L 13 SB 79/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 119 SB 1867/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 79/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Februar 2015 geändert und der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 31. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 2012 verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen aG und T seit August 2010 vorliegen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten für das Verfahren in beiden Instanzen zu ¾ zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Mit ihrer Berufung begehrt die 1953 geborene Klägerin noch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche mit Merkzeichen aG und T.

Mit Bescheid vom 17. Januar 2006 hatte der Beklagte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 festgestellt sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche mit Merkzeichen B und G. Am 30. August 2010 beantragte die Klägerin die Neufeststellung des GdB sowie die Anerkennung diverser Nachteilsausgleiche. Mit Bescheid vom 31. März 2011 setzte der Beklagte bei der Klägerin den festgestellten GdB auf 100 hoch und beließ es bei der Anerkennung der Merkzeichen G und B, lehnte jedoch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung der Merkzeichen aG, RF, Bl sowie Gl ab. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch wandte sich die Klägerin gegen die Versagung der von ihr begehrten Merkzeichen und beantragte zusätzlich die Zuerkennung der Merkzeichen H und T.

Mit Bescheid vom 8. Juni 2012 hob der Beklagte seinen Bescheid vom 31. März 2011 im Wege einer Rücknahme teilweise auf und stellte nunmehr fest, dass der GdB bei der Klägerin lediglich 80 betrage. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2012 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin, auch bezogen auf den Bescheid vom 8. Juni 2012, zurück.

Mit der am 7. August 2012 erhobenen Klage hat die Klägerin sich sowohl gegen die Herabsetzung des GdB wie auch gegen die Versagung der Merkzeichen aG, T, Gl und H gewandt. Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte beigezogen und Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S. In dessen Gutachten vom 18. Juli 2014 ist der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin leide unter folgenden Funktionsstörungen:

&61485; Psychische Störungen, Persönlichkeitsstörung, Hirnschädigung mit psychischen Folgen (GdB 80), &61485; Schwerhörigkeit beidseitig (GdB 30), &61485; Erkrankung der rechten Brust, Teilverlust der rechten Brust (GdB 20), &61485; Funktionsstörungen der Wirbelsäule bei Verschleiß (GdB 10), &61485; Bluthochdruck (GdB 10), &61485; ferner leide sie an einer Nervenschädigung und Harninkontinenz, die jeweils mit einem GdB von 0 zu bewerten seien.

Hinsichtlich des Merkzeichens Gl sei festzustellen, dass bei der Klägerin seit mehreren Jahren eine psychogen bedingte Taubheit beidseitig bestehe. Insoweit unterschieden die versorgungsmedizinischen Grundsätze jedoch nicht nach einer organischen und einer psychogenen Taubheit. Hinsichtlich des Merkzeichens H sei auszuführen, dass die Klägerin aus organischen Gründen keiner fremden Hilfe bedürfe. Aus psychischen Gründen könne nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen das Merkzeichen nur bei Hirnschäden, Anfallsleiden, geistiger Behinderung und Psychosen zuerkannt werden, wenn diese Behinderung allein einen GdB von 100 mit sich brächte. Diese Voraussetzung liege keinesfalls vor. Insoweit sei im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die Klägerin nach eigenen Angaben allein lebe und den wesentlichen Teil ihres Lebensunterhaltes allein verrichten könne. Sie sei bei der Begutachtung in einem körperlich guten Zustand gewesen und habe keine Tendenzen zur Verwahrlosung aufgewiesen. Auch ihr Ernährungszustand sei als gut zu bezeichnen. Auch wenn sie selbst mitteile, dass sie aus eigenen Mitteln eine Hilfskraft beschäftige, sei nicht von einer so großen Einschränkung bezüglich der Aktivitäten des täglichen Lebens auszugehen, dass daraus die Voraussetzungen des Merkzeichens H hergeleitet werden könnten. Auch beschreibe die Klägerin, dass sie innerhalb der Wohnung mit einem Rollator gehen könne. Hinsichtlich des Merkzeichens aG sei auszuführen, dass aus organischen Gründen die Voraussetzungen des Merkzeichens keinesfalls vorlägen. Die festzustellende Beeinträchtigung, die dazu führe, dass sich die Klägerin nur mit großer Anstrengung bzw. nur mit fremder Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen könne, sei ausschließlich psychogener Natur. Gleichwohl könne das Merkzeichen aG nach Auffassung des Sachverständigen nicht zuerkannt werden, weil die versorgungsmedizinischen Grundsätze insoweit einen Einzel-GdB von 100 forderten, der nicht vorliege. Zum Merkzeichen T hat der Sachverständige ausgeführt, aus organischen Gründen bestünden bei der Klägerin aus ärztlicher Sicht keine Störungen beim Treppen steigen. Die festzustellenden Störungen seien ausschließlich psychogener Natur, Aufgrund der psychischen Erkrankung sei die Klägerin nicht in der Lage, eine Etage zu überwinden, sondern maximal drei- bis vier Treppenstufen zu steigen.

Bereits mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2013 hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass bei der Klägerin ein GdB von 100 festzustellen sei. In der mündlichen Verhandlung hat er den Rücknahmebescheid vom 8. Juni 2012 aufgehoben. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen, im Übrigen aber die Klage fortgesetzt. Mit Urteil vom 2. Februar 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, eine Kostenerstattung nicht angeordnet und zur Begründung ausgeführt, das Gehvermögen der Klägerin sei nicht auf das Schwerste eingeschränkt. So habe der sie behandelnde Arzt Dr. Min seinem Befundbericht vom 8. April 2013 erklärt, der Gang der Klägerin sei zwar sehr verlangsamt, jedoch sei sie bisher alleine unter Zuhilfenahme eines Rollators in seine Praxis gekommen. Auch vor dem Hintergrund, dass im Rahmen der Begutachtung keine Veränderungen der Muskulatur der unteren Extremitäten hätte festgestellt werden können, müsse davon ausgegangen werden, dass sich die Klägerin mit Hilfe des Rollators fortbewege. Mangels Zuerkennung des Merkzeichens aG, komme auch die Zuerkennung des Merkzeichens T nicht in Betracht. Auch sei die Klägerin nicht hilflos. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. S bedürfe sie aus organischen Gründen keiner fremden Hilfe beim An- und Auskleiden, bei der Nahrungszubereitung, der Nahrungsaufnahme, der Körperpflege, dem Verrichten der Notdurft oder bei sonstigen regelmäßig notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens. Da die Klägerin alleine lebe sei davon auszugehen, dass sich entsprechende Einschränkungen auch nicht aufgrund der psychischen Erkrankungen ergäben, da sie bei der Begutachtung in einem guten körperlichen Zustand gewesen sei. Schließlich könne auch das Merkzeichen Gl nicht zuerkannt werden. Hierfür reiche eine psychogene Taubheit nicht aus. Vielmehr müsse die Hörbehinderung organischer Natur sein. Im Übrigen sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin tatsächlich psychogen taub sei. Das Merkzeichen setze eine durchgängige Taubheit voraus, nicht ausreichend sei, wenn die Taubheit phasenweise bestehe. Die Angaben der Klägerin zeigten jedoch, dass ihr Hörverlust nicht dauerhaft sei. So habe sie dem Beklagten mit Schreiben vom 29. März 2009 mitgeteilt, sie sei links schwerhörig, was immer wieder auch zur totalen Taubheit führe. Mal höre sie Stunden/Tage, dann Tage/Wochen gar nichts. Entsprechendes habe sie in der Klagebegründung mit Schriftsatz vom 14. März 2013 ausgeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen.

Mit der hiergegen gerichteten Berufung hat die Klägerin ihr Begehren zunächst in vollem Umfang weiter verfolgt. Nach einer teilweisen Berufungsrücknahme hinsichtlich der Merkzeichen Gl und H begehrt sie noch die Zuerkennung der Merkzeichen aG und T.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Februar 2015 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 31. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 2012 zu verpflichten, der Klägerin mit Wirkung vom 30. August 2010 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen aG und T festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist in dem nach teilweiser Rücknahme noch streitgegenständlichen Umfange begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche mit den Merkzeichen aG (1.) und T (2.).

1. Anspruchsgrundlage für die Zuerkennung dieses Merkzeichens ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris Rn. 11).

Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 (StVO) der Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) vom 22. Oktober 1998, die nach Artikel 84 Abs. 2 Grundgesetz wirksam von der Bundesregierung erlassen wurde (BSG a.a.O., juris Rn. 12). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen

1. Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind - sog Regelbeispiele, die hier nicht vorliegen -, sowie 2. andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind - (vgl. dazu BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 5/06 R – Juris Rn. 13 m.w.N.) - sog Gleichstellungsfälle-.

Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG a.a.O., juris Rn. 13). Schwierigkeiten bereitet hierbei der Vergleichsmaßstab, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen – bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung – ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines nicht Behinderten erreichen können (BSG a.a.O. , juris Rn. 13).

Nach § 69 Abs. 4 i.V.m. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14. Januar 2015 geltenden alten Fassung (aF) ist seit dem 21. Dezember 2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)) Bezug genommen, so dass seit dem 1. Januar 2009 die VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 (BGBl. I 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen heranzuziehen ist. Sie bindet als Rechtsverordnung Verwaltung und Gerichte (BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R – Juris Rn. 27). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II 15) Rechnung getragen und in § 70 Abs. 2 SGB IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Diese erlaubt es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit 15. Januar, 2015 durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es insoweit bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks. 18/2953 und 18/3190 S. 5).

Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche werden in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV näher konkretisiert. Trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der Grundlage des § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX aF (hierzu Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) sind diese Konkretisierungen verbindlich, zumal die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Anlage zu § 2 VersMedV ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (so BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BSG sowie auf Loytved, jurisPR-SozR 12/2015 Anm. 3). Im Übrigen übernimmt Teil D Nr. 3 lit. b der Anlage zu § 2 VersMedV vollständig die Vorgaben der VwV-StVO zum Merkzeichen "aG" und verweist in Nr. 3 lit. a insoweit ausdrücklich auf das StVG, welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG weiterhin bestehen bleibt. Zusätzlich wird in Teil D Nr. 3 lit. b der Anlage zu § 2 VersMedV ergänzt:

"Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen."

Für die Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG, Urteil vom 29. März 2007, a.a.O., juris Rn. 14). Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG a.a.O., juris Rn. 14).

Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen "aG" gelten gegenüber "G" nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG, Urteil vom 29. März 2007, a.a.O., juris Rn. 17 mit weiteren Nachweisen). Ebenso wenig lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem straßenverkehrsrechtlichen Zweck des Merkzeichens aG herleiten (BSG a.a.O., juris, Rn. 19).

Nachdem das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung zum Merkzeichen G vom 11. August 2015 (B 9 SB 1/14 R) klargestellt hat, dass der umfassende Behindertenbegriff des SGB IX im Lichte des verfassungsrechtlich und UN-konventionsrechtlich verankerten Diskriminierungsverbotes auch die Einbeziehung aller geistigen und seelischen Beeinträchtigungen gebietet, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass auch derartige Beeinträchtigungen zur Zuerkennung des Merkzeichens aG führen, wenn sie sich auf das Gehvermögen in einer Weise auswirken, wie zuvor dargelegt. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes sind die Voraussetzungen des Merkzeichens hier nach Überzeugung des Senates erfüllt. Der Sachverständige Dr. S hat sich nach umfassender Untersuchung der Klägerin dahingehend geäußert, sie könne sich infolge ihrer psychisch bedingten Gangstörung nur mit großer Anstrengung bzw. mit fremder Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen. Die Notwendigkeit großer Anstrengung bereits für das Zurücklegen kurzer Strecken in der Ebene und unter Zuhilfenahme eines Rollators hat dementsprechend auch das I-Krankenhaus in seinem Bericht vom 13. Dezember 2016 attestiert.

2. Hinsichtlich des Merkzeichens T sind die Voraussetzungen geregelt in der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes. Nach deren § 1 Abs. 1 Satz 2 setzt die Berechtigung zur Nutzung dieses besonderen Fahrdienstes und damit die Zuerkennung des Merkzeichens T voraus, dass das Merkzeichen aG, ein mobilitätsbedingter Grad der Behinderung von mindestens 80 und Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen nachgewiesen sind. Auch insoweit liegen bei der Klägerin die Voraussetzungen vor. Insoweit kann auf die Ausführungen zum Merkzeichen aG Bezug genommen werden, wobei die Unfähigkeit der Klägerin zur Überwindung von Treppen im Gutachten des Sachverständigen Dr. S ausdrücklich beschrieben ist und sich darüber hinaus auch aus dem Bericht der Klinik ergibt, wonach die Klägerin "in der Ebene" unter großer Anstrengung für kurze Strecken mobil sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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