L 15 SO 173/16 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 212 SO 699/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 173/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juni 2016 wird zurückgewiesen. Der Beigeladene hat der Antragstellerin die Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren L 15 SO 173/16 B ER Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab dem 26. Juli 2016 bewilligt und Rechtsanwalt beigeordnet.

Gründe:

Die Beschwerde des Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juni 2016, mit dem er im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wurde, der Antragstellerin für die Zeit vom 12. Mai 2016 bis zum 31. August 2016 vorläufig Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) zu bewilligen und auszuzahlen, ist zulässig, aber nicht begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts, auf den, um Wiederholungen zu vermeiden, verwiesen wird, ist zumindest für die Zeit bis zum 15. Juli 2016 rechtmäßig. Ob auch für die Zeit über den 15. Juli 2016 die Voraussetzungen für Leistungen nach dem SGB II gegeben sind (wofür viel spricht) lässt sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend klären. Dies hängt davon ab, wie die Regelung des § 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) zu verstehen ist, d.h. ob trotz der durchgehenden Arbeitsunfähigkeit der Antragstellerin ab dem 15. September 2014 die Arbeitnehmereigenschaft noch als fortbestehend anzusehen war oder ob hier zu differenzieren ist zwischen dem (fortbestehenden) Arbeitsverhältnis und einem nicht mehr bestehenden Beschäftigungsverhältnis.

Nach § 86 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. den § 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung – ZPO –).

Ein Anordnungsgrund ist gegeben, da ohne die Zahlung von Leistungen das Existenzminimum der Antragstellerin nicht gewährleistet wäre.

Ein Anordnungsanspruch ist zumindest bis zum 15. Juli 2016 gegeben. Bis zu diesem Zeitpunkt stand die Antragstellerin in einem Arbeitsverhältnis. Die Kündigung wurde von ihrer Arbeitgeberin, Frau P, mit Schreiben vom 7. Juni 2016 ausgesprochen. Es gilt die Kündigungsfrist des § 622 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), diese gilt für alle ordentlichen Kündigungen von Arbeitnehmern (vgl. Linck in Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 15. Auflage 2013, § 126 Rn. 10), auch für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Gemäß § 622 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis eines Arbeiters oder eines Angestellten (Arbeitnehmers) mit einer Frist von vier Wochen zum fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats gekündigt werden. Allerdings dürfte entgegen der Auffassung des Sozialgerichts die verlängerte Kündigungsfrist für die Antragstellerin nicht gelten, da sie Hausangestellte war. Die Verlängerungen des § 622 Abs. 2 BGB setzen eine Beschäftigung in einem Betrieb oder Unternehmen voraus, ein Haushalt ist jedoch kein Betrieb (Linck, aaO., § 126 Rn. 12 m.w.N.; Weidenkaff in Palandt, Kommentar zum BGB, vor § 611, Rn. 14). Die Kündigung der Antragstellerin erfolgte damit, da in dem Kündigungsschreiben kein konkreter Termin benannt ist, zum nächstmöglichen Termin, hier dem 15. Juli 2016.

Sofern man - wie das Sozialgericht - davon ausgeht, dass wegen des bis zum 15. Juli 2016 und damit seit mehr als zwei Jahren bestehenden Arbeitsverhältnisses die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU erfüllt sind, hat die Antragstellerin auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Aufenthaltsrecht auf Grund der zuletzt genannten Vorschrift, wonach die Aufenthaltsberechtigung bestehen bleibt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Die Meldung bei dem Beigeladenen dürfte dabei auseichend sein für die Annahme der Bestätigung der Arbeitslosigkeit durch die Bundesagentur für Arbeit (vgl. Dienelt, aaO., § 2 FreizügG/EU, Rn. 104 ["Arbeitsverwaltung"]; andere Ansicht Oberhäuser, aaO., § 2 FreizügG/EU, Rn. 36, der allerdings die andere Ansicht als die herrschende bezeichnet). Hieraus ergäbe sich dann auch ein Anordnungsanspruch über den 15. Juli 2016 hinaus.

Zweifel an diesem Ergebnis folgen daraus, dass § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU nach einhelliger Auffassung in der Literatur entgegen seinem Wortlaut nicht für den Fall der vorübergehenden Erwerbsminderung gilt, sondern für den der Arbeitsunfähigkeit, was den Vorgaben des Art. 7 IIIa Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (UnionsbürgerRL), entsprechen würde (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Kommentar zum Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 2 FreizügG/EU, Rn. 124; Epe in Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand 2/2010, § 2 FreizügG/EU, Rn. 116; Oberhäuser in Hoffmann [Hrsg.], Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 2 FreizügG/EU, Rn. 35). Danach soll geschützt werden derjenige, der seine konkrete Beschäftigung aus den genannten Gründen nicht ausüben kann, d.h., die Arbeitsunfähigkeit ist arbeitsplatzbezogen (Dienelt, aaO.; Epe. aaO.). Daraus würde folgen, dass das Sozialgericht den Beigeladenen zu Recht verpflichtet hat, weil das Arbeitsverhältnis zu Frau P noch nicht beendet war und § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU für die Antragstellerin gegriffen hätte. Gleichzeitig könnte diese Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU aber auch bedeuten, dass man das Beschäftigungsverhältnis ab dem Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit als nicht mehr bestehend ansehen würde, nur dann würde § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU in der Auslegung, dass die Arbeitsunfähigkeit gemeint sein soll, einen Sinn ergeben. Dies könnte im Fall der Antragstellerin aber zur Folge haben, dass die "Vorzeiten", die dazu führen, dass gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 FreizügG/EU ein Aufenthaltsrecht gegeben ist, nicht ausreichen, weil das Arbeitsverhältnis mit Frau P dann bereits mit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit im September 2014 als beendet angesehen werden würde. Dann wäre die sechsmonatige Schutzfrist nach einem weniger als ein Jahr dauernden Arbeitsverhältnis bereits abgelaufen und die Antragstellerin würde unter § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II fallen, d.h., sie wäre vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Ob diese Auslegung des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU zutreffend ist, ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu entscheiden, da verschiedene Begriffe, die in § 2 FreizügG/EU genannt werden, und ihr Verhältnis zueinander, geklärt werden müssten, und zwar die Begriffe "Arbeitnehmer", "Beschäftigung" und "vorübergehende Erwerbsminderung". Insgesamt wirkt die Regelung des § 2 FreizügG/EU inkongruent.

Es spricht allerdings viel dafür, dass die vom Sozialgericht angenommene Lösung zutreffend ist. So könnte die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, nicht den Wortlaut der UnionsbürgerRL zu übernehmen, darauf beruhen, dass er die Inkongruenz gesehen hat. Wenn man davon ausgeht, dass bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit und gleichzeitig weiterbestehendem Arbeitsverhältnis auch die Arbeitnehmereigenschaft bestehen bleibt, würde dies dazu führen, dass sich das Aufenthaltsrecht schon aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ergeben würde, der nur an den Arbeitnehmerbegriff anknüpft. Dann wäre die Regelung, dass das Freizügigkeitsrecht auch bei Arbeitsunfähigkeit weitergilt, überflüssig.

Da die Auffassung des Sozialgerichts damit durchaus vertretbar ist und eine abschließende Klärung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich ist, verbleibt es auch für die Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, also vom 16. Juli 2016 bis zum 31. August 2016, bei der vom Sozialgericht getroffenen Regelung.

Der erstangegangene Träger, hier der Antragsgegner, war nicht gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch/Erstes Buch (SGB I) zu verpflichten, und zwar schon deshalb nicht, weil es sich für diesen um eine Ermessensleistung handeln würde. Der Senat folgt zwar grundsätzlich der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG), wonach Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII als Ermessensleistung zu gewähren sind, wenn ein Hilfebedürftiger dem Ausschluss des § 7 Abs. 2 SGB II unterliegt und sich unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, weil auch die sechsmonatige Frist zur Arbeitsuche abgelaufen ist (vgl. z.B. das Urteil vom 3. Dezember 2015, Az.: B 4 AS 44/15 R, dokumentiert in juris und in ZFSH/SGB 2016, 126). Der Senat geht jedoch davon aus, dass das Ermessen des Sozialhilfeträgers nicht von vornherein auf Null reduziert ist, wenn ein sogenannter verfestigter Aufenthalt von mehr als sechs Monaten vorliegt, so dass Ermessen auszuüben ist (vgl. Beschluss des Senats vom 13. April 2016, Az. L 15 SO 53/16 B ER, ebenso Beschluss des 23. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. April 2016, Az. L 23 SO 46/16 B ER, beide dokumentiert in juris und zu finden unter www.sozialgerichtsbarkeit.de). Daraus folgt, dass kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII gegeben ist, so dass § 43 Abs. 1 SGB I hier nicht greift.

Es dürfte vom Beigeladenen zu prüfen sein, ob bei der Antragstellerin auf Grund der bei ihr vorliegenden Erkrankung, die inzwischen fast zwei Jahre lang zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat, noch Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II vorliegt. Das alleinige Bestehen von Zweifeln daran führt jedoch nicht zu einem Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu gewähren, da die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bot bzw. sogar erfolgreich war (§ 73 a SGG i.V.m. 114 ZPO).

Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).

Mit diesem Beschluss erledigt sich auch der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung gemäß § 199 SGG.
Rechtskraft
Aus
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