L 13 SB 29/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 34 SB 447/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 29/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 27. November 2014 geändert und der Beklagte unter Änderung seines Bescheides vom 9. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2011 verpflichtet, bei der Klägerin ab dem 6. Oktober 2010 auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung als unzulässig verworfen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten für das Verfahren in erster Instanz zur Gänze und für das Verfahren in zweiter Instanz zu ¼ zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1957 geborene Klägerin begehrt mit ihrer Berufung die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G, aG sowie RF.

Mit Bescheid vom 15. September 2009 hatte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 60 festgestellt und dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:

&61485; Psychische Störung (Einzel-GdB 20), &61485; psychosomatische Störungen, Fibromyalgie (Einzel-GdB 10), &61485; psychosomatische Erkrankung (Einzel-GdB 10), &61485; chronische-ntzündliche Darmerkrankung (Einzel-GdB 30), &61485; Hämorrhoidal-Leiden (Einzel-GdB 10), &61485; Harninkontinenz (Einzel-GdB 10), &61485; Bandscheibenschaden (Einzel-GdB 20), &61485; Nervenwurzelreizerscheinungen rechts (Einzel-GdB 20), &61485; degenerative Wirbelsäulenveränderungen (Einzel-GdB 20), &61485; degenerative Gelenkveränderungen, Ganzkörperschmerz (Einzel-GdB 10), &61485; Gelenkfunktionsstörungen (Einzel-GdB 20).

Hieraus bildete er für das Funktionssystem, Nervensystem und Psyche einen GdB von 20, für das Funktionssystem Verdauungsorgane einen GdB von 30, für das Funktionssystem Harnorgane einen GdB von 10, für das Funktionssystem Wirbelsäule einen GdB von 40 sowie für die nicht zuordenbaren Gesundheitsstörungen (Gelenkfunktionsstörungen) einen GdB von 20, woraus er einen Gesamt-GdB von 60 ableitete. Die Feststellung sollte ab dem 24. März 2009 Geltung finden. Mit Neufeststellungsantrag vom 6. Oktober 2010 begehrte die Klägerin die Zuerkennung eines höheren GdB und die Feststellung des Merkzeichens G. Hierzu berief sie sich auf eine Verschlimmerung der Arthrose in den Kniegelenken, der Depression, der Rückenschmerzen sowie der Schultersteife beidseits. Hinzugetreten seien ferner eine Persönlichkeitsstörung und ein chronisches Schmerzsyndrom. Kurz darauf ergänzte sie den Neufeststellungsantrag um einen Antrag auf Feststellung auch des Merkzeichens aG. Nach Einholung von Befundberichten und Beteiligung des versorgungsärztlichen Dienstes lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 9. März 2011 die Neufeststellung ab. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und stellte am 22. März 2011 erneut einen Neufeststellungsantrag. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2011 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.

Mit der hiergegen gerichteten Klage hat die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten in erster Instanz mit Schriftsatz vom 28. Februar 2012 das Klagebegehren dahingehend präzisiert, dass sie die Zuerkennung eines GdB von 70 sowie des Merkzeichens G begehre. Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt sowie den Facharzt für Innere Medizin Dr. Hr mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Der Sachverständige Dr. H hat die Klägerin am 16. Dezember 2013 untersucht und ist mit seinem Gutachten vom 9. Januar 2014 zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin lägen die medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht vor, der GdB sei mit einem Gesamtwert von 60 zutreffend bemessen. Das Sozialgericht hat ferner den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie/Neurologie Prof. Dr. P mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Nach Untersuchung der Klägerin am 10. Juni 2014 ist der Sachverständige in seinem Gutachten vom 12. Juni 2014 zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G vor. Der Gesamt-GdB sei ab dem Änderungsantrag der Klägerin mit 80 zu bemessen. Im Einzelnen seien bei der Klägerin eine psychosomatische und psychische Störung (Einzel-GdB 50), Wirbelsäulenschäden in zwei Abschnitten mittelgradig bis schwer (Einzel-GdB 30), eine Colitis Ulcera (GdB 30), Stressinkontinenz, mittelgradig (GdB 20), Knie-Syndrom beidseits, mittelgradig (GdB 20). Ferner hat der Sachverständige diverse Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt, die er jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet hat. Ferner ist der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, auch die Voraussetzungen des Merkzeichens G seien gegeben, da die Klägerin aufgrund ihrer kernhaft organisch verursachten, in ihrem Ausmaß jedoch psychosomatisch durch Schmerzstörung, Sturzangst und Gangunsicherheit geprägten Gehstörung nicht in der Lage sei, Gehstrecken von 100 Metern oder mehr ohne Unterarm-Gehstützen zu gehen und auch unter Verwendung der Gehstützen die Geschwindigkeit so niedrig und der Pausenbedarf so häufig seien, dass sie in einer halben Stunde keine 300 Meter gehen könne. Die Gangstörung sei daher als psychogen zu beurteilen, sie lasse sich nicht mit dem rein organischen Befund erklären.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Potsdam am 27. November 2014 hat die dort anwaltlich vertretene Klägerin beantragt, ihr einen GdB von 70 zuzuerkennen und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen. Mit Urteil vom selben Tag hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 9. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2011 verurteilt, bei der Klägerin ab dem 6. Oktober 2010 einen GdB von 70 festzustellen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Weiter hat es der Klägerin die hälftige Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten zugesprochen. Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 7. Januar 2015 zugestellt worden.

Mit der am 3. Februar 2015 durch die Klägerin selbst eingelegten Berufung hat diese begehrt, ihr einen GdB von 80 zuzusprechen und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, aG und RF festzustellen. Auf Hinweis des Gerichts hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2015 ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass er mit Wirkung ab dem 10. Juni 2014 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festgestellt hat.

Die in der mündlichen Verhandlung ausgebliebene Klägerin hat das Teilanerkenntnis nicht angenommen. Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 27. November 2014 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 9. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2011zu verpflichten, bei ihr ab dem 6. Oktober 2010 einen GdB von 80 festzustellen sowie festzustellen, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichens G, aG und RF seit dem 6. Oktober 2010 vorliegen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit er nicht ein Teilanerkenntnis abgegeben hat.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über die Berufung der Klägerin trotz ihres Ausbleibens in der mündlichen Verhandlung nach Aktenlage entscheiden, weil die Klägerin in der ihr fristgerecht zugestellten Terminsladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, §§ 153 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung ist zulässig und auch begründet, soweit sie sich auf die Zuerkennung des Merkzeichens G ab dem 6. Oktober 2010 bezieht (1.). Hinsichtlich der weiteren Merkzeichen aG und RF sowie des höheren GdB als 70 ist die Berufung unzulässig (2.).

1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G ab Stellung des Neufeststellungsantrages am 6. Oktober 2010.

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G sind §§ 145 Abs. 1 S. 1, 146 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 69 Abs. 1 und 4 Sozialgesetzbuch / Neuntes Buch (SGB IX). Gemäß § 145 Abs. 1 S. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr i.S. des § 147 Abs. 1 SGB IX. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken.

Zu Recht ist der Beklagte davon ausgegangen, dass diese Voraussetzungen in der Person der Klägerin vorliegen und durch das aufgrund der Untersuchung am 10. Juni 2014 erstellte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. P nachgewiesen worden sind. Insoweit war der Beklagte aufgrund seines Teil-Anerkenntnisses zu verurteilen. Indes war der Beklagte auch für die Zeit vor der Untersuchung entsprechend zu verurteilen, denn der Sachverständige hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass der Gesundheitszustand der Klägerin seit Antragstellung unverändert sei. Dies deckt sich mit den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H. Dieser hat in seinem Gutachten vom 9. Januar 2014 nach Untersuchung der Klägerin am 16. Dezember 2013 bereits die Benutzung der zwei Unterarmgehstützen und das deutlich eingeschränkte Gangbild der Klägerin dokumentiert, hierzu indes ausgeführt, ein körperliches Korrelat hierfür könne nicht gefunden werden. Dies stimmt mit der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. P überein, der ausführt, eine körperliche Ursache für die von ihm festgestellte erhebliche Gangstörung sei nicht feststellbar. Es handle sich um eine psychogene Gangstörung, woraufhin letztlich der Beklagte das Merkzeichen zuerkannt hat. Auch der Sachverständige Dr. H beschreibt in seinem Gutachten, dass seit der Antragstellung eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin nicht eingetreten, sondern der von ihm beschriebene Zustand konstant geblieben sei. Diesen für den Senat überzeugenden Ausführungen ist der Beklagte auch nicht entgegengetreten.

2. Soweit die Klägerin die Zuerkennung eines höheren GdB als 70 und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen aG und RF begehrt, ist die Berufung unzulässig, weil dies nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war, die Klägerin mithin durch das Urteil des Sozialgerichts insoweit nicht beschwert ist. Insoweit war die Berufung daher zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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