassung aus der medizinischen Rehabilitation gekommen sei.
Die Klägerin erneuerte mit ans SG gerichtetem und an die Beklagten weitergeleitetem Schreiben vom 06. September 2010 ihr Rentenbegehren. Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente mit Bescheid vom 16. November 2010 mangels Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen ab und wies den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin vom 13. Dezember 2010 mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2011 als unbegründet zurück.
Die Klägerin hat ihr Rentenbegehren mit bei der Beklagten am 12. Februar 2011 eingereichtem Schreiben vom 10. Februar 2011 weiterverfolgt und mit Schreiben vom 13. März 2011 gegenüber der Beklagten bestätigt, dass es sich beim Schreiben vom 10. Februar 2011 um eine Klageschrift handeln solle. Die Beklagte leitete den Vorgang mit Schreiben vom 29. März 2011 ans SG weiter.
Das SG hat Befundberichte des Chirurgen Dr. von S vom 24. Juni 2011 sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 12. September 2011 eingeholt, welcher u.a. berichtet hat, die Klägerin zuletzt am 09. September 2011 untersucht zu haben. Er hat als Diagnosen u.a. allgemeines degeneratives Wirbelsäulen- und Gelenksyndrom, chronisches depressives Syndrom, Schlafstörungen, psychisch-physisches Erschöpfungssyndrom gestellt. Das komplexe Krankheitsbild sei deutlich progredient.
Das SG hat das auf einer ambulanten Untersuchung der Klägerin beruhende schriftliche Sachverständigengutachten des Orthopäden Dr. Dr. Z vom 24. November 2011 eingeholt. Dieser hat Wirbelsäulenverschleiß-Prolapsfolgen, Wirbelsäulenfehlstatik mit Neigung zu Nervenwurzelreiz-Syndromen im Bereich der oberen und unteren Extremitäten sowie multiple reversible Störungen mit Tendinosen wie Blockierungen, polyarthralge Beschwerden der großen und kleinen Körpergelenke mit geringem Gelenk-Knorpel-Verschleiß sowie Weichteilaffektionen an Hand- und Fingergelenken, Schultern, Ellenbogen und Kniegelenken, unkomplizierte Venopathie der unteren Extremitäten, geringe Adipositas und eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert und der Klägerin in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09. Dezember 2011 bei näher bezeichneten qualitativen Leistungseinschränkungen vollschichtiges Leistungsvermögen bescheinigt.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 25. Februar 2013 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die tatsächlichen bzw. medizinischen Voraussetzungen einer teilweisen oder vollen Erwerbsminderung lägen nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen nicht vor.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 30. März 2013 zugestellte Urteil am 29. April 2013 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass aus der Vielzahl der bei ihr bestehenden Leistungseinschränkungen ihre Arbeitsunfähigkeit folge.
Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. November 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10. Januar 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat das schriftliche Sachverständigengutachten des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie Prof. Dr. S vom 12. November 2013 eingeholt, welches dieser nach einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 05. November 2013 erstellt hat. Er hat auf orthopädisch-rheumatologischem Fachgebiet eine leichte Fehlform des Achsorgans mit geringgradigen Nervenwurzelreizerscheinungen diagnostiziert und Hinweise auf eine schwere somatoforme Schmerzstörung gesehen, welche allerdings von einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie begutachtet werden müsse. Die Klägerin habe bei der Untersuchung erhebliche Beschwerden am gesamte Stütz- und Bewegungsapparat angegeben; es bestehe ein deutlicher Leidensdruck ohne Aggravations- oder Simulationsverhalten. Die neurologisch-psychiatrische Voruntersuchung aus dem Jahr 2005 entspreche nicht mehr der heutigen Befundsituation. Es sei damals eine depressive Stimmungslage diagnostiziert und eine deutliche psychische Komponente im Beschwerdeerleben nicht ausgeschlossen worden. Es scheine mittlerweile zu einer erheblichen Verstärkung der seelischen Erkrankung gekommen zu sein, möglicherweise im Rahmen der täglichen Belastungen. Die auf orthopädischem Gebiet festgestellten Gesundheitsstörungen schränkten die Erwerbsfähigkeit indes für sich betrachtet nicht ein und gefährdeten diese auch nicht erheblich. Die Klägerin könne aus orthopädischer Sicht bei näher bezeichneten qualitativen Leistungseinschränkungen unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts vollschichtig tätig sein.
Der Senat hat sodann das auf einer ambulanten bzw. auch testpsychologischen Untersuchung der Klägerin beruhende schriftliche Sachverständigengutachten der Fachärztin für Neurologie Dr. H vom 18. April 2014 eingeholt. Diese hat bei der Klägerin eine chronische Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit Angst und Depressionen gemischt, diagnostiziert. Differentialdiagnostisch seien auch die Symptome einer Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung zu finden, wobei die genaue diagnostische Zuordnung für die krankheitsbedingten funktionellen Einschränkungen nicht entscheidend sei. Nebenbefundlich sei neurologisch die Diagnose einer Polyneuropathie (PNP) mit eingeschränkter Gefühlswahrnehmung der Beine zu stellen, wofür eine weitere Abklärung erforderlich sei, was auch für einen arteriellen Hypertonus und eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Hüftgelenks gelte. Die PNP und die allgemeinmedizinischen Befunde führten allenfalls zu qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit. Hauptdiagnose sei die schwere psychische Erkrankung, welche aufgrund einer massiv eingeschränkten psychophysischen Belastbarkeit aktuell und auf nicht absehbare Zeit die quantitative Leistungsfähigkeit vollständig aufhebe, und zwar spätestens ab dem Zeitpunkt der von Dr. S laut dessen Befundbericht vom 12. September 2011 zuletzt vorgenommenen Untersuchung der Klägerin.
Die Beklagte ist dem Gutachten von Dr. H mit einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Psychiaters G vom 27. Mai 2014 entgegen getreten, wonach psychologische Tests nicht für die Verwendung in einem Streitverfahren zugelassen und validiert seien. Die fehlende Inanspruchnahme fachpsychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung könne Ausdruck eines mangelnden Leidensdrucks oder eben auch einer fehlenden Introspektionsfähigkeit sein, wie sie in der Rehaklinik B festgestellt worden sei, wobei anzumerken sei, dass sich die Rehaklinik auf die Behandlung von PTBS spezialisiert habe. Das Vollbild einer PTBS lasse sich hier nicht nachweisen. Aktuell fehlten flash backs (sich aufdrängende Rückerinnerungen) sowie Meideverhalten; gegen eine PTBS spreche, dass die Klägerin spontan allein den Ort ihrer Erlebnisse aufgesucht haben wolle. Die Klägerin könne ihren Drei-Personen-Haushalt ohne Unterstützung führen.
Der Senat hat daraufhin die ergänzende Stellungnahme von Dr. H vom 24. Juni 2014 eingeholt. Darin hat sie ausgeführt, der Psychiater G habe die Klägerin im Mai 2005 eine Stunde lang untersucht, ohne testpsychologische Verfahren einzusetzen. Laut damaligem psychischem Befund sei die Klägerin offensichtlich deutlich stabiler gewesen als zum Zeitpunkt der jetzigen, fünf Stunden währenden Untersuchung. Damals sei – ausgehend vom damals erhobenen psychischen Befund - nachvollziehbar die minderschwere Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt und keine Erwerbsminderung festgestellt worden, auch wenn schon damals vor dem Hintergrund der auffälligen Biographie eine schwerwiegende psychische Erkrankung habe vermutet werden können. Mittlerweile sei eine deutliche Verschlechterung eingetreten. Testpsychologische Untersuchungen seien auch im Rahmen der sozialgerichtlichen Begutachtung zulässig, wobei richtig sei, dass Selbsteinschätzungen durch die Probanden manipulierbar seien und daher nicht zur Diagnosestellung verwendet werden dürften. Deshalb seien auch mehrere, wissenschaftlich etablierte Simulationstest angewandt worden. Soweit seitens der Beklagten angeführt werde, dass die Klägerin sich bisher nicht in fachspezifische Behandlung begeben habe, sei die Klägerin – wie im Gutachten berichtet – hierauf angesprochen worden, was zu einem massiven affektiven Einbruch geführt habe. Entsprechendes sei beim Führen eines Schmerztagebuchs zu beobachten gewesen. Die Klägerin habe als Kind bzw. Jugendliche durch Missbrauch und Vergewaltigung für die Auslösung einer PTBS geeignete Erlebnisse gehabt. Dass aktuell keine flash backs mehr erlebt würden, spreche nicht gegen die Diagnose, zumal diese aus der Vergangenheit berichtet würden. Vermeidungsverhalten werde von der Klägerin sehr wohl gezeigt. Differentialdiagnostisch sei wie gesagt auch eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung zu diskutieren. Auch laut dem rheumatologischen Gutachten von Prof. Dr. S seien ein erheblicher Leidensdruck, psychische Instabilität und eine erhebliche Verstärkung der seelischen Erkrankung aufgefallen. Aggravations- und Simulationsverhalten seien von ihm explizit verneint worden. Dass die Klägerin ihren Alltag noch bewältigen könne und dass dies ein Beleg für eine unbeeinträchtigte Leistungsfähigkeit sei, treffe nicht zu. Bei der Schilderung des Tagesablaufs würden glaubhaft regelmäßige Pausen nach kurzer körperliche Beanspruchung angegeben. Dies decke sich mit den Angaben im Schmerztagebuch. Die Klägerin sei eine sehr verantwortungsbewusste Frau, die als Alleinerziehende völlig allein für die Versorgung ihrer beiden Söhne zuständig sei. Schon deswegen werde der Haushalt von ihr unter Schmerzen geführt, weil sie gar keine Alternative hierzu habe. Freizeitaktivitäten oder soziale Kontakte existierten nicht mehr. Dass die Klägerin noch einen Rest Alltagsfunktion auf Kosten der Gesundheit aufrecht erhalte, lasse nicht den Schluss auf eine noch vorhandene Leistungsfähigkeit zu.
Die Beklagte hat eine weitere beratungsärztliche Stellungnahme des Psychiaters G vom 28. Juli 2014 vorgelegt, in welcher er bei seinem bisherigen Standpunkt bleibt. Eine weitere psychiatrisch-neurologische Begutachtung sei nicht erforderlich.
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 17. und 18. September 2014 einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle des Senats im Wege schriftlicher Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungs- und Rehabilitationsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Berichterstatter kann, weil die vorliegende Streitsache weder besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist noch von grundsätzlicher Bedeutung ist, in Ausübung des insofern eröffneten richterlichen Ermessens anstelle des Senats im schriftlichen Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, vgl. §§ 155 Abs. 3 und 4, 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Voraussetzungen des als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden § 43 Abs. 2 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) sind erfüllt.
Nach § 43 Abs. 2 S. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 S. 2 Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 S. 3 SGB VI auch behinderte Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können (Nr. 1), und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt (Nr. 2). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist dagegen nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Dies zugrunde steht das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen der vollen Erwerbsminderung gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 SGG zur Überzeugung des Senats bei einem spätestens am 09. September 2011 eingetretenen Leistungsfall fest. Denn die Klägerin ist allein schon angesichts der bei ihr auf psychiatrisch-neurologischem Fachgebiet festgestellten Leiden und unter Beachtung der daraus folgenden Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Hierfür bezieht sich der Senat vor allem auf die überzeugenden, weil auf einer umfassenden Befunderhebung beruhenden, schlüssigen Ausführungen der Neurologin Dr. H in ihrem im Berufungsverfahren eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten vom 18. April 2014 und in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 24. Juni 2014. Dr. H hat bei der Klägerin eine schwere psychische Erkrankung festgestellt und diese als chronische PTBS mit Angst und Depressionen bzw. differentialdiagnostisch als Ausdruck einer Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung gedeutet. Die Diagnose einer PTBS lässt sich hier in der Tat nach den Klassifikationssystemen DSM IV oder auch ICD-10 mit der Einschränkung stellen, dass es aktuell wohl (nur) am sog. B-Kriterium fehlt. Es fehlt nach beiden Klassifikationssystemen indes nicht schon am sog. A-Kriterium. Gemäß DSM IV 309.81 muss die Person mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert sein, welches dazu führte, dass die Person eines oder mehrere Ereignisse erlebte, beobachtete oder mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert war, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen enthielten, wobei die Person mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen reagierte. Dieses Kriterium wird im einschlägigen arbeitsmedizinischen Schrifttum dahingehend verstanden, dass Auslöser ein traumatisches Ereignis von besonderer Qualität mit einem extremen Belastungsfaktor (nach DSM IV lebensbedrohlich) sein muss (vgl. differenzierend etwa Foerster, in: MED SACH 106 1/2010, S. 16 (18)). Nach ICD-10 F43.1 müssen die Betroffenen einem kurz oder lang dauernden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt seien, dass nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde. Nach alldem kommen als Stressoren in Betracht: Ernsthafte Bedrohung oder Schädigung der eigenen körperlichen Integrität, des Ehepartners, der Kinder, naher Verwandter oder Freunde, plötzliche Zerstörung des Zuhauses, erleben eines Unfalls bzw. Todes anderer. Eben hiervon ausgehend nimmt Dr. H in ihrem gerichtlichen Sachverständigengutachten und ihrer ergänzenden Stellungnahme überzeugend an, dass die in der Kindheit und Jugend erfahrenen Missbräuche und Vergewaltigung der Klägerin ausreichend traumatisierend waren. Mithin gelangt sie nachvollziehbar zur Einschätzung, dass die Klägerin das A-Kriterium erfüllt. Auch für das geforderte sog. B-Kriterium, welches sich sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM IV als intrusives (aufdringliches) Wiedererleben beschreiben lässt, geben die bei der Klägerin durch Dr. H erhobenen Befunde für die Vergangenheit, wenn auch nicht gegenwärtig genügend her. Das B-Kriterium setzt voraus, dass Alpträume, sich aufdrängende Erinnerungen oder flash backs vorliegen, wobei Intrusionen und flash backs als entscheidende Leitsymptome anzusehen sind. Dieses Phänomen muss diagnostisch eng gefasst werden. Unspezifische psychische Reaktionen, etwa Gedanken an das Ereignis, Erinnerungen, dem Ereignis nachzuhängen oder darüber nachzugrübeln, reichen nicht aus (Foerster, a.a.O., S. 16 (18)). Die Klägerin hat im Rahmen der von Dr. H festgehaltenen biographischen Angaben spontan – so, wie dies Dr. H in ihrem Gutachten darstellt, in einer für die Annahme des B-Kriteriums hinreichenden Weise - von Alpträumen berichtet, in welchen Fahrstühle vorkamen, und zwar als die Orte, an welchen die Misshandlungen durch einen Nachbarn stattgefunden hatten. Auch erlaubt die Exploration – entgegen der Einschätzung der Beklagten - den Rückschluss auf das Vorliegen des sog. C- Kriteriums (Vermeidung traumarelevanter Reize bzw. reduzierte emotionale Reagibilität). Hier verweist Dr. H darauf, dass die Klägerin eine Therapie trotz wiederholter Empfehlung unterließ, weil sie das damit verbundene Wachrufen ihrer Erinnerung ihren eigenen glaubhaften Angaben zufolge nicht ertrüge; dies bestätigt sich nach den hier anschließenden Ausführungen von Dr. H dadurch, dass die Klägerin beim Ansprechen der damaligen Ereignisse dermaßen von Angst überflutet wird, dass ihr ein rationaler Umgang damit nicht möglich ist. Der von Dr. H erhobene psychopathologische Befund vermittelt auch greifbare Anknüpfungspunkte für die Annahme des sog. D-Kriteriums, welches am unspezifischsten ist (Foerster, ebd.). Dr. H vermag hierzu nicht nur auf Ein– und Durchschlafstörungen zu verweisen, sondern eben auch auf die offen zu Tage tretende Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern, sowie auf Konzentrationsschwierigkeiten.
Von einer definitiven diagnostischen Einordnung der psychischen Erkrankung hat Dr. H mit der zutreffenden Erwägung abgesehen, dass eine solche für die krankheitsbedingten funktionellen Einschränkungen nicht entscheidend ist. Neben einer wohl auch bestehenden PNP mit eingeschränkter Gefühlswahrnehmung der Beine, einem arteriellen Hypertonus sowie einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Hüftgelenks, welche allenfalls zu qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit führen, erblickt Dr. H nachvollziehbar die Hauptdiagnose gleichwohl in der schweren psychischen Erkrankung der Klägerin. Diese ist auch für das Leistungsvermögen der Klägerin am relevantesten. Ausgehend von der von ihr im Gutachten festgehaltenen Exploration der Klägerin verweist Dr. H überzeugend auf eine derart ausgeprägte Affektlabilität und Einschränkung der Belastbarkeit der Klägerin, dass diese Arbeiten von wirtschaftlichem Wert nicht mehr erbringen kann. Bzgl. des Leistungsfalls verwiest Dr. H plausibel auf den Befundbericht von Dr. S, wonach er (auch) bei der letzten Untersuchung der Klägerin bei dieser eine Progredienz des komplexen Krankheitsgeschehens mit psycho-physischer Erschöpfung festgestellt hat, welche aufgrund einer massiv eingeschränkten psychophysischen Belastbarkeit aktuell die quantitative Leistungsfähigkeit vollständig aufhebt, und zwar spätestens ab dem Zeitpunkt der von Dr. S laut Befundbericht vom 12. September 2011 zuletzt vorgenommenen Untersuchung der Klägerin und auf nicht absehbare Zeit.
Soweit die Beklagte dem Gutachten von Dr. H mit einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Psychiaters G vom 27. Mai 2014 entgegen getreten ist, ergeben sich hieraus keine vernünftigen Zweifel am aufgehobenen Leistungsvermögen. Soweit gerügt wird, dass psychologische Tests für die Verwendung in einem Streitverfahren nicht zugelassen und validiert seien, hat Dr. H in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 24. Juni 2014 plausibel darauf hingewiesen, dass testpsychologische Untersuchungen auch im Rahmen der sozialgerichtlichen Begutachtung zulässig seien, soweit sie nicht zur Diagnosestellung verwendet werden und eine Manipulierung durch die Probanden ausgeschlossen ist. Soweit Dr. H in diesem Zusammenhang auf die Durchführung mehrerer, wissenschaftlich etablierter Simulationstests verweist, ergeben sich für den Senat jedenfalls keine Anhaltspunkte für eine Manipulation seitens der Klägerin. Im Übrigen kann die Validität solcher Tests für den Senat dahinstehen, soweit Dr. H ihre Leistungsbeurteilung in der Tat maßgeblich auf die von ihr vorgenommene Exploration der Klägerin stützt.
Soweit der Psychiater G auf die fehlende Inanspruchnahme fachpsychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung verweist, lassen sich hieraus keine zwingenden Gründe die Annahme eines fortbestehenden Leistungsvermögens gewinnen. Bereits der Psychiater G selbst räumt ein, dass dies Ausdruck eines mangelnden Leidensdrucks oder eben auch einer krankheitsbedingt fehlenden Introspektionsfähigkeit sein kann, wie sie bereits in der Rehaklinik B festgestellt wurde. Dr. H führt hier nun weit näher liegende Gründe an, nämlich, dass der in einer Angstüberflutung als elementarer Teil der Erkrankung der Klägerin bestehende Leidensdruck die Vermeidung einer Psychotherapie erklärt.
Soweit die Beklagte mit ihren beratungsärztlichen Stellungnahmen ihren Standpunkt bei alldem im Wesentlichen darauf stützt, dass das Vollbild einer PTBS nicht vorliege, führt dies an der hier zu klärenden Frage der krankheitsbedingten Leistungsminderung teilweise vorbei. Es mag sein, dass aktuell flash backs fehlen. Dass dies in der Tat der Annahme einer aktuell im Vollbild ausgeprägten PTBS entgegenstehen könnte, räumt der Sache nach auch Dr. H ein, indem sie in ihrer o.g. ergänzenden Stellungnahme darauf verweist, dass aktuell keine flash backs mehr erlebt würden. Sie führt aber gleichzeitig an, dass die Klägerin nach ihrer Beobachtung solche glaubhaft aus der Vergangenheit berichtete. Dr. H betont indes für den Senat überzeugend, dass differentialdiagnostisch auch eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegen kann, nämlich nach in der Kindheit und Jugend erfahrenen Missbräuchen und Vergewaltigung, wobei entscheidend die objektiv zu Tage getretene Affektlabilität und psychophysische Minderbelastbarkeit der Klägerin sind. Dies wiederum erscheint auch im Lichte des ICD-10 F43.1 überzeugend, wonach eine PTBS auch in eine Persönlichkeitsänderung übergehen kann. Letztlich wird die schwere der psychischen Erkrankung in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 27. Mai 2014 zumindest ansatzweise der Sache nach eingeräumt, indem dort ausgeführt wird, dass durch das Gutachten von Dr. H deutlich wird, wie sehr die Klägerin zur Zeit belastet ist. Dies deckt sich im Übrigen auch mit den Feststellungen von Prof. Dr. Sin dessen schriftlichem Sachverständigengutachten vom 12. November 2013, wonach bei der Klägerin ein erheblicher Leidensdruck, psychische Instabilität und eine erhebliche Verstärkung der seelischen Erkrankung aufgefallen waren, ohne dass Anhaltspunkte für Aggravations- und Simulationsverhalten bestanden. Soweit die Beklagte nun anführt, dass die Klägerin ihren Drei-Personen-Haushalt ohne Unterstützung führen könne, steht dies der Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens ebenfalls nicht entgegen. Auch hier überzeugen die Ausführungen von Dr. H, wonach die Klägerin nach der Schilderung ihres Tagesablaufs glaubhaft von regelmäßigen Pausen bereits nach kurzer körperliche Beanspruchung berichtet. Die Klägerin ist – bzw. mittlerweile war - als verantwortungsbewusste Frau in der Tat allein für die Versorgung ihrer beiden Söhne zuständig, so dass schon deswegen der Haushalt von ihr unter Schmerzen geführt wird bzw. wurde, weil gar keine Alternative hierzu besteht. Freizeitaktivitäten oder soziale Kontakte existieren nicht mehr. Dass die Klägerin noch einen Rest Alltagsfunktion auf Kosten der Gesundheit aufrecht erhält, lässt nicht den Schluss auf eine noch vorhandene Leistungsfähigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts zu.
Soweit Dr. H den Leistungsfall der Sache nach überzeugend auf den 09. September 2011 als den Tag der letzten im Befundbericht von Dr. S vom 12. September 2011 dokumentierten Untersuchung annimmt, lagen damals auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Sinne der nach § 43 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB VI erforderlichen sog. Drei-Fünftel-Belegung vor. Denn es ergibt sich aus dem aktenkundigen Gesamtkontospiegel der Beklagten vom 15. November 2010, dass die Klägerin zumindest ab dem 15. Oktober 2003 durchgehend bis zum 31. Dezember 2009 Pflichtbeitragszeiten aufzuweisen hat. Damit steht allein schon anhand des vorgenannten Gesamtkontospiegels fest, dass, vom 09. September 2011 zurückgerechnet, deutlich mehr als 36 Monate mit Pflichtbeitragszeiten belegt sind. Auch hat die Klägerin gemäß § 43 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllt.
Der Rentenbeginn ergibt sich aus § 101 Abs. 1 SGB VI, wonach befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet werden.
Die Rentengewährung war hier gemäß dem aus § 102 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB VI folgenden Grundsatz, dass Erwerbsminderungsrenten nur auf Zeit geleistet werden, unter Ausschöpfung der sich aus § 102 Abs. 2 S. 2 SGB VI ergebenden zulässigen Höchstdauer auf drei Jahre zu befristen, weil nach den auch insofern überzeugenden Ausführungen von Dr. H in ihrem im Berufungsverfahren eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten mit einer Besserung des Leistungsvermögens selbst unter einer optimalen ärztlichen Behandlung nicht vor Ablauf von zwei Jahren zu rechnen ist.
Für eine – ausnahmsweise - unbefristete Rentengewährung liegt gleichwohl noch nichts vor. Nach § 102 Abs. 2 S. 5 Hs. 1 SGB VI werden Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, nur dann unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Da die Sachverständige Dr. H weiterhin überzeugend ausgeführt hat, dass im Fall der Klägerin noch nicht alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind (ambulante stützende Psychotherapie und eventuell medikamentöse Behandlung mit anschließender spezifischer Traumabehandlung), erscheint es vorliegend noch nicht unwahrscheinlich, dass die Erwerbsminderung der erst 49 Jahre alten Klägerin behoben werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst, in welcher die Klägerin mit ihrem Hauptanliegen obsiegt hat.
Die Revision ist mangels Revisionszulassungsgrunds nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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