Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 45 SB 2020/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 263/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialge-richts Berlin vom 29. Juli 2015 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten für das Berufungsverfahren zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozi-algerichts. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens G (erhebliche Be-einträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Bei der Klägerin war 2011 ein Grad der Behinderung von 70 und das Merkzeichen RF festgestellt worden. Am 18. Juni 2012 stellte sie einen Verschlimmerungsantrag, mit dem sie auch die Merkzeichen G und B geltend machte. Diesen Antrag lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 28. Dezember 2012 mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Hiergegen hat die Klägerin Widerspruch eingelegt. Der Beklagte hat daraufhin mit Bescheid vom 31. Juli 2013 die Zuerkennung der Merkzeichen G und B ausdrücklich abgelehnt. Mit Widerspruchsbescheid vom 19. August 2013 hat er den Widerspruch insgesamt zurückgewiesen. Hierbei ist er von folgenden Behinderungen ausgegangen:
1. Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen beidseits (Einzel-GdB 50), 2. Operative Entfernung der Gebärmutter mit beidseitigen Anhangsorganen März 1990 bei erreichter Heilungsbewährung, klimakterische Ausfallerscheinungen, hormonell substituiert, Scheidensenkung mit Drang- und Stressinkontinenz (Einzel-GdB 30), 3. Fehlstellung und Verschleiß der Wirbelsäule, Osteoporose (Einzel-GdB 20), 4. Krampfadern mit Abflussstauung des linken Beines, postthrombotisches System links (Einzel-GdB 20), 5. Meniére-Syndrom (Einzel-GdB 20), 6. Knotenkropf, Teilverlust der Schilddrüse (Einzel-GdB 10), 7. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), 8. degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung des Hüftgelenks beidseitig rechts, Funktionsbehinderung des Kniegelenks rechts (Einzel-GdB 10).
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin einen Grad der Behinderung von mindestens 80 sowie die Merkzeichen G und B begehrt. Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des praktischen Arztes M vom 16. Mai 2014 eingeholt, der den Grad der Behinderung auf 70 eingeschätzt und die Voraus-setzungen der Merkzeichen G und B verneint hat. Der Sachverständige hat hierzu folgende Behinderungen ermittelt:
1. Schwerhörigkeit, Ohrgeräusche (Einzel-GdB 50), 2. Funktionsbehinderung der Hüft- und Kniegelenke, Fußfehlform, Krampf-aderleiden mit Abflussstörung des linken Beines (Einzel-GdB 30), 3. Operative Entfernung der Gebärmutter und beider Anhangsorgane, Blasenentleerungsstörung (Einzel-GdB 30), 4. Funktionsminderung der Wirbelsäule, Osteoporose (Einzel-GdB 20), 5. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), 6. Gleichgewichtsstörungen (Einzel-GdB 10), 7. Schilddrüsenerkrankung (Einzel-GdB 10), 8. ab Mai 2014 Sehminderung (Einzel-GdB 10).
Mit Urteil vom 29. Juli 2015 hat das Sozialgericht den Beklagten zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G ab 18. Juni 2012 verpflichtet und die Klage im Übrigen abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung des Be-klagten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juli 2015 teilweise aufzuheben und die Klage in Gänze abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwal-tungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten wird nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gele-genheit zur Stellungnahme.
Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Recht zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verpflichtet, da die Klägerin hierauf einen Anspruch hat.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beein-trächtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitli-chen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenver-kehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Nach den gutachterlichen Feststellungen ist der Klägerin diese Wegstrecke nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich.
Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Ge-setz fordert in §§ 145 Abs. 1 Satz 1, 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbe-hinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschrän-ken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein an-erkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurtei-lung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und vari-iert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.). Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter (so BSG, Urteil vom 11. August 2015, B 9 SB 1/14 R).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Klägerin die ortsübliche Wegstrecke "infol-ge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Das Sozialgericht hat unter Auswertung der medizinischen Feststellungen des Sachverständigen ausführlich dargelegt, dass sich im vorliegenden Fall aus dem Zusammenwirken von zwei Behinderungskomplexen – nämlich den mobilitätsbezogenen orthopädischen Funktionsstörungen, welche die Gehfähigkeit der Klägerin deutlich einschränken, und den Hörbehinderungen erheblichen Ausmaßes mit der Folge von Orientierungsstörungen – ein Störungsbild ergibt, das in seiner funktionalen Wirkung mit den in Teil D Nr. 1 der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführten Regelbeispielen vergleichbar ist. Dem schließt der Senat sich an.
Den Einwänden des Beklagten ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (zuletzt: Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –) nicht zu folgen. Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte sowohl des verfassungsrechtlichen als auch des unmittel-bar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, hierzu BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr. 69 Rn. 31) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den in Teil D Nr. 1 der Anlage zu § 2 VersMedV nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen. Anspruch auf Nachteilsausgleich G hat deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D Nr. 1 lit. d bis f der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Regelfällen dem beispielhaft auf-geführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 – SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Dies hat das Sozialgericht – wie gezeigt – im Falle der Klägerin zutreffend bejaht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens G (erhebliche Be-einträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Bei der Klägerin war 2011 ein Grad der Behinderung von 70 und das Merkzeichen RF festgestellt worden. Am 18. Juni 2012 stellte sie einen Verschlimmerungsantrag, mit dem sie auch die Merkzeichen G und B geltend machte. Diesen Antrag lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 28. Dezember 2012 mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Hiergegen hat die Klägerin Widerspruch eingelegt. Der Beklagte hat daraufhin mit Bescheid vom 31. Juli 2013 die Zuerkennung der Merkzeichen G und B ausdrücklich abgelehnt. Mit Widerspruchsbescheid vom 19. August 2013 hat er den Widerspruch insgesamt zurückgewiesen. Hierbei ist er von folgenden Behinderungen ausgegangen:
1. Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen beidseits (Einzel-GdB 50), 2. Operative Entfernung der Gebärmutter mit beidseitigen Anhangsorganen März 1990 bei erreichter Heilungsbewährung, klimakterische Ausfallerscheinungen, hormonell substituiert, Scheidensenkung mit Drang- und Stressinkontinenz (Einzel-GdB 30), 3. Fehlstellung und Verschleiß der Wirbelsäule, Osteoporose (Einzel-GdB 20), 4. Krampfadern mit Abflussstauung des linken Beines, postthrombotisches System links (Einzel-GdB 20), 5. Meniére-Syndrom (Einzel-GdB 20), 6. Knotenkropf, Teilverlust der Schilddrüse (Einzel-GdB 10), 7. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), 8. degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung des Hüftgelenks beidseitig rechts, Funktionsbehinderung des Kniegelenks rechts (Einzel-GdB 10).
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin einen Grad der Behinderung von mindestens 80 sowie die Merkzeichen G und B begehrt. Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des praktischen Arztes M vom 16. Mai 2014 eingeholt, der den Grad der Behinderung auf 70 eingeschätzt und die Voraus-setzungen der Merkzeichen G und B verneint hat. Der Sachverständige hat hierzu folgende Behinderungen ermittelt:
1. Schwerhörigkeit, Ohrgeräusche (Einzel-GdB 50), 2. Funktionsbehinderung der Hüft- und Kniegelenke, Fußfehlform, Krampf-aderleiden mit Abflussstörung des linken Beines (Einzel-GdB 30), 3. Operative Entfernung der Gebärmutter und beider Anhangsorgane, Blasenentleerungsstörung (Einzel-GdB 30), 4. Funktionsminderung der Wirbelsäule, Osteoporose (Einzel-GdB 20), 5. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), 6. Gleichgewichtsstörungen (Einzel-GdB 10), 7. Schilddrüsenerkrankung (Einzel-GdB 10), 8. ab Mai 2014 Sehminderung (Einzel-GdB 10).
Mit Urteil vom 29. Juli 2015 hat das Sozialgericht den Beklagten zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G ab 18. Juni 2012 verpflichtet und die Klage im Übrigen abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung des Be-klagten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juli 2015 teilweise aufzuheben und die Klage in Gänze abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwal-tungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten wird nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gele-genheit zur Stellungnahme.
Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Recht zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verpflichtet, da die Klägerin hierauf einen Anspruch hat.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beein-trächtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitli-chen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenver-kehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Nach den gutachterlichen Feststellungen ist der Klägerin diese Wegstrecke nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich.
Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Ge-setz fordert in §§ 145 Abs. 1 Satz 1, 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbe-hinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschrän-ken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein an-erkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurtei-lung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und vari-iert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.). Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter (so BSG, Urteil vom 11. August 2015, B 9 SB 1/14 R).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Klägerin die ortsübliche Wegstrecke "infol-ge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Das Sozialgericht hat unter Auswertung der medizinischen Feststellungen des Sachverständigen ausführlich dargelegt, dass sich im vorliegenden Fall aus dem Zusammenwirken von zwei Behinderungskomplexen – nämlich den mobilitätsbezogenen orthopädischen Funktionsstörungen, welche die Gehfähigkeit der Klägerin deutlich einschränken, und den Hörbehinderungen erheblichen Ausmaßes mit der Folge von Orientierungsstörungen – ein Störungsbild ergibt, das in seiner funktionalen Wirkung mit den in Teil D Nr. 1 der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführten Regelbeispielen vergleichbar ist. Dem schließt der Senat sich an.
Den Einwänden des Beklagten ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (zuletzt: Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –) nicht zu folgen. Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte sowohl des verfassungsrechtlichen als auch des unmittel-bar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, hierzu BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr. 69 Rn. 31) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den in Teil D Nr. 1 der Anlage zu § 2 VersMedV nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen. Anspruch auf Nachteilsausgleich G hat deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D Nr. 1 lit. d bis f der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Regelfällen dem beispielhaft auf-geführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 – SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Dies hat das Sozialgericht – wie gezeigt – im Falle der Klägerin zutreffend bejaht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
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