L 13 SB 220/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 48 SB 123/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 220/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. September 2012 wird zurückgewiesen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist. Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G streitig. Mit Bescheid vom 16. Januar 2008 in der Fassung des Bescheides vom 18. Dezember 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2009 hatte der Beklagte bei der 1949 geborenen Klägerin einen GdB von 50 festgestellt. Am 25. Januar 2010 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag. Nach Einholung einer ärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S vom 12. Februar 2010 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 17. Februar 2010 den Verschlimmerungsantrag ab und wies den hiergegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2010 zurück. Hierbei ging der Beklagte vom Vorliegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen aus:

a) Psychosomatische Störungen, außergewöhnliche Schmerzreaktion (Einzel-GdB 40), b) Osteoporose (Kalksalzminderung des Knochens), Muskelschwäche am Bein bds. (Einzel-GdB 20) sowie c) Lymphstauung des Beines beidseitig (Einzel-GdB 10).

Mit der hiergegen an den Beklagten gesandten und bei ihm am 29. November 2010 eingegangenen Klage hat die Klägerin einen GdB von 60 und die Zuerkennung des Merkzeichens G ab Stellung des Neufeststellungsantrages begehrt. Hierzu hat sie geltend gemacht, sie leide an diversen Allergien, sowie an Polyneuropathie, einem Fibromyalgie-Syndrom, einer COPD sowie an chronischer Borreliose. Dies sei unberücksichtigt geblieben. Beim Gehen verspüre sie einen Dauerschmerz und leide auch an Orientierungsstörungen.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt und den praktischen Arzt M mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Der Sachverständige ist nach Untersuchung der Klägerin am 28. März 2010 in seinem Gutachten vom 23. April 2012 zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin seien folgende Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen: a) Somatoforme Störung (ICD 10 F45), Borrelieninfektion, Polyneuropathie der Beine (GdB 40), b) rezidivierende depressive Störungen (ICD 10 F 33), schädlicher Gebrauch von Alkohol (GdB 20), c) Bluthochdruck (GdB 20), d) chronisches Lungenleiden, Allergie (GdB 10), e) Schwellneigung beider Beine (GdB 10).

Der Gesamt-GdB sei durchgängig seit Antragstellung mit 50 zu bemessen, insbesondere bestünden deutliche Wirkungsüberschneidungen zwischen den Leidenskomplexen a) und b). Die Klägerin bewege sich in den Praxisräumen raumgreifend und zügig fort, wobei weder ein Hinken noch eine Belastungsluftnot bestehe. Anfangs bestehe eine Tendenz zum Festhalten an den Wänden, später und vermeintlich unbeobachtet dann indes nicht mehr. Eine relevante Sturzneigung bestehe nicht, wobei die Klägerin nötigenfalls auch auf Hilfsmittel, wie einen Gehstock zurückgreifen könne. Jedoch bestehe keine Polyneuropathie, die eine relevante Sturzneigung wahrscheinlich sein ließe. Auch das vermeintlich unbeobachtete Gangbild nach Verlassen der Praxis auf dem Gehsteig sei unauffällig. Das Treppensteigen sei aufwärts wie abwärts sicher. Die Klägerin könne ohne erhebliche Schwierigkeiten und ohne Gefahren für sich oder andere ortsübliche Wegstrecken bewältigen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden. Von Seiten des Bewegungsapparates bestünden nicht einmal andeutungsweise Einschränkungen, die sie daran hindern könnten.

Mit Gerichtsbescheid vom 24. September 2012, der Klägerin zugestellt am 26. September 2012, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und sich zur Begründung im Wesentlichen auf das Ergebnis der Begutachtung gestützt.

Mit der am 16. Oktober 2012 erhobenen Berufung hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und ist insoweit dem Ergebnis der Begutachtung entgegen getreten, wobei sich ihre Einwände insbesondere auf die Erkrankungen Polyneuropathie, Fibromyalgie-Syndrom und Borreliose beziehen. Sie beantragt unter Rücknahme der weitergehenden Berufung,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. September 2012 zu ändern und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 17. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2010 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung vom 26. April 2016 einen Grad der Behinderung von 60 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie, Sozialmedizin, Psychoanalyse, Psychotherapie, Rehabilitationswesen und psychosomatische Medizin Dr. Me, der die Klägerin am 26. August 2015 untersucht hat und in seinem Gutachten zu der Einschätzung gelangt ist, bei der Klägerin lägen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet folgende Funktionsbeeinträchtigungen vor:

a) Dysthymia. Diese sei derzeit nur leicht ausgeprägt und erfülle nicht mehr die Kriterien einer depressiven Episode, die in der Vergangenheit mehrmals genannt worden sei. Die Diagnose schließe somatoforme Beschwerden incl. Schmerzen ein und deshalb die zusätzliche Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung oder vergleichbare somatoforme Diagnosen aus. Die Diagnose eines Fibromyalgie-Syndroms sei daher unnötig, weil sich deren Symptome weitestgehend mit der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung überschnitten und daher keine zusätzlichen Funktionseinschränkungen begründen könnten. Eine Borreliose sei hier jedoch nicht Ursache des von der Klägerin angegebenen Ganzkörperschmerzes und komme lediglich als Ursache für Taubheits- und Missempfindungen in den unteren Extremitäten, die durch eine Polyneuropathie hervorgerufen werden, eventuell in Betracht.

b) Panikstörung. Auch die Panikstörung schließe autonome somatoforme Beschwerden ein und die zusätzliche Diagnose einer somatoformen autonomen Funktionsstörung daher aus.

c) Polyneuropathie. Bei der Klägerin liege klinisch eine Schädigung der peripheren Nerven vor. Funktionell sei die Reflexabschwächung unbedeutend, wobei die an den unteren Extremitäten fußwärts abnehmende Empfindlichkeit für Berührungen, Schmerz und das an den Füßen erloschene Vibrationsempfinden sich auf die Standsicherheit auswirken könnten. Jedoch sei die Standsicherheit der Klägerin nicht aufgehoben, wohl aber für den Zehengang und den Hackengang eingeschränkt, wobei auch der Seiltänzergang unsicher sei. Im normalen Gangbild falle die Störung nicht auf.

Eine objektive Einschränkung des Gehvermögens der Klägerin sei auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet nicht begründet. Es sei anzumerken, dass die von der Klägerin reklamierte Borreliose sich nur äußerst schwer nachweisen lasse, sich in den Symptomen jedoch mit denen, die der Sachverständige auf seinem Fachgebiet diagnostiziert habe, weitestgehend überschneide. Im Übrigen enthielten weder die Versorgungsmedizinischen Grundsätze noch deren Vorgänger-Anhaltspunkte eine eigenständige Bewertung einer Borreliose. Die chronisch obstruktive Lungenerkrankung der Klägerin sei nach der Beschwerdeschilderung durch die Klägerin durch psychogene Atembeschwerden im Rahmen der Panikattacken überlagert. Bluthochdruck und Schilddrüsenfunktion seien medikamentös gut eingestellt. Das Lymphödem der unteren Extremitäten führe nicht zu einer erkennbaren funktionellen Beeinträchtigung oder Behinderung. Zusammenfassend sei festzustellen, dass die Klägerin an folgenden Behinderungen leide:

1. Seelische Störungen mit depressiven Verstimmungen, Panikstörung und Schmerzen (GdB 40), 2. Polyneuropathie (GdB 20), 3. Bluthochdruck (GdB 20), 4. chronisches Lungenleiden, Allergie (GdB 10), 5. Schwellneigung beider Beine (GdB 10).

Der Gesamt-GdB sei mit 50 zu bewerten. Dies beruhe darauf, dass sich die seelische Behinderung besonders auf die neurologische Behinderung auswirke und umgekehrt. Dieser Zustand habe wenigstens seit 2010 bestanden. Die Klägerin sei in ihrer Fähigkeit, übliche Wegstrecken im Ortsverkehr zu Fuß zurückzulegen, nicht eingeschränkt.

Die Klägerin ist dem Begutachtungsergebnis entgegengetreten. Insbesondere hält sie die Borreliose nicht für hinreichend bewertet. Ferner macht sie eine Tinnitus-Erkrankung geltend. Der Sachverständige Dr. Me ist auch in Würdigung des neuerlichen Vortrages der Klägerin bei seiner Einschätzung geblieben.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet, denn die Klägerin hat weder Anspruch auf Zuerkennung eines höheren GdB als 60 (1.) noch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G (2.).

1. Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412), die am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.

Der Senat ist im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass bei der Klägerin auf dem Gebiet der Psyche eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (B 3.7) vorliegt, die mit einem Einzel-GdB von 40 zutreffend bewertet ist. Daneben liegt bei der Klägerin eine Polyneuropathie (B 3.11) vor. Insofern hat der Sachverständige Dr. Me überzeugend ausgeführt, zwar fielen die Reflexstörungen nicht ins Gewicht, doch bedingten Sensibilitätseinschränkungen und Schmerzempfindungen die Zuerkennung eines Einzel-GdB von 20. Beide Funktionsstörungen beinhalteten bereits Schmerzempfindungen, so dass eine gesonderte Feststellung eines Schmerzsyndromes ausgeschlossen sei. Überzeugend hat der Sachverständige weiter ausgeführt, es könne auch dahinstehen, ob die Klägerin tatsächlich an einer Borreliose leide, da deren Symptome denen der vorgenannten Funktionsbeeinträchtigungen entsprächen, letztlich also auch bei Annahme einer Borreliose keine abweichende GdB-relevante Feststellung von zusätzlichen Funktionsbeeinträchtigungen in Betracht komme. Dieser Ansatz trifft zu. Insofern übersieht die Klägerin, dass im Schwerbehindertenrecht nicht Erkrankungen festgestellt werden, sondern Funktionsstörungen. Aus diesem Grund kann auch dahinstehen, ob die Klägerin an einem Tinnitus leidet, denn GdB-relevant wird eine solche Erkrankung nach Ziffer B 5.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze nur in Abhängigkeit davon, welche psychischen Begleiterscheinungen zu verzeichnen sind. Im Falle der Klägerin sind indes die psychischen Funktionsstörungen bereits gesondert erfasst und bewertet. Schließlich leidet die Klägerin noch an einer Hypertonie (B 9.3), die mit einem GdB von 20 zutreffend bewertet ist. Die weiter festgestellten Funktionsstörungen bedingen keinen GdB von mehr als 10 und wirken sich daher auf die Bildung des Gesamt-GdB nicht aus.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Ausgehend von diesem Prinzip, folgt der Senat der Einschätzung des Sachverständigen Dr. Me und hält ebenfalls eine Anhebung des Einzel-GdB für die psychische Störung von 40 um jeweils einen Wert von 10 für die weiteren mit einem Einzel-GdB von 20 bewerteten Funktionsstörungen für angemessen, so dass sich der Gesamt-GdB auf einen Wert von 60 bemisst.

2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G".

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).

Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hinausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Gemessen an diesen Maßstäben ist die Klägerin nicht erheblich gehbehindert. Der Sachverständige Me hat in seinem Gutachten nachvollziehbar und überzeugend herausgearbeitet, dass die Klägerin die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht erfüllt. Denn nach der überzeugenden Einschätzung des Gutachters, der sich der Senat auch aufgrund des eigenen in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks anschließt, ist das Gehvermögen der Klägerin nicht so weit eingeschränkt, dass sie nicht Wegstrecken im Ortsverkehr von bis zu 2 Kilometern in 30 bis 40 Minuten zurücklegen könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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